Achtsamkeit ist in aller Munde: Rücksicht, Umsicht, Vorsicht. Aber man sieht oft wenig davon. Mit ihrer 30-Tage-Yamas-Challenge versucht unsere Gast-Autorin Sybille Schlegel, ein bisschen mehr Yogasutra-Vibes in den Alltag zu bringen. Der Plan ist simpel: Den Faden aufnehmen und jede Regel der Yogaethik jeweils sechs Tage üben.
Text: Sybille Schlegel
Jedesmal. Wirklich jedesmal, wenn ich die Ethik der alten Yogaschriften im Teacher Training unterrichte, grüble ich danach: Wie kann es sein, dass die – unter anderem im Yogasutra von Patanjali – erwähnten Anregungen zu einer achtsameren Lebensweise nach über 2000 Jahren noch immer auf der gesellschaftlichen und individuellen To-do-Liste stehen? Dabei werden die Vorteile klar benannt: ein friedlicheres Dasein zum Beispiel, Ehrlichkeit oder weniger Egoismus. All das ist doch durchaus erstrebenswert und, soweit mir bekannt ist, wünschen sich das auch heute noch die meisten Mitmenschen. Es scheint, als würden Herz und Verstand zustimmen und die Richtigkeit oder vielmehr: die Notwendigkeit erkennen. Aber die Umsetzung! An der hapert’s gewaltig.
Grund genug, mal die Yamas, die ethischen Grundbegriffe des Yoga zu … Nein: Nicht schon wieder zu beschreiben und zu diskutieren. Jetzt wird gehandelt! Wie einst die weisen Werber*innen einer bekannten Sportartikelfirma postulierten: Just do it! Ich lade hiermit alle geneigten Leser*innen ein in mein Yamas Boot Camp. Alle sind herzlich und ehrlich willkommen. Nur Schweinehunde müssen natürlich draußen bleiben.
Keine Sorge. Anders als etwa bei den Navy Seals müsst ihr hier keine 200 Chaturanga Dandasana fünfmal pro Tag machen, auch keinen 50-Kilometer-Geländelauf in meditativem Schweigen. Dieses Boot Camp ist eigentlich ein Root Camp: Hier wird das eigene Verhalten analysiert, evaluiert und neu konditioniert. From the bottom up. Oder in Yoga Speak: Das Karma bekommt einen neuen Anstrich.
Lies auch: “Yamas und Niyamas in der Yoga-Praxis” von Mark Stephens
Es ergibt nur Gutes, wenn man tut es
Kurze Wiederholung: Im Yogasutra behandelt Patanjali im zweiten Kapitel das Sadhana. Sadhana heißt so viel wie “auf ein Ziel hin arbeiten”. Es ist das “Just do it”-Kapitel in diesem altehrwürdigen und zugleich wahnsinnig aktuellem Text. Patanjali führt hier fünf seiner acht Glieder auf, die zum Erreichen des Yogazustands geübt werden sollten. Da das Yogasutra auch gerne als “Leitfaden des/zum Yoga” übersetzt wird – Sutra (mit langem u) heißt auf Sanskrit unter anderem Faden, Schnur oder auch Seil – nehmen wir es doch als solchen.
Bildlich gesprochen wie den Faden der Ariadne in der labyrinthischen Höhle des Minotaurus auf der beliebten Urlaubsinsel Kreta. Den hatte die Gute vorausschauend beim Hineingehen in die Höhle gespannt, damit der Held, Theseus, nach ihrer Rettung auch den Weg wieder hinausfinden würde. Wenn man sich das mal praktisch vorstellt, dann ist alles, was man tun muss, um den Ausgang wirklich und wahrhaftig wiederzufinden: das Folgen des Fadens. Um nicht zu sagen, das unbedingte Folgen des Fadens! Man könnte langsam gehen, ein paar Schritte vor und zurück oder eine Weile pausieren. Aber man muss am Faden bleiben, wenn man die Möglichkeit der Verirrung ausschließen möchte. In Bezug auf inneren und äußeren Frieden bedeutet das in Konsequenz: Man folge dem Yogasutra – zögerlich, langsam oder schnell. Dann kommt man mit Sicherheit zum Ausgang des leidvollen Daseins mit Gier, Hass, Verblendung & Co. Aber machen muss man es.
