Alignment Check mit Timo Wahl: Weniger ist mehr – die wichtigsten Prinzipien der Dehnung

Beweglichkeit erfordert Dehnung – aber die erreichen wir gerade nicht, indem wir uns anstrengen, sondern indem wir uns Zeit lassen. Hier erklärt Timo Wahl die wichtigsten Prinzipien der Dehnung.

Text: Timo Wahl / Fotos: Katrin Schander

Wir alle haben im Leben wohl die Erfahrung gemacht, dass ein gewisses Maß an Engagement nötig ist, um die erwünschten Resultate zu erreichen. Sprüche wie “No pain, no gain” haben auch oft ihre Berechtigung. Betrachten wir zum Beispiel den Körper, dann wissen wir: Ohne regelmäßigen Sport oder überhaupt genügend Bewegung, ohne ausreichend Schlaf und eine gesunde Ernährung wird unser Organismus irgendwann nicht mehr viel Leistung zur Verfügung stellen. Dann verlieren wir den Muskelapparat, den wir vielleicht einmal hatten, merken es aber nicht und sagen über uns selber: “Ich war mal Leistungssportler*in, für mich ist diese Übung kein Problem …”

Ziemlich anders sieht die Sache jedoch aus, wenn wir von unserem Körper nicht Muskelkraft fordern, sondern Weite und Beweglichkeit. Hier geht es nämlich gerade nicht um Anstrengung, sondern um Aufmerksamkeit: Damit Dehnübungen wirklich wirksam werden können, müssen wir Geduld aufbringen und uns eine innere Erlaubnis geben loszulassen. Trotzdem sehe ich im Unterricht immer wieder, wie viele meiner Schüler*innen ziehen, zerren und schnaufen – mit dem Erfolg, dass genau dieser am Ende ausbleibt. Deswegen möchte ich dir in dieser Folge meiner Kolumne die Grundparameter aufzeigen, die deinen Körper veranlassen, dem Wunsch nach mehr Flexibilität nachzukommen.

Timo Wahl Bein Dehnung im Sitzen

Dehnung – was ist das eigentlich?

Muskel und Bindegewebe sind als untrennbare Einheit fest miteinander verbunden. Jeder Muskel besitzt einen sogenannten Grundtonus – also eine bestimmte Spannung, die auch dann vorhanden ist, wenn wir uns eigentlich in einem entspannten, also einem ruhigen inneren Zustand befinden. Eine ähnliche Grundspannung besitzt auch das Bindegewebe, wobei das nicht direkt auf Nervenreize reagiert, sondern auf Stresshormone und die Konzentration an CO2 im Blut.

Die Spannung beider Systeme entscheidet gemeinsam darüber, wie flexibel wir sind – wie groß also der Bewegungsradius ist, den ein Muskel darstellen kann. Um die Beweglichkeit nun zu erhöhen, muss zunächst der meist erhöhte Grundtonus des Muskels reduziert werden. Schon ein stressiger Tag hat oft eine Erhöhung dieser Spannung zur Folge, wodurch bei Dehnung zunächst gegen die Spannung des Muskels gearbeitet wird. Er muss also erst in seinen Ruhetonus zurückfinden, damit das “passivere” Bindegewebe nun ebenfalls einen Dehnreiz erfahren kann. Zum Reduzieren dieser Muskelspannung haben wir vier Möglichkeiten:

1. Dehnung bis kurz vor den Widerstand

Wenn wir einen Muskel bis zu einem Punkt dehnen, den wir als Widerstand empfinden, erhöht sich die Eigenspannung des Muskels durch einen Schutzreflex (Reflexbogen). Arbeiten wir also zu intensiv, erhöht sich die Spannung sogar!

2. Anspannung des Gegenspielers (Reziproke Hemmung)

Um große Bewegungen zu erleichtern, hat sich die Natur einen Trick ausgedacht. Spannt man den Gegenspieler eines Muskels an, so reduziert sich automatisch die Spannung des Zielmuskels. Dehnt man beispielsweise die Beinrückseite, so reduziert sich deren Spannung, wenn man gleichzeitig die Beinvorderseite anspannt.

Timo Wahl Dehnung in Janu Shirshasana

Lesetipp: Mehr von Timo Wahl über die Ausrichtung in Vorwärtsbeugen findest du in seinem Artikel “Gestreckt – oder doch lieber rund?”

3. 3- bzw. 25-Sekunden-Regel

Der als Schutzreflex gedachte Mechanismus der reziproken Hemmung greift erst nach rund 3 Sekunden. Wird die Dehnung danach bewegungslos gehalten, endet er nach weiteren 25-30 Sekunden. Man kann also entweder für maximal 3 Sekunden bis zum Widerstand dehnen, um danach das Bein zu entlasten und den Vorgang zu wiederholen oder man hält die Dehnung am Widerstandspunkt (ohne weiter zu bewegen) und der Reflex lässt nach 25-30 wieder nach.

4. Passive Dauerdehnung

Hier wird ein sehr moderater Dehnreiz über mehrere Minuten hinweg gehalten. Vor allem im Yin Yoga und Iyengar Yoga arbeitet man oft mit dieser Technik. Das Ergebnis ist eine Längung von Muskel und Bindegewebe. Allerdings geht die mit einer solchen Senkung der Grundspannung einher, dass man bis zu mehrere Minuten lang pausieren muss, bevor man wieder mit Kraft üben kann, weil das Gewebe danach nur schlecht wieder Spannung aufbaut.

Fazit:

Bei Dehnübungen geht es immer darum, das jeweils ideale Maß an Intensität zu finden. Arbeiten wir zu engagiert, reagiert unser System sogar entgegengesetzt zu unserem Wunsch nach Weichheit und Entspannung.


Kurse, Retreats, Ausbildungen und den Podcast von TIMO WAHL findest du unter: www.timowahl.de


Kleine Kobra, große Kobra – oder beides? Im letzten Teil von Timos Kolumne ging es um die Wirkung der verschiedenen Kobra-Variationen:

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