Ach du (schein-)heiliges Ich

Mein liebes Ich,

nein, dies wird kein Liebesbrief. Ich schreibe dir, um dir mitzuteilen: Du hast es verbockt! Früher hatten wir beide mal viel Spaß miteinander: Wir aßen Fertigpizza und tranken dazu billigen Rotwein aus Bulgarien. Wir wussten um unsere Spreckröllchen und unsere Orangenhaut. Wir wussten auch, das Letzteres nicht wirklich zu ändern ist, trotz der teuren Produkte. Wir hatten große Pläne, wollten die Welt verändern und anders als die Mama leben. Im Nachhinein betrachtet lebte sie allerdings sehr viel fortschrittlicher, als wir annahmen. Du wolltest gegen das Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen vorgehen, gegen die Schere zwischen arm und reich, schön und hässlich. Deine Ideen sprühten vor Witz, Charme und Genie. Und du warst davon überzeugt, damit auch richtig Kohle zu machen. Du tauchtest also ein in das, was man gemeinhin als Leben bezeichnet. Dieses glich mehr einem Spiegellabyrinth statt einem geraden Weg und war zweifellos anstrengend: Hinter jeder Ecke starrte dir dein Spiegelbild in tausendfacher Ausfertigung entgegen. Das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, war schwierig, und auch deinen Träumen weiterhin Glauben zu schenken, selbst wenn sie sich bereits zum tausendsten Mal nicht erfüllt hatten. Trotz harter Arbeit. Ein wenig Ruhe wolltest du, einen Ort, an dem du verschnaufen konntest. Und so kam sie in dein Leben: die Yogamatte. Um dich herum herrschte weiter Chaos in den verschiedensten Formen und Variationen. Doch Yoga bändigte dein inneres Chaos. Du glaubtest an die Synchronizität: Wenn du dich friedvoll auf der Yogamatte fühltest, so musste die Welt ebenso zu einem friedvolleren Ort werden. Irgendwann wolltest du gar nicht mehr von der Matte runter. Und dann kippte das friedvolle Gefühl und wurde zu einem fatalen Friedenspakt, den du mit der Welt geschlossen hast.

Schau, was aus dir geworden ist – eine Yogaheilige! Spindeldürr, vegan unterwegs, stets lächelnd, zumindest auf deinem Facebook-Profil. Dazu redest du ständig in einer Art und Weise über dich und dein Leben, dass man vermuten könnte, du hättest dich gerade mit ein paar katholischen Kirchendogmatikern getroffen. Reinheitsgebote schmücken deinen Wortschatz: „Detox”, „entschlacken”, „reinigen”, „purifizieren”. Was bist du, Fukushima?

Wolltest du dich nicht eigentlich aufmachen und die Welt aus den Angeln heben? Yoga sollte dich dabei unterstützen. Stattdessen bist du in der Perfektionismusfalle stecken geblieben. Du musst unbedingt erst einmal deinen Körper, deine Essgewohnheiten, das innere Karma usw. usw. usw. ins Gleichgewicht bringen – bevor du dich selbst auf den Rest der Menschheit loslassen kannst. Yoga, also das westliche Yoga, ist so ein verführerisches Konzept: Hier kann angeblich die geschundene weibliche Seele heilen. Nebenbei werden ganz automatisch die Belange der Frauen vorangetrieben. So läuft es aber nicht. Das westliche Yoga ist die moderne, angeblich von der Religion losgelöste Form von Selbstverneinung und Kasteiung, das gerade Frauen dazu einlädt, es ganz besonders toll und richtig machen zu wollen.

Yoga verkommt für den guten Zweck und ist nicht mehr etwas, das der eigenen Seele gut tun soll: Yoga ist für den Weltfrieden, für die Nächstenliebe, für die Kuh, das Huhn, den Bio-Rotwein. Hinzu kommt, dass die überwiegende Zahl von Yogaklassen von Frauen unterrichtet wird, die weit davon entfernt sind, sich dem westlichen System der Gegensätze und der Selbstverachtung zu entziehen. Und die stylischen Yogalounges sind ein perfekter Ort, um den Perfektionismus- und Optimierungswahn noch einmal eine Stufe höher zu drehen. In den Städten sieht man sie mittlerweile überall, die Pinup-Yogamädchen: still, heilig und harmlos. Ich glaube, du hast die vergangenen Jahre damit vertan, dich in diesem Netz von angeblicher Freiheit zu verfangen. Statt dich zu entspannen, bist du nur noch verspannter geworden. Beim Yoga geht es dir doch häufig nur noch um die Form, weniger um die Inhalte. Du benutzt Yoga, um dich weiter zu perfektionieren. Ständig: Check and go, check and go. Das ist wie Fahren mit angezogener Handbremse.

Du lebst in einer Yoga-Bubble! Aber wir wissen doch, was früher oder später mit den Seifenblasen passiert: die Immobilien-, die Finanzseifenblase. Und als nächstes die Yogablase? Ich hoffe es. Ab und zu sammelst du Geld für eine Schule in Peru oder im Himalaya. Machst 108 Sonnengrüße auf einem großen Platz. Du bist wie die Frauen aus deinem Heimatdorf, die für den Kirchenbasar fleißig Kuchen backen, Mützchen häkeln und ein nettes Schwätzchen mit dem Pfarrer halten. Was ich mir von dir wünsche? Wieder mehr Wildheit, weniger Perfektionismus, weniger Dauerlächeln oder Mitgefühl für die ganze Welt – während du zeitgleich das Mitgefühl für dich selbst vergisst. Das Gleichgewicht dieser Welt ruht nicht auf deinen Schultern, auch wenn es sich so anfühlen mag. Lehn’ dich hinein in die Unbequemlichkeit und in den Schmerz, der entsteht, wenn andere sich eventuell von dir abwenden, weil du nicht mehr das schöne, brave Yogamädchen bist. Das wünsche ich mir von dir: Dass du Spass hast an deiner herrlich unperfekten Art, die du mit Yoga kultivieren kannst. Und nicht umgekehrt.

Ich vermisse dich, schmerzlichst sogar. Komm doch bitte wieder heim zu mir. Ich kratz dir den Mutter-Maria-Sticker von der Stirn, lass dir ein schönes Bad ein und bring dir den Rotwein, den billigen, an die Wanne. Später brezeln wir uns dann richtig auf, mit schlechtem Make-up und Maskara, der nicht wasserfest ist. Das muss sein, weil wir nach Mitternacht an der Bar unter Tränen auf unser Wiedersehen anstoßen werden. Ich will dich mal wieder hässlich weinen sehen und Zeter und Mordio schreien hören. Die Yogamatte lassen wir einfach einmal schön zu Hause.

Dicker Kuss,
Dein Ich

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