Beweglichkeit und Stabilität – dass diese beiden zusammengehören und in einem gesunden Verhältnis stehen müssen, kann man nicht oft genug betonen. PNF-Stretching ist eine Methode aus der Sportmedizin, die auch Yogis und Yoginis einen neuen Blick auf das Thema Dehnung eröffnen kann. Jelena Lieberberg erklärt dir hier, worum es sich dabei genau handelt und zeigt dir einige Übungen.
Text: Jelena Lieberberg / Foto: Gordon Schirmer
Sicher kennst du dieses herrliche Gefühl von innerer Weite und Geschmeidigkeit nach der Yogapraxis. In meiner eigenen, fast 20-jährigen Praxis bin ich durch verschiedene Phasen und durch etliche Ups and Downs gegangen, die mich zu der Schülerin und Lehrerin geformt haben, die ich heute bin. Eine dieser Phasen, die sich nach den ersten paar Jahren Vinyasa-Praxis eingestellt hat, war das Gefühl des “Überdehnt-Seins”: Mein Körper fühlte sich instabil und wie ausgeleiert an.
In dieser Zeit habe ich Kraftsport und Kampfsport für mich entdeckt. Das hat mich gelehrt, dass es in Ordnung ist, etwas Beweglichkeit einzubüßen und dafür Stabilität zu gewinnen. Ich denke, das ist ein großes Thema, gerade für all die hyperflexiblen Yoga-Elfen unter uns. Inzwischen weiß ich: Dehnung geht auch anders, als wir das im Yoga häufig kennen – mit mehr Balance von Mobilität und Stabilität. Eine Methode, die ich in diesem Zusammenhang sehr überzeugend finde, ist PNF-Stretching.
Was ist das?
PNF ist eine physio- und ergotherapeutische Behandlungsmethode für Patient*innen, deren Bewegungsabläufe durch eine Erkrankung, Verletzung, Operation oder Degeneration gestört ist. PNF steht für Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation.
Propriozepiv bezieht sich auf das propriozeptive System, also auf die gesamte Sensorik, die uns hilft, unseren Körper bewusst wahrzunehmen und anzusteuern. Neuromuskulär meint das Zusammenspiel von Nerven, Muskeln und zentralem Nervensystem, und Fazilitation bedeutet kurz gefasst die Erleichterung von Bewegungsmustern. Die PNF-Methode wurde Ende der 1940er-Jahre von einem Team von Neurophysiologen entwickelt. Die Grundidee: Durch die gezielte Stimulation von Sensoren sollen neue, bessere Bewegungsmuster angebahnt und eingeübt werden.
PNF-Stretching ist eine neuere Weiterentwicklung der Methode, die aus der Sportmedizin stammt. Hier wenden wir die PNF-Techniken gezielt an, um in einer Kombination aus Anspannung, Entspannung und Dehnung einen zu dehnenden Muskeln nicht einfach nur mobiler zu machen, sondern auch Kraft in den Endbereichen der Dehnung aufzubauen.
Wie funktioniert das?
Im PNF-Stretching gibt es zwei Grundtechniken. Die erste Methode heißt “Contract Relax” (CR). Dabei wird zunächst eine relativ bequeme passive Dehnung für 10–30 Sekunden gehalten. Danach spannt man den zu dehnenden Muskel mit einer sanften isometrischen Kontraktion an, je nach Größe der Muskeln zwischen 7 und 30 Sekunden lang.
Isometrisch bedeutet (im Gegensatz zu isotonisch), dass der Muskel in der Anspannung konstant gehalten wird und keine Bewegung erzeugt. Dafür drückst oder ziehst du den betreffenden Muskel in die entgegengesetzte Richtung als die, mit der du in die Dehnung gekommen bist. Danach wird wieder losgelassen (Relax-Phase) und 10 bis 45 Sekunden lang nachgedehnt. Dabei erreichst du typischerweise eine tiefere Dehnung. Diese Phasen können bis zu 3 Mal wiederholt werden.
Bei der zweiten Methode, “Contract Relax Antagonist Contract” (CRAC), liegt der Fokus auf Muskelpaaren, die als Gegenspieler funktionieren: Während zum Beispiel der Bizeps den Arm beugt, bewirkt sein Antagonist, der Trizeps, die umgekehrte Bewegung, also die Streckung. Im PNF-Stretching arbeitet man damit, indem man, wie bei der CR-Methode zuerst eine statische passive Dehnung einnimmt und danach isometrisch kontrahiert. Nun wird entspannt, aber anstatt dann wieder von vorn zu beginnen, wird eine neue Phase hinzugefügt: Der zu dehnende Muskel entspannt, während sein Antagonist isometrisch kontrahiert.
Klingt kompliziert? Ist es aber nur in der Theorie. Versuch es einfach einmal.
Hamstring-Stretch: Dehnung der Oberschenkelrückseiten
1. Lege dich für das passive Dehnen auf den Rücken, stelle beide Füße an und ziehe als erstes dein rechtes Bein mithilfe eines Gurtes gestreckt zu dir heran. Gehe dabei nur so weit in die Dehnung, dass du zwar einen Widerstand spürst, dieser aber noch mild und gut auszuhalten ist. Du kannst dabei das linke Bein angewinkelt aufstellen oder ausstrecken.
2. Drücke nun in der Contract-Phase deinen rechten Fuß 10–20 Sekunden lang aktiv gegen den Gurt. Lasse danach los.
3. Bewege jetzt zum Aktivieren des Antagonisten deinen rechten Fuß vom Gurt weg und zum Körper hin, arbeite dabei nur aus der Kraft deines Beins und nicht mithilfe der Hände. Halte diese Spannung 10–20 Sekunden lang. Lasse danach los.
