Yoga und Essstörung: Im Kontakt mit dem eigenen Körper

Anika Leititis ist Yogalehrerin und Hörspielsprecherin. Außerdem engagiert sie sich in Siegen (Nordrhein-Westfalen) für den gemeinnützigen Verein „La Vie“. Dort werden Mädchen mit Essstörungen in Wohngruppen oder ambulant betreut – und Yoga ist fester Bestandteil des Therapieplans.

Anika, wie kam es dazu, dass du heute Yoga für Mädchen mit Essstörungen unterrichtest?
Eine langjährige Yogaschülerin von mir, Frau Hamel-Weber, leitet einen Verein für essgestörte Mädchen. Sie hatte die Vision, neben der herkömmlichen psychologischen Betreuung die Mädchen auch körperorientiert und künstlerisch auf dem Weg der Gesundung zu begleiten. Ihre Begeisterung war ansteckend und ich bin sehr dankbar, dass ich mich in dieses Projekt aktiv mit einbringen kann. Essstörungen sind weit verbreitet und Yoga ist eine tolle Möglichkeit, in Kontakt mit dem eigenen Körper zu kommen.

Wie sieht dein Unterricht aus? Auf welche Elemente legst du gesteigerten Wert?
Bei den Mädchen geht es vor allem darum, sich selbst wieder besser zu spüren und wertzuschätzen. Dafür eignet sich Yoga hervorragend: Indem man seinen Körper bewegt und den Atem wahrnimmt, bekommt man erneut Zugang zu sich. Eine Essstörung bedeutet sowohl körperlich als auch psychisch eine starke Beanspruchung: Dem Geist und dem Körper werden keine Pausen gegönnt, alles dreht sich ums Thema „Essen und Leistung“.
Mit den jungen Mädchen, die zwischen 14 und 25 Jahre alt sind, arbeite ich viel über ihre Körperwahrnehmung: Wie kann eine äußere Haltung die innere beeinflussen – und andersrum? Wie fühlt sich Entspannung an? Weshalb bemerke ich erst in der Ruhe, dass mein Körper eigentlich total müde und ausgebrannt ist?
Meinen Unterricht baue ich sehr unterschiedlich auf. Wichtig ist mir, auf verschiedene Arten zu zeigen, wie man sich um seinen Körper kümmern kann und welche Möglichkeiten Yoga bietet, das ständige Kreisen und Bewerten im Kopf auszuschalten.

Worin siehst du deine Aufgabe als Yogalehrerin?
Ich möchte dazu motivieren, gut für sich zu sorgen. Und ich möchte die Mädchen dazu inspirieren, mutig ihren eigenen Weg zu gehen. Denn ich sehe in der Essstörung eine große Chance: Diese jungen Menschen setzen sich mit sich selbst auseinander, etwas, was viele Erwachsene erst zu einem viel späteren Zeitpunkt tun. Wenn sie diese schwierige Phase gut bewältigen, besitzen sie unglaubliches Potenzial und Erfahrungen für ihr zukünftiges Leben.

Wie stehst du generell zu der Verbindung zwischen Yoga und Engagement für andere?
Ich finde, der einzige Grund, warum man sich mit Spiritua­­lität beschäftigen sollte, ist, um ein Geschenk für andere Menschen zu sein. Durch Yoga möchte ich teilen, was mir im Leben alles Gutes widerfährt.

Welche Veränderungen konntest du bei deinen Teilnehmerinnen wahrnehmen?
Das Tolle ist, ich arbeite jetzt schon einige Jahre für „La Vie” und kann dadurch die Mädchen über einen langen Zeitraum begleiten. Erst kürzlich ist ein Mädchen zum Studieren in eine andere Stadt gezogen. Als sie sich von mir verabschiedete, bekam ich Gänsehaut: Was für eine Entwicklung von einem mageren, unsicheren Häufchen Mensch zu einer strahlenden, gesunden Persönlichkeit!
Natürlich gibt es auch andere Fälle, aber ich bin so stolz auf meine Mädels, als wären es meine eigenen Töchter. Vor dem, was die Mädchen in ihren jungen Jahren schon bewältigen, ziehe ich meinen Hut.

Auf welche Schwierigkeiten bist du beim Umgang mit den Mädchen gestoßen?
Ich mache mir keine Illusionen, dass ich mit meiner Arbeit irgendjemanden retten könnte, ich möchte begleiten und Impulse geben. Als ich vor einigen Jahren begann, die ersten magersüchtigen Mädchen zu unterrichten, musste ich mich bei einigen Untergewichtigen richtig überwinden, sie anzufassen. Oft wirken sie so zerbrechlich und bei starker Abmagerung hat es mich am Anfang etwas gegruselt. Dann wurde mir klar: Wenn ich ihnen nicht wie jedem anderen Schüler begegne, wie sollen sie dann lernen, sich selbst anzunehmen? Als sie dann Fragen zu den einzelnen Übungen hatten und nach Korrekturen fragten, ging mir das Herz auf, weil sie eine wichtige Lektion des Lebens auf der Matte lernten: Bedürfnisse zu äußern.

Gemeinsam habt ihr ein professionelles Hörspiel mit dem Titel „Zuhause“ aufgenommen. Schon Hermann Hesse sprach davon, dass ein Zuhause nur im Inneren entstehen kann …
Auf dieses Projekt, das ich in den Sommerferien zusammen mit einem Schauspieler und einem Musiker verwirklicht habe, bin ich besonders stolz. Wir haben die Mädchen dabei unterstützt, ein eigenes Kurzhörspiel zu produzieren. Doch sie haben alles selbst gestaltet, vom Thema über die Musik und das Cover. Am Ende haben sie sich damit sogar beim ARD-Hörspielpreis beworben. Eine Teilnehmerin äußerte sich zu dem Thema: „Wir tragen alle unser eigenes Zuhause in uns.“ Diese Aussage beschreibt für mich Yoga!


AnikaLeititis 1Anika Leititis ist Yogalehrerin und Gründerin von „Kianayoga“ mit Studios in Siegen, Bruchsal und Karlsruhe.

100. Ausgabe YogaWorld Journal

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