Erfahre mehr zu Patanjalis Yogasutras in unserer Podcast-Folge mit Eckard Wolz-Gottwald:
Und: Action!
Natürlich findet man die ethischen Verhaltensvorschläge auch in anderen Yogatexten wie zum Beispiel der Hatha Yoga Pradipika oder der Bhagavad Gita. Im Yogasutra sind sie aber schön zusammen gruppiert und in der Benefit-Dimension beschrieben. Deshalb arbeiten wir im Yamas Root Camp damit. Wer Spaß daran findet, sei hiermit eingeladen die anderen Texte ebenfalls zu erforschen. So wie wir jetzt gemeinsam die Yamas von Ahimsa bis Aparigraha auf der Handlungsebene erforschen. Eine Handlung ist im Yoga übrigens schon ein Gedanke, dem folgen das Gesagte und das Getane. Die folgenden Übungen finden also auf drei Ebenen statt.
Tag 1 bis 6: AHIMSA
Mehr Miteinander als Gegeneinander
„Wer sich ständig nicht-feindlich verhält, erlebt echten Frieden.“
Patanjali, YS 2.35
Einfach gesagt. Wer von uns empfindet sich schon als gewalttätig? Ist eine vegane Lebensweise ausreichend? Oder gilt es, wie die Heiligen der Jaini-Gemeinschaft auf das eigene Leben im Körper zu verzichten, um keinem anderen Lebewesen durch die eigene Existenz Raum, Nahrung oder Atemluft zu nehmen? Wenn wir uns in solchen Überlegungen aufhalten, dann wird das wieder nichts mit der Friedfertigkeit. Was wir tun müssen, ist: den ersten Schritt gehen und damit beginnen, dem Faden aus dem Wirrwarr heraus zu folgen. In unseren Teacher Trainings lasse ich die Trainees Ahimsa mit positiven Worten übersetzen: a-himsa heißt nämlich nicht-Gewalt oder nicht-feindlich – und wir suchen dann Begriffe ohne ein “nicht” davor. Wie verhält man sich nicht-feindlich? Unter den Germanys-Next-Top-Antworten sind meist: schützend, tolerierend, respektierend, Raum gebend, anerkennend, friedlich, verbindend.
Aktion 1: Schreibe die Begriffe auf und ergänze die Liste nach Belieben.
Aktion 2: Setz dich auf dein Meditationskissen und überlege, wo du dich bereits so verhältst und wie sich das anfühlt. Mach gerne Notizen.
Aktion 3: Mach dieses Gefühl die nächsten 6 Tage lang zu deinem Leitgefühl. Vielleicht hilft es, im Alltag etwas langsamer zu werden, um dir den Raum dafür zu geben. Ja. Auch im Büro – und vor allem im Straßenverkehr.
Lies auch: “Was bedeutet Ahimsa” von Rina Deshpande.
Tag 7 bis 12: SATYA
Wenn es so ist, wie es ist
„Wer sich ständig ehrlich verhält, dessen Taten tragen den Erfolg bereits in sich.“
Patanjali, YS 2.36
Satya ist das Sanskritwort für ehrlich, wahrhaftig, faktisch, real, tatsächlich, authentisch, konkret. Sutra 2.36 ist also nicht nur die Aufforderung, ehrlich zu sein, sondern vielleicht vor allem: im Hier und Jetzt zu sein. Den Verführungen von Phantasie, Illusion und Einbildungskraft (Vikalpa Vrtti) zu widerstehen. Und das heißt dann auch: Ehrlich zu anderen – und vielleicht vor allem: zu sich selbst. Meine Lehrerin Manorama inspiriert immer zu einer liebevollen Ehrlichkeit. Das halte ich für einen sehr hilfreichen Ansatz. Meine Oma war sehr ehrlich und das endete manchmal in einem “Billekind, warum siehst du heute so schlecht aus?” Ehrlich, aber nicht nett …
Ehrlichkeit mit sich selbst ist die wahre yogische Übung: Die eigenen Gedanken supervisen, bis man tatsächliche Wahrnehmung von persönlichen Geschichten und Meinungen unterscheiden kann. Seien es positive oder negative. Der Blick der Wahrnehmung ist neutral – ohne Rückkoppelung auf der Gefällt mir/Gefällt mir nicht-Ebene. Welche eine evolutionäre Gewohnheit des Geistes ist. Blitzschnell. Und selten kritikfähig. Dafür durchaus unbeständig und wandelbar je nach Laune, Alter, Situation.
