“Rekindle your Wild” – Yoga-Praxis von Sinah Diepold

Mit Sinah Diepolds Praxis feiern wir unsere natürliche Freiheit und Lebendigkeit. Die Sequenz soll dir helfen, aus vorgefertigten Mustern und Zwängen auszubrechen, deine innere Wildheit zu entfachen und deine Lebenskraft zu spüren. Deswegen sind die Anleitungen bewusst kurz gehalten: Nimm wahr, was dir guttut, was stimmig für dich ist, wo die Energie fließt – und vertraue deinem Gefühl.

Text & Sequenz: Sinah Diepold / Fotos: Susanne Schramke

Bist du manchmal auch so eingespannt in all den Dingen, die man so tun “muss”? Ob nun im Job, im Haushalt, in der Familie oder sogar in der Yogapraxis? Wie geht noch mal das perfekte Trikonasana und wie oft soll ich pro Woche meditieren, am besten jedenfalls täglich mindestens eine Stunde Self Practice, aber unbedingt vor dem Kaffee! Das sind alles ehrenwerte Ansprüche und sicher hilfreicher, als den Tag mit endlosem Scrollen und dauerndem Vergleichen zu beginnen. Aber fühlst du dich da auch manchmal eingesperrt, verlierst auch du dieses kraftvolle Gefühl von Lebendigkeit und innerer Freiheit und Wildnis?

„Erleuchtung? Für mich ist das
vollkommene Lebensfreude, die durch jede Zelle fließt.“

Wenn man im Flugzeug über Deutschland fliegt und nach unten schaut, dann sieht man mit dem Lineal gezogene Felder, eingezäunte Wiesen, schnurgerade Straßen und abgegrenzte Wälder. Genau so fühle ich mich manchmal: Ich verliere meine Wildnis, weil ich so viele Erwartungen habe an alles, weil der Laden laufen muss, das Alignment noch optimiert werden könnte oder die Morgenroutine etwas runder werden soll. Ich versuche, mich in vorgefertigte Formen zu drücken, die mich einschränken und limitieren. Doch was ist denn eigentlich das Ziel von Yoga? Erleuchtung. Okay, aber was ist das? Ich stelle es mir so vor: Es ist vollkommene Lebensfreude, die durch jede Zelle fließt, die strahlt und leuchtet. Angefüllt mit Prana, der yogischen Lebenskraft, und trotzdem geerdet und durchdrungen von einem Gefühl von Stabilität und tiefer Verbundenheit – mit mir selbst, den anderen Wesen auf diesem Planeten und überhaupt mit der Natur, dem Leben.

Aus dieser Sehnsucht nach Lebendigkeit heraus habe ich angefangen immer öfter so zu üben, dass ich mich darauf konzentriere, wie ich die Energie in mir bewege, wie ich meinen Kopf und Körper von den selbst auferlegten Pflichten befreie und eintauchen kann in Lebendigkeit und Wildnis, meinen inneren Dschungel. Das ist die Idee von “Rekindle your Wild”, die du mit den Übungen auf den kommenden Seiten kennenlernen kannst. Erforsche diese Sequenz am besten mit guter Musik, vor allem aber spüre aufmerksam in dich hinein und gehe so durch die unterschiedlichen Bewegungen, Asanas, dynamischen Übungen und sogar durch die Meditation: Spüre die Energie, vertraue dir, deinem Gefühl und deiner inneren Wildnis.

TIPP: Am schönsten übt sich diese Sequenz mit Musik. Nutze dazu gerne die Playlist “ReWild Class” von Kale&Cake:

1. Grounding

Nimm dir ausgiebig Zeit, um anzukommen und dich zu erden, bevor du mit den Asanas beginnst. Dazu schlage ich dir zwei Übungen vor:

A: Bauchatmung

Sinah Diepold Susanne Schramke Bauchatmung

Atme in einer bequemen Sitzhaltung oder auch im Liegen bewusst in deinen Bauch. Spüre, wie du ankommst, wie dein System herunterfährt und du dich erdest. Lass dir dafür mindestens 4–5 Minuten lang Zeit, gerne auch mehr. Vertraue deinem Gefühl.

B: Balasana

Lege danach 2–3 Minuten lang in der Kindshaltung deine Stirn auf dem Boden ab. Lass dein Gewicht nach unten sinken und alle Anspannung abfließen. Atme dabei weiter bewusst in den Bauch und spüre, wie der Kontakt zum Boden dich erdet und wie sich Geist und Körper beruhigen. Vertraue deinem Gefühl.

2. Clearing

Bevor ich neue Energie kreiere, möchte ich erst mal durchlüften, abgestandene Energien loswerden und mich sozusagen neutralisieren. Dazu liebe ich diese beiden Übungen, denen ich die Namen “Tote Fische” und “Holzhacken” gegeben habe. Du kennst sie aber vielleicht auch mit anderen Bezeichnungen. Sie aktivieren vor allem die Lymphe, vitalisieren die Wirbelsäule und öffnen die Lungen.

A: Tote Fische

Stehe stabil in einem weiteren Stand, beuge die Knie leicht und lass deine Arme wie tote Fische um dich herum schwingen, während du dich von den Beinen ausgehend dynamisch um deine eigene Achse drehst. Atme dabei weich und gleichmäßig und entspanne dein Gesicht. Mach das etwa 3 Minuten lang. Du wirst sofort merken, wie du Stress loswirst und die Müdigkeit weicht.

B: Holzhacken

Hier mobilisierst und aktivierst du noch gezielter deine Schultern und Lungen. Du stehst weiterhin relativ breit und mit leicht gebeugten Knien. Mit der Einatmung hebst du die Arme wie zum Holzhacken dynamisch über den Kopf, mit dem Ausatmen lässt du sie vor dem Körper vorbei nach unten sausen. Beweg dich dabei möglichst locker und mit wenig Spannung, bleib aber dynamisch und atme in vollen Zügen. So wird die Übung zu einem Pranayama. Nach
etwa 2–3 Minuten kommst du wieder zur Ruhe und nimmst dir genug Zeit, um nachzuspüren und zu genießen.

3. Flow

Komm jetzt mit einigen Sonnengrüßen in einen ruhigen Fluss an Bewegung: Fließe leicht und bewusst durch 2–3 Runden Surya Namaskar. Wähle dabei die Variante, die dir vertraut ist und die du magst. Halte dich nicht allzu sehr damit auf, die einzelnen Haltungen perfekt ausführen zu wollen. Spüre stattdessen die Verbindung von Atem und Bewegung und stell dir vor, wie du im dynamischen Fluss deine innere Sonne entfachst.

4. Feuer und Transformation

Nun sind wir bereit, das Feuer zu entfachen. Feuer kann wärmen, transformieren, aber auch zerstören. Um das nährende Feuer der Transformation und die feurige Willenskraft zu nutzen, die wir im Yoga Tapas nennen, braucht es für mich zuerst Erdung und eine gute Verbindung nach innen.

Lesetipp: “Achtsamer Wandel: So gelingt wahre Transformation” von Sally Kempton.

A: Bicycle Crunches

Sinah Diepold Susanne Schramke bicycle crunches

Lege in der Rückenlage die Hände an den Hinterkopf, aktiviere deinen Core und ziehe die Knie Richtung Brust. In dieser aktiven Haltung beginnst du, mit den Beinen “Fahrrad” zu fahren. Dabei ziehst du jeweils den entgegengesetzten Ellenbogen zum gebeugten Knie. Lass die Bewegung aus der Brustwirbelsäule kommen und spüre, wie Feuer in der Körpermitte entsteht. Mach das etwa 1–2 Minuten lang, auf jeden Fall aber über den Punkt hinaus, wo der Kopf keine Lust mehr hat, der Körper aber noch kann. Lass in der Bewegung deinen Atem weiterfließen und halte den Nacken lang.

B: Kali Flow

Nun geht es in die Transformation. Die indische Göttin Kali steht für Zerstörung, aber auch für die Erneuerung und kann Wünsche erfüllen. Also vorsichtig, was du dir wünschst! Du beginnst in einer breiten Grätsche mit schräg nach außen gedrehten Zehen und gebeugten Knien (Utkata Konasana). Dann verbindest du vier Bewegungen zu einem Flow:

1. Breite einatmend die Arme weit zu den Seiten aus und weite die Brust in eine Rückbeuge.

2. Ausatmend rundest du deinen Oberkörper, führst die Arme von den Seiten gestreckt nach vorn und legst die Handrücken zusammen.

3. Mit der nächsten Einatmung streckst du die Beine, hebst Arme und Kopf und verschränkst die Finger senkrecht nach oben zeigend in Kali Mudra: Die Zeigefinger sind lang, die Daumen und restlichen Finger verschränk wie ein Schwert.

4. Ausatmend schlägst du das Schwert kraftvoll nach unten und beugst die Beine zu einer tiefen Hocke. Wenn du magst, kannst du dabei deine Zunge rausstrecken und einen entsprechenden Laut von dir geben.

Wiederhole diesen Flow 5–10 Mal. Dabei atmest du tief und richtest deinen Geist auf eine persönliche Intention: Was möchtest an Glaubenssätzen und Begrenzungen du zerstören, damit Raum für Neues entstehen kann? Bleib danach noch etwas ruhig stehen, schließe die Augen und spüre ein paar Atemzüge lang. Was kannst du jetzt wahrnehmen?

5. Liberation

Nun geht es an die Befreiung und die Öffnung in die Lebendigkeit. Dazu übst du zuerst die klassische Tänzer-Asana, die deinen Herzraum weitet und dir ein Gefühl von Kraft und Balance schenkt, bevor du dich ganz dem freien Fluss und der Energie der Bewegung überlässt.

A: Yoga-Tänzer

Sinah Diepold Susanne Schramke natarajasana

Verlage dein Gewicht auf einen Fuß, erde dich bewusst und finde deine Mitte, bevor du den anderen Fuß vom Boden löst und mit der Hand umfasst. Welche Version von Natarajasana du übst, spielt keine Rolle, du musst den Fuß nicht so weit heben wie auf dem Bild. Viel wichtiger ist, dass du 5–10 Atemzüge lang in der Haltung bleiben kannst, mit einem klaren Blick und einem entspannten Gesicht. Genieße deine Kraft und die Öffnung im Herzraum. Blick und Brustkorb sind nach vorne gerichtet, der Fuß schiebt gegen die Hand und der Atem schenkt dir die eigentliche Tiefe in der Haltung. Dasselbe wiederholst du noch einmal seitenverkehrt.

B: Tanzparty

Für mich ist der direkte Highway zu Lebendigkeit eine Tanzparty: Lieblingslied an und einfach lostanzen. Keine Gedanken daran, wie es aussieht, sondern nur spüren, wie es sich anfühlt. Befreie dich bewusst von limitierenden Gedanken und dem Bild im Außen. Bewege dich so, wie dein Herz es braucht. Mein absoluter Favorit dafür ist das Lied “Spectrum” von Florence and the Machine.

Sinah Diepold Susanne Schramke tanz

Stehe danach für ein paar Momente stabil auf beiden Beinen, schließe die Augen und lege deine Hände auf Herz und Bauch. Wie geht es dir? Kannst du die Lebendigkeit durch dich strömen spüren, das Prana, das laute “Ja” zum Leben?

6. Integration

Nun lass uns diese Energie integrieren und einen Anker setzen, um den fruchtbaren Boden unserer Wildnis auch zu nutzen und von da zu wachsen.

