Yoga kann man als Weg verstehen, der einen der inneren Balance näherbringt. Der erste Schritt auf diesem Weg, zumindest im Hatha Yoga, führt zu ganzheitlicher körperlicher Balance. Wir nähern uns einem Zustand, in dem unsere Muskeln in Harmonie zueinander, die Gelenke zentriert und unsere inneren Organe gesund sind. Unser gesamter physischer Körper wird dadurch zu einem Ausdruck der Lebendigkeit. Gleichgewichtshaltungen sind ein Symbol für diesen Weg.
Wie funktioniert Balance?
Muskeln haben Sensoren, die sogenannten Muskelspindeln, die kleinste Veränderungen in der Länge bemerken. Wird ein Muskel gedehnt, geht von der Muskelspindel ein Nervenimpuls zum Rückenmark. Dort findet eine neuronale Umschaltung statt und ein erneuter Nervenimpuls geht zum Muskel zurück. Über diesen sogenannten Eigenreflex spannt sich der Muskel an, um dadurch die erfahrene Dehnung rückgängig zu machen. Dieser Reflex funktioniert blitzschnell und ohne unser bewusstes Zutun. Er ist wesentlich, um eine einmal eingenommene Körperhaltung aufrecht zu erhalten.
Der Fuß als Fundament
Mit folgender Übung können Sie den Mechanismus zur Wahrung des Gleichgewichts wahrnehmen: Stellen Sie sich auf ein Bein. Ihr Standfuß wird zum Fundament, über dem Ihr Körper sich ausbalanciert. Ganz unwillkürlich halten die Muskeln Ihres Beines Ihren Körper über dem Fuß im Lot. Schließen Sie nun Ihre Augen, denn auch diese haben eine wesentliche Funktion im Zusammenhang mit unserem Gleichgewicht. Beobachten Sie die nun deutlicher werdenden Ausgleichsbewegungen. Verlagert sich beispielsweise Ihr Körperschwerpunkt nach vorne, werden die Muskeln an der Rückseite Ihres Beines etwas gedehnt. Diese reagieren, gesteuert über den beschriebenen Reflex, mit einer Kontraktion. Die Zehen drücken fester in den Boden und Ihr Körperschwerpunkt verlagert sich wieder nach hinten.
Je öfter Sie diese Übung ausführen, desto feiner werden die Ausgleichsbewegungen. Schließlich werden sie so präzise, dass es scheint, als würden Sie vollkommen fest stehen. Selbst auf einer wackeligen Unterlage oder bei starkem Sturm kann diese Steuerung den Körper in einer gleichmäßigen Haltung bewahren
Von der Balance zur Yogatherapie
Die Verbesserung des Gleichgewichts mag nebensächlich erscheinen, doch sie hat eine entscheidende praktische Relevanz in der Yogatherapie. Ungünstige Gelenkstellungen, Verspannungen der Muskulatur oder eine unausgewogene Körperhaltung können die Ursache für Schmerzen am Bewegungsapparat sein. Ziel einer körperorientierten Yogatherapie ist es also, die physische Balance wieder herzustellen. Diese zeichnet sich durch einen ausgeglichenen Druck in den Gelenken und einen harmonischen Tonus der Muskulatur aus. Angenommen, Sie haben Schmerzen an der Innenseite des Kniegelenkes, dann können Sie mit Yoga über folgende Schritte einen therapeutischen Weg beschreiten und die Balance des Gelenks wieder herstellen.
Die Welt der Balance
Die im Yoga üblichen Positionen erfordern weitaus mehr Balance, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Probieren Sie es einfach einmal aus, indem Sie während Ihrer Yogapraxis die Augen geschlossen halten. Schon wird eine sonst einfach erscheinende Stehhaltung wie das Dreieck oder der Krieger zu einer anspruchsvollen Balanceübung. Bei jeder Übung wird das Gleichgewicht auf etwas andere Weise gefordert. Die Muskeln bzw. deren Reflexe lernen dadurch, die Gelenke immer wieder in einem anderen Winkel zu stabilisieren.
Erst kommt die innere Balance, dann die äußere Position. Aus gesundheitlicher Sicht sollten wir damit beginnen, in einer relativ einfachen Körperhaltung eine möglichst harmonische körper-liche Balance zu entwickeln. Der Druck in den Gelenken ist dabei weitgehend gleichmäßig verteilt, die Muskelspannung ausgeglichen. Darauf aufbauend transportieren wir diese Harmonie in die verschiedenen Körperhaltungen oder tragen sie sogar durch Bewegungsfolgen. Jede neu eingenommene Position oder andauernde Bewegung stabilisiert dann die gesunde Balance. Auf diese Weise kann Yoga therapeutisch wirken und uns helfen, auf körperlicher Ebene mehr Gesundheit und Wohlbefinden zu entwickeln. Wenn wir uns dagegen mit schief stehenden Gelenken in diverse Körperhaltungen zwängen, stabilisieren wir über die beschriebenen Reflexe lediglich unsere unausgewogene Körperhaltung.
Der Autor Dr. Ronald Steiner ist Arzt für Sportmedizin und zählt zu den bekanntesten Praktikern des Ashtanga Yoga. Mit viel Präzision und Praxisnähe unterrichtet er auf Aus- und Weiterbildungen Anatomie, Ausrichtung und Therapie für Yogalehrer. Sein Unterricht baut eine Brücke zwischen angewandter Anatomie und lebendiger Philosophie, zwischen präziser Technik und praktischer Erfahrung (www.AshtangaYoga.info).