Zweckdenken, Zielorientierung und Selbstoptimierung sind machtvolle Motive unserer Kultur. Das ist auch im Yoga oft spürbar. Sollte es aber nicht. Hier liest du, warum es eigentlich nur um das Tun selbst geht – und die Freude daran. Autorin Rina Deshpande stellt dir das Konzept “Vibhuti Pada” aus Patanjalis Yoga Sutra vor.
Text: Rina Deshpande, Titelbild: Thomas Barwick/Getty Images
In meinen späten Zwanzigern durchlebte ich eine auf katastrophale Weise zerbrochene Beziehung. Mit meinem gebrochenen Herzen umzugehen, während ich zugleich einen herausfordernden Job meistern musste – es war einfach alles zu viel. Ich fühlte mich so erschöpft, dass ich morgens kaum noch aus dem Bett kam: unvorstellbar, wie ich den Tag bewältigen sollte? Das Einzige, was ich schaffte, war, mich auf den nächsten kleinen Schritt zu konzentrieren, der vor mir lag: Ich wusste noch nicht, wie ich ins Bad kommen und mir die Zähne putzen sollte, aber immerhin konnte ich schon mal beide Füße aus dem Bett auf den Boden bewegen.
Dabei folgte ich einem Rat von Oprah Winfrey: Innerlich (oder sogar laut) “Danke” sagen bei jedem einzelnen Schritt. Zugegebenermaßen fühlte ich mich dabei nicht wirklich dankbar, aber immerhin war es diese Technik, die mich Tag für Tag in die Lage versetzte, aufzustehen und viele kleine “Danke”-Schritte später das Haus zu verlassen. Abends daheim noch die Yogamatte auszurollen, daran war natürlich nicht zu denken. Aber da die Vorstellung mich schreckte, nach der Arbeit in meine leere Wohnung zurückzukommen, ging ich immerhin regelmäßig in den Unterricht einer Lehrerin, die ich gut fand.
Yoga leben, statt es nur zu machen
Nachdem ich monatelang nur von einem Schritt zum nächsten gelebt hatte, begann ich zu bemerken, dass manche Asanas mir allmählich wieder leichter fielen. Einige waren sogar richtig angenehm. Weil ich so regelmäßig kam, begann ich, die Gesichter und Namen meiner Mit-Yogi*nis zu kennen und auch diese Begegnungen wurden mit der Zeit schöner. Selbst das morgendliche “Danke”-Ritual kam mir irgendwann nicht mehr nur über die Lippen, sondern tatsächlich von Herzen.

Aber die Sache ist die: Das alles war nie das Ziel. Ich bin nicht ins Yoga gegangen, um meinen Herzschmerz zu heilen oder Freund*innen zu finden, nicht mal, um meine Asanas zu verbessern. All das waren nur Nebenprodukte meiner Praxis. In dieser besonderen Phase meines Lebens war ich längere Zeit zurückgeworfen auf das reine Tun. Und irgendwann führte dieses völlig von jedem Zweck losgelöste Üben – jeder Atemzug, jeder Schritt, jede Haltung, jede Yogastunde – dazu, dass ich das Gefühl hatte, Yoga zum ersten Mal nicht nur zu “machen”, sondern es zu leben. Noch heute, viele Jahre später, bemerke ich die Früchte dieser Transformation – und weiterhin ganz besonders dann, wenn ich nicht nach ihnen Ausschau halte.
Nebenprodukte der Yogapraxis
Die Yogaphilosophie spricht an verschiedenen Stellen über dieses Phänomen und sagt: Ganz egal, wie hingebungsvoll du übst, bestimmte Wirkungen der Praxis sind nie garantiert – aber es werden sich immer Wirkungen zeigen. Dahinter steht das Prinzip von Vibhuti Pada, einer der grundlegenden Lehren aus Patanjalis Yoga Sutra. Vibhuti werden darin beschrieben als Errungenschaften, die sich als Nebenprodukte der Yogapraxis einstellen, während das Wort Pada sowohl “Fuß” bedeuten kann als auch “Schritt” oder “Weg”. In der Hindu-Kultur, in der ich aufgewachsen bin, versteht man unter Vibhuti vor allem eine gräulich-weiße “heilige Asche”. Man opfert sie bestimmten Gottheiten oder tupft sie zum Beten oder für manche Rituale auf das “Dritte Auge” in der Mitte der Stirn.
Freudenfeuer
Interessanterweise ist diese Vibhuti-Asche, genau wie die yogischen Errungenschaften, von denen Patanjali spricht, auch ein Nebenprodukt: Sie entsteht beim Verbrennen von Holz während hinduistischer Riten. Die Bhagavad Gita handelt in Kapitel 4, Vers 19, davon, wie wir diesen Gedanken auf unser Leben anwenden sollten:
यस्य सर ्व े समारम्भा: कामसङ्कल्पवर ्जि ता
ज्ञानाग्नि दग्धकर ्माणं तमाह ु: पण्डि तं ब ुधा:
yasya sarve samārambhāḥ kāma-saṅkalpa-varjitāḥ
jñānāgni-dagdha-karmāṇaṁ tam āhuḥ paṇḍitaṁ budhāḥ
Diejenigen, die weise sind, lassen jegliche Handlung frei sein
vom Verlangen nach Gewinn oder Genuss.
Verbrenne jeglichen Wunsch nach Ergebnissen deines Tuns im Feuer
der göttlichen Weisheit; widme deine Arbeit der Arbeit selbst.
Bhagavad Gita | Kapitel 4, Vers 19
So wie beim Brennen eines Feuers Asche und Rauch entstehen, so entstehen durch unsere ernsthafte und regelmäßige Yogapraxis Vibhuti. Sie sind nichts als Nebenprodukte dieses Übens, oder um es mit der Bhagavad Gita zu sagen: Nebenprodukte der “Arbeit selbst”. Wir können uns an diesen Errungenschaften freuen – an einer schwierigen Asana, die wir endlich meistern, an den Menschen, die in unsere Klassen kommen – aber dafür üben wir nicht! Auf diese Weise erinnert uns die alte Weisheit des Yoga daran, dass Erfolge und Genuss uns kein dauerhaftes Glück bescheren können und dass wir uns darin üben sollten, das zu akzeptieren.
Der Übungsweg: Üben um des Übens willen
Yoga zu üben, um etwas Bestimmtes zu erreichen, kann durchaus dazu führen, dass du es tatsächlich erreichst – aber sicher ist das nicht. Wenn du dich dabei ertappst, wie du dich unter Druck setzt, Yoga “machst”, “gut” darin sein willst, etwas Bestimmtes schaffen oder erschaffen willst, seien es nun materielle oder vom Ego diktierte Ziele, dann ist es sicher eine gute Idee, innezuhalten und zu überlegen, wie du deiner Praxis eine andere Richtung geben könntest. Yoga könnte etwas sein, das dir einfach “nur” Freude macht. Bei dem du dich gut fühlst. Es kann sein, dass dir diese Umstellung erst mal nicht leicht fällt. Das ist nicht schlimm: Du darfst in ganz kleinen “Danke”-Schritten vorgehen. Vielleicht so:
Vorschlag 1: Zurück zum Ursprung

Nimm dir Zeit, um dich in einer ruhigen Stunde mit deiner Hinwendung zum Yoga zu verbinden. Frage dich: “Was hat mich ursprünglich zu dieser Praxis gebracht?” Und: “Weswegen bin ich dabei geblieben?” Manche von uns haben durch die eigene Familie oder die Kultur, in der sie aufgewachsen sind, ein frühes Band zu Yoga entwickeln können. Für sie fühlt sich die Praxis an wie ein Nachhause-Kommen. Für andere war es eher so, dass sie irgendwann mal in eine Yogastunde gegangen und dann dabei geblieben sind. Vielleicht ganz einfach, weil es sich so gut anfühlt. Womöglich wie ein Nachhause-Kommen zu sich selbst.
Vielleicht ist es für dich auch etwas ganz anderes, es spielt keine Rolle. Nichts ist besser oder schlechter. Es geht nur darum, dich wieder mit dem eigentlichen Sinn zu verbinden, den die Praxis für dich hat. Mach dir bewusst, was die uralte Weisheit des Yoga tatsächlich in deinem Leben verändert, jenseits der kleinen und großen Errungenschaften und temporären Erfolgserlebnisse.
Vorschlag 2: Freude kultivieren
In meiner eingangs geschilderten Lebenskrise war die Gemeinschaft mit meinen Mit-Yogi*nis das Vibhuti meiner Praxis. Im westlichen Verständnis von Yoga werden solche Aspekte von Selbsthilfe und Selbstfürsorge häufig ins Zentrum gestellt, doch ich halte das für ein Missverständnis. Die Möglichkeit, Gemeinschaften zu bilden, ist für mich ein typisches Beispiel für ein Nebenprodukt der Praxis. Genau wie gelinderte Rückenschmerzen oder die Fähigkeit, sich besser zu konzentrieren. Aber das heißt nicht, dass wir diese “Nebenprodukte” gering schätzen sollten, ganz im Gegenteil: Die einfache, ehrliche Begegnung mit gleichgesinnten Menschen zum Beispiel, hilft uns, uns einfach gut zu fühlen – und das ist sehr kostbar. Wir sollten uns also an den Vibhuti freuen – auch und gerade wenn wir nicht um ihretwillen üben.

Rina Deshpande lehrt Yoga und Yogaphilosophie, sie forscht und schreibt über Yoga und Achtsamkeit und versteht es dabei als US-Amerikanerin mit indischen Wurzeln, das traditionelle Wissen für Menschen von heute greifbar zu lassen. Erfahre mehr über Rina auf ihrer Website oder ihrem Instagram-Account @rinathepoet
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