A: Drehung

Sinah Diepold Susanne Schramke twist

Komm in einen sitzenden Twist deiner Wahl. Ich liebe den halben Lotus mit Bindung. Genauso gut eignet sich auch Ardha Matsyendrasana oder eine sanfte Drehung im Schneidersitz. Wähle eine Version, in der du dich richtig gut fühlst. Du musst nichts erreichen und erfüllen. Schließe die Augen, atme bewusst in deine Körperrückseite und verbinde dich nach innen.

Bleib 5–10 Atemzüge lang, dann löst du den Drehsitz behutsam auf und wiederholst dieselbe Version noch einmal seitenverkehrt.

B: Vorwärtsbeuge

Sinah Diepold Susanne Schramke baddha konasana

Um noch deutlicher in die Ausrichtung nach innen zu kommen und dich auf Shavasana vorzubereiten, kommst du jetzt noch in eine Vorwärtsbeuge deiner Wahl. Ich habe ein lockeres Baddha Konasana gewählt, mit den Füßen weit weg von der Sitzfläche. Genauso gut eignet sich auch Pashchimottanasana (Vorwärtsbeuge aus dem Langsitz), Upavishtha Konasana (Vorwärtsbeuge aus der Grätsche) oder ganz entspannt in der Rückenlage Apanasana, wo du nur locker die Knie zum Brustkorb ziehst. Bleib hier gerne 10–20 Atemzüge lang. Lass dich einsinken. Spüre deinen Atem, deinen Körper, deine Energie und Verbundenheit.

„Ich fühle mich durchdrungen von einem Gefühl tiefer Verbundenheit – mit mir selbst, den anderen Wesen auf diesem Planeten und überhaupt mit dem Leben.“

7. Shavasana

Die Entspannung am Ende der Sequenz ist genauso wichtig wie die Übungen selbst: Lebendigkeit in der Ruhe, Zeit für Integration. Mach es dir in der Rückenlage so richtig bequem: Vielleicht magst du ein Bolster unter die Knie legen, oder du brauchst ein flaches Kopfkissen. Deck dich auch gerne zu. Dann schließ deine Augen und lausche noch tiefer nach innen, auf deinen Atem, deine Lebendigkeit. Gönne dir 7–10 Minuten Shavasana.

8. Meditation

Eine Meditation ist die ideale Ergänzung nach dieser Praxis. Wähle eine Meditationsform, die du magst, die dich freut. Ich liebe an dieser Stelle eine Mantra-Meditation, beispielsweise auf das uralte Hindu-Mantra “So Ham“, das ganz natürlich mit dem Atem fließt und uns tief in die Verbindung mit allem Leben bringt, sodass wir spüren, wie wir im Sein verankert sind. Du kannst aber im Stillen auch ein ganz anderes Mantra wiederholen, zum Beispiel “Ich erlaube mir einfach zu sein” oder “Mein Wert ist unantastbar”. Meditiere in einem bequemen Sitz oder auch im Liegen und bestimme, wie lange – alles ist richtig, 5 Minuten, 30, oder auch irgendetwas dazwischen.


Die Münchener Yogalehrerin SINAH DIEPOLD gehört mit ihrer ansteckenden Lebensfreude und ihrem Engagement für mehr Selbstakzeptanz und Toleranz zu den absoluten Lieblingen der deutschen Yogaszene. Mehr zu Sinah und ihrer Arbeit auf www.kaleandcake.de oder auf Insta @sinahdiepold.

Hör auch gerne in unser Podcast-Interview mit Sinah rein. Hier erfährst du, wie du Spiritualität in deinen Alltag integrieren kannst:

Sinah Diepold ist auch 2023 wieder bei der Aktion Kleine Helden dabei! Alle Infos zur aktuellen Charity-Yoga-Aktion zugunsten krebskranker Kinder findest du hier. Hier gibt’s ein Praxisvideo mit Sinah Diepold, das in Zusammenhang mit der Aktion Kleine Helden 2021 entstanden ist:

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