Meine gute Freundin sagt immer: “Wir sind hier nicht bei Wünsch dir was, sondern bei So isses.” Ein Satya-Satz. Nicht, weil Wünschen schlecht wäre. Aber zu wissen, dass ein Wunsch ein Wunsch ist, der gerade gewünscht wird, ist Satya. Zu denken, ein Wunsch, eine Idee, eine Vorstellung, ein Plan oder Ähnliches wäre Realität, nicht. Vikalpa Vrtti, also alles, was in Gedanken passiert ohne einen vorhergehenden Sinneseindruck, erzeugt neben den Gedanken auch Emotionen. Und die fühlen sich real an. Wir brauchen also das Schwert der Unterscheidungskraft (Viveka), das Patanjali in einer seiner Hände hält.
Aktion 1: Was ist was? Erlebe deine Sinneseindrücke. Erinnere dich über den Tag häufiger, genau das zu sehen, was du siehst, zu hören, was du hörst usw. Das bringt dich ins Hier und Jetzt.
Aktion 2: Werde etwas langsamer und betrachte deine Gedanken. Welche Geschichten erzählst du dir? Über andere? Über dich selbst? Basieren diese Geschichten auf Fakten oder auf Gewohnheiten? Sind sie überhaupt aktuell oder nur schon lange in deinem Leben? Wenn du Journaling magst, mach dir Notizen. Wenn nicht: Reflektiere am Abend 5-10 Minuten.
Aktion 3: Verzichte auf jede noch so kleine Notlüge, Beschönigung, Pessimismus und deren Verwandte. Werde dir darüber bewusst, wann und wie oft, wir das benutzen. Stay nice and friendly.
Tag 13 bis 18: ASTEYA
(Innerer) Reichtum für alle
„Wer niemals stiehlt, sieht überall Schätze.“
Patanjali, YS 2.37
Asteya, das Nicht-Stehlen, Nicht-Wegnehmen, Nicht-auf-Kosten-anderer-Leben. Auch hier kann man das Verneinende in bejahende Wörter übersetzen: Geben, teilen, schenken, opfern, sich erfüllt fühlen. Nachdem kurz vor Weihnachten bei uns eingebrochen wurde, habe ich sehr viel über das Stehlen nachgedacht. Über das Haben und Nichthaben. Denn meine “Schätze”(Omas Schmuck) waren weg. Meine Lehrerin sagte mir, ich solle in Gedanken halten, dass niemand stiehlt, der schon hat. Das macht Sinn.
Und auch wir, die wir nicht über die Balkone anderer Leute in fremde Häuser klettern, stehlen mehr als wir denken: im Verbrauch von Ressourcen, beim Kauf von Billigwaren, beim Zuspätkommen. Wir stehlen Zeit, Lebensraum, Würde. Nicht immer, aber oft. Sutra 2.37 lässt uns überdenken, was wir tatsächlich brauchen. Unser Verhältnis zum eigenen Ego. Und es stimmt schon, oder? Wer teilt und gibt, fühlt sich reich. Sonst könnte man ja nicht teilen und geben. Zufriedenheit summt hier mit. Und Vertrauen auf die Fülle des Seins.
Aktion 1: Wenn du merkst, dass du etwas möchtest, brauchst oder unbedingt willst, nimm 10 tiefe Atemzüge. Und dann schau, ob es immer noch so ist.
Aktion 2: Perspektivwechsel von “Was mir fehlt” zu “Was ich alles habe”. Notiere oder reflektiere.
Aktion 3: Gib etwas einmal am Tag, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Es muss kein Geld sein. Es kann Zeit sein, Zuhören, Aufmerksamkeit, Freundlichkeit.
Tag 19 bis 24: BRAHMACARYA
Fokus auf Liebe, Weisheit und Einheit
„Wer sich stets zum Brahman hin bewegt, findet Kraft.“
Patanjali, YS 2.38
Wer mich kennt, weiß, dass ich an dieser Stelle Brahmacarya nicht wie die Traditionalist*innen als Askese und sexuelle Enthaltsamkeit übersetze. Sondern wortwörtlich als das “sich Hinbewegen zu Brahman”. Brahman ist die Seele des Vedanta, unser inneres Licht, das, was als Atman in uns ist – das, was wir wirklich sind.