4. In der Relax-Phase versuchst du, ob du die Position vertiefen kannst, indem du wieder bewusst loslässt. Wiederhole das Ganze auf der anderen Seite.
Piriformis-Stretch: Gesäß-/Piriformisdehnung im Drehsitz
1. Richte den Drehsitz mit einer moderaten Dehnung ein: Der rechte Fuß steht außen am linken Oberschenkel, du richtest die Wirbelsäule auf und drehst den Oberkörper aus eigener Kraft (ohne mit den Armen zu hebeln) behutsam nach rechts. Dabei darf der rechte Sitzknochen abheben. Spüre hin, wo im Körper du in dieser Position Dehnung wahrnehmen kannst. Wir wollen hier mit der einfachen CR-Methode den birnenförmigen Muskel (Piriformis) ansprechen.
Er liegt unter dem großen Gesäßmuskel und verläuft quer vom Kreuzbein zum Oberschenkelkopf. Da er an fast allen Beinbewegungen beteiligt ist, hat er häufig einen hohen Tonus, ist verdickt oder verkrampft und kann auf den Ischiasnerv drücken.
2. Lege beide Hände außen an das aufgestellte Bein, übe mit dem Bein 10 Sekunden lang Druck gegen die Hände aus und leiste mit den Armen Widerstand (Contract-Phase).
3. Lasse diese Spannung bewusst wieder los und spüre, ob du tiefer in die Dehnung hineinkommst. Dabei drehst du nicht unbedingt intensiver, sondern du bewegst angestelltes Bein und Oberkörper dichter zueinander. Anschließend wiederholst du die drei Übungsschritte auf der anderen Seite.
Couch-Stretch: Dehnung der Oberschenkelvorderseiten
1. Auch beim Couch-Stretch beginnen wir mit der passiven Dehnung. Dafür legst du deine Matte vor dein Sofa und richtest dir den tiefen Ausfallschritt so ein, dass du dein hinteres Bein anwinkeln und dabei den Fußrücken entspannt am Polster anlehnen kannst. Die Hände kannst du am Boden oder erhöht auf Blocks aufsetzen.
2. Ziehe nun in der Contract-Phase aktiv dein hinteres Knie gegen den Widerstand der Matte nach vorne. Es bewegt sich dabei nicht wirklich (isometrische Kontraktion). Halte diese Spannung 10–20 Sekunden lang. Dann löst du die Kontraktion möglichst vollständig.
3. Um nun aktiv die Gegenspieler-Muskeln, nämlich die Beinrückseiten, zu aktivieren und dadurch die Dehnung der Oberschenkelvorderseiten zu intensivieren (Antagonist Contract), drückst du den hinteren Fuß gegen das Sofa und schiebst dabei gefühlt das Becken nach vorne.
4. Wenn du die Anspannung jetzt bewusst wieder loslässt, kannst du spüren, ob dich dein Atem tiefer in die Dehnung der Oberschenkelvorderseite bringen kann. Lass dir Zeit. Dann löst du die Haltung auf und wiederholst die Übung auf der anderen Seite.
Frog-Stretch: Dehnung der Oberschenkelinnenseiten
1. Richte die Froschhaltung so ein, dass du eine moderate Dehnung an deinen Beininnenseiten spürst – je weiter der Abstand der Knie, desto intensiver wird sie. Achte dabei darauf, dass deine Knie nicht schmerzen. Zum einen kannst du eine Decke unterlegen, viel wichtiger aber ist, dass du zu ihrem Schutz die Zehen Richtung Knie ziehst.
Die Unterschenkel sind etwa parallel zueinander ausgerichtet, das Becken sinkt mittig zwischen den Knien nach unten.
2. Ziehe jetzt für die Contract-Phase deine Oberschenkelinnenseiten aktiv zueinander. Du kannst dir dazu vorstellen, dass sich die Knie wie durch den Boden zur Mitte hin bewegen wollen – obwohl sie sich nicht von der Stelle rühren. Halte diese Spannung 10 Sekunden lang, dann löst du sie bewusst und möglichst vollständig.
3. Um die Antagonisten der Oberschenkelinnenseiten, nämlich die Oberschenkelaußenseiten, zu aktivieren (Antagonist Contract), stellst du dir vor, deine Knie nach außen hin vom Boden abheben zu lassen. Auch diese Aktivität hältst du etwa 10 Sekunden lang.
4. In der abschließenden Relax-Phase lässt du wieder alle Anspannung los. Dein Becken darf sinken und du kannst, wahrnehmen, ob du mithilfe der PNF-Technik deinen Frosch auf ausgewogene Weise vertiefen kannst. Anschließend lockerst du die Beine, zum Beispiel indem du sie in Rückenlage nach oben streckst und ausschüttelst.
Jelena Lieberberg kennst du sicher aus ihrer Kolumne “Dies. Das. Asanas“, in der die Yogalehrerin, Heilpraktikerin und Osteopatin in jedem Heft innovative Variation zu beliebten Asanas vorstellt – nicht ohne Grund eine der beliebtesten (und die am längsten laufende!) Artikelreihe unseres Magazins. Ihre eBooks, Retreats und Workshops findest du unter kickassyoga.com oder besuche Jelena auf Insta @kickassyoga.
Jelena Lieberberg war vor einiger Zeit auch bei uns im Interview: