Mit nur vier Worten beschreibt Patanjali zu Beginn seiner Yoga Sutras das Wesen des Yoga. Unsere Aufgabe besteht darin herauszufinden, was er damit eigentlich meint.
Wenn man mich fragt, ob ich einen Guru habe, antworte ich meistens: Mindestens zwei. In traditionellen Yoga-Schulen disqualifiziert mich so eine Antwort sofort. Denn den alten Schriften nach ist Befreiung nur durch die Gnade EINES erleuchteten Meisters zu erlangen. Man sollte nicht zwischen verschiedenen Lehrern hin- und herspringen. Ich stimme dieser Meinung eigentlich zu. Zumindest was den Aspekt der Gnade angeht. Es lohnt sich darüber nachzudenken, ob man sich Freiheit erarbeiten und erkämpfen muss – oder ob sie ein Zustand ist, den man einfach erkennt, wie eine Art Geschenk.
Es kann hilfreich sein, von vielen verschiedenen Lehrern zu lernen. So kommt man schließlich zu seiner eigenen Erkenntnis. Die Auseinandersetzung mit einem alten, vielzitierten Text wie dem Yoga Sutra macht das deutlich. Patanjali hat seine Erklärung des Yogaweges in 195 knappen Sätzen zusammengefasst, die jeder Lehrer ein klein wenig anders übersetzt. Jede Sutra ist nur ein „Leitfaden“, der aufgrund der zahlreichen Bedeutungen eines Sanskritwortes stets auch einer Interpretation bedarf. Anhand der Worte, die ein Lehrer wählt, um das Wesen des Yoga zu erklären, kann man erkennen, wo er selber steht, und ob man diesem Weg folgen möchte.
Die vier wohl berühmtesten Worte im Yoga lauten:
Yogash citta vrtti nirodhah. (YS I,2)
Das Wort citta wird oft mit „Geist“ übersetzt, vrtti entspricht in etwa dem Prinzip der Bewegung oder Wellen. Interessant wird es bei dem, was nirodhah bedeutet. Wie kommt denn die Stille in den Geist? Oder: Wie lernt man auf den Wellen zu surfen?
Eine der ersten Übersetzungen, die mir auf meinem Weg begegnete, war der Kommentar von Swami Vishnudevananda, einem Schüler Swami Sivanandas. Er interpretierte die vier Worte auf sehr aktive Weise:
Yoga ist das Zur-Ruhe-Bringen der Gedanken im Geist.
Ich habe das ehrlich gesagt nicht lange versucht. Denn ich war nicht sehr erfolgreich darin, meine Gedanken zu beruhigen. Und ich musste ja auch dabei scheitern, einen Zustand der Ruhe auf aktive Weise herstellen zu wollen, da gerade dieser Wille in sich schon wieder eine Welle im Geist bedeutet. Glücklicherweise hatte ich schnell eine Lehrerin gefunden, die mich beiseite nahm und sagte: „Es ist okay, erstmal einfach nur auf dem Kissen zu sitzen.“ Da sie ebenfalls eine Schülerin von Vishnu-devananda war, konnte ich dem alten Inder seine etwas rabiate Übersetzung verzeihen. Den aktiven Teil kann ich heute darin sehen, dass ich mich entscheide, mir überhaupt Zeit für die Meditation zu nehmen. Diese Entscheidung allein ist bereits etwas, das mich dem Zustand, den ich mir so sehr wünsche, näher bringt.
Irgendwann fiel mir dann ein Buch mit dem einfachen Titel „Die Wurzeln des Yoga“ in die Hände. Der Autor dieses Buches war so bescheiden, dass die Umschlagseite nicht einmal seinen Namen trägt. Man kann bei ihm lesen:
Yoga ist jener innere Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen.
In diesen Worten habe ich mich aufgehoben gefühlt. Deshpande (den Namen findet man dann doch kurz im Vorwort notiert) legt in seinem Kommentar viel Wert auf den Aspekt der Freiheit. Damit meint er nicht die Möglichkeit zu tun, was immer man möchte, sondern die Freiheit „nicht zu wählen“. Man sitzt und schaut einfach nur darauf, was geschieht, ohne einzugreifen und bestimmte Gedankenwellen abzulehnen. Das schließt auch mit ein, dass man nicht wiederum andere geistige Zustände begrüßt. Ich bin immer wieder peinlich berührt, wenn mir Leute erzählen, was für „tolle Meditationserfahrungen“ sie hatten.
Die Kolumne hätte hier schon zu Ende sein können, wenn mir nicht ein Kollege vor wenigen Tagen ein Buch von I.K. Taimni in die Hand gedrückt hätte, mit den Worten: „Wenn Du über Patanjali schreibst, dann ist das hier die Referenz.“ Ich schlug die zweite Sutra auf und wusste beim ersten Lesen der Übersetzung nicht, ob ich lachen oder weinen sollte:
Yoga ist die Unterdrückung der Modifikationen der Psyche.
Auch wenn Taimni einer der führenden Sanskrit-Gelehrten war, kann ich mir nicht vorstellen, dass mehr als drei Leserbriefe kommen, die sagen: „Genau das ist für mich Yoga.“ Ein genaueres Hinschauen kann einen aber auch mit dieser Übersetzung versöhnen. In seinem Kommentar gebraucht er nämlich auch das Wort „Zurückhaltung“ als mögliche Übersetzung. Das klingt wieder mehr nach Freiheit. Ich habe schließlich T. K. V. Desikachar aus dem Regal geholt, dessen Patanjali-Übersetzung gleich mit „Über Freiheit und Meditation“ betitelt ist. Er bemüht sich gar nicht erst um eine wörtliche Übersetzung, sondern versucht uns zu zeigen, was man sich tatsächlich erarbeiten kann (womit wir beinahe wieder bei der ersten Variante sind):
Yoga ist die Fähigkeit, sich ausschließlich auf einen Gegenstand, eine Frage oder einen anderen Inhalt auszurichten und in dieser Ausrichtung ohne Ablenkung zu verweilen.
Es bleibt also am Ende für uns selbst immer noch das Rätsel zu lösen, wie viel wir im Yoga aktiv erreichen können, und was wir einfach geschehen lassen. Mir hat es gut getan, mir den Weg der Meditation von verschiedenen Seiten anzuschauen, um sicher zu werden, dass es am Ende immer auf das Eine hinaus läuft. Jeder Surflehrer hat ein paar andere Tricks aus seiner persönlichen Erfahrung, die er mit uns teilen kann. Man kann von jedem etwas lernen.
Ralf Sturm lebt und arbeitet im Yoga Vidya-Seminarhaus in Bad Meinberg.