Im Wörterbuch steht bei Brahmacarya auch die Übersetzung “das Studium der Veden”, der heiligen Texte. In der Chandogya Upanishad geht es um Brahman. Der Sohn fragt den Vater und Lehrer, was das genau ist. Dieser gibt ihm verschiedene Beispiele: Es ist unsichtbar und überall, es ist unfassbar fein, voller Kraft, in allem enthalten, unwandelbar und ewig – und vor allem ist es auch in ihm, dem Sohn. Es ist das, was du wirklich bist, sagt er. Tat tvam asi. Wenn wir also darauf unseren Fokus, unser Denken und unser Wirken legen, anstatt auf das neueste iPhone oder das nächste Reel, dann erhalten wir Kontakt zu dieser ewigen Kraft, die unser wahres Selbst ist.
Aktion 1: Richte deinen Blick auf Gemeinsamkeiten. Was verbindet mich und …? Fühle das Boot, in dem wir alle sitzen (und damit meine ich alle, über die Speziengrenzen hinaus).
Aktion 2: Stelle dir häufiger die Frage, wer du bist. Und lies die Chandogya Upanishad. Es lohnt sich.
Aktion 3: Meditiere täglich in einer für dich angenehmen Zeitdauer, mindestens 5 Minuten. Fokussiere dich dabei auf Brahman. Wenn du kein Gefühl dafür hast, was Brahman ist, dann stelle dir diese Frage innerlich.
Tag 25 bis 30: APARIGRAHA
Ein Leben im Flow
„Wer nicht an Besitz festhält, versteht das Wesen der manifestierten Existenz.“
Patanjali, YS 2.39
Klingt ein wenig zusammenhangslos auf den ersten Blick, vor allem, wenn das Sutra wie oft übersetzt wird mit “Wer sich in Besitzlosigkeit übt”: Wer am Existenzminimum lebt, versteht die Wiedergeburt und vorherige Leben? Natürlich ist es ein wenig anders. Es geht um das im Yoga viel beschworene Loslassen. Ums Nicht-Behalten, Nicht-Konservieren, Nicht-Einmotten. Um den leidigen Versuch, aus etwas, das uns vom Universum nur geliehen wurde, Eigentum zu machen. Eigentum ist Egotum (sagt das Yogasutra implizit). Wer sich hingegen, wie das Sutra rät, darin übt, Dinge im Kommen und Gehen zu begreifen – in echt und ganz frei von Spiri-Pathos – der versteht, dass alles Materielle ein Verfallsdatum hat. Im ewigen Dreiklang des Kreislaufs aus Geborenwerden, Existieren und Vergehen. Brahma, Vishnu, Shiva. A. U. M. Auch der eigene Körper. Ob wir das wollen oder nicht.
Aktion 1: Setz dich in einen gewohnten Raum und schau dich um. Ordne alles, das du siehst in “kommt”, “existiert” und “geht”. Fortgeschrittene sortieren die mittlere Kategorie noch in “eher neu”, “eher mittig”, “eher alt.”
Aktion 2: Ganz pragmatisch: Ausmisten und Reduzieren. Kleiderschränke, Küchenschubladen, Badschränke, Keller, Dachboden. Noch gut? Dann Secondhand-Laden, Flohmarkt oder Free your Stuff.
Aktion 3: Für Fortgeschrittene. Aber cool: Verzichte mal, so oft es geht, auf die Wörter “mein”, “meine”, “meins”. Vielleicht bist du auch überrascht, was man so den ganzen Tag darunter katalogisiert.
SYBILLE SCHLEGEL ist unsere Lieblingsautorin, wenn es um alltagstaugliche Texte zur Yogaphilosophie geht: So locker und leicht, so tief und wahr – einfach wunderbar! Live kannst du Sybille in Mainz erleben, im Hatha Vinyasa Parampara Studio, das sie gemeinsam mit Andreas Ruhula leitet. Mehr unter www.hathavinyasa.de und auf Insta @hathavinyasaparamparayoga
Titelbild: Greg Rosenke via Unsplash
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