Yoga kann sehr viel mehr beinhalten als das Üben auf der Matte oder dem Meditationskissen. Herbst und Winter sind eine wunderbare Zeit, um in die Stille zu gehen und sich auf den Pfad der philosophischen Übungspraxis zu begeben: Jnana Yoga.
Text: Rina Deshpande / Titelbild: Tim Stief via Unsplash
Wenn sich unsere Erdhalbkugel gegen Ende des Jahres wieder von der Sonne weg neigt, zieht der Winter ein. Die Tage werden kürzer und dunkler, die Welt liegt oft unter einer dicken Wolkendecke und die Temperaturen sinken. Ganz ähnlich wie Bären oder Fledermäuse, die jetzt Winterschlaf halten, sehnen sich auch unsere menschlichen Körper nach Ruhe und innerer Einkehr. Diese Verbundenheit zwischen dem eigenen Körper und den Lebenszyklen der Tiere und Pflanzen – der gesamten Erde – sollten wir gerade auch als Yogi*nis wahrnehmen und würdigen.
Anstatt also einem so natürlichen Muster wie dem Wunsch nach winterlichem Rückzug zu widerstehen, sind wir eingeladen, uns ganz bewusst dem universellen Lauf der Jahreszeiten hinzugeben. Die kalten, dunkleren Perioden sind nämlich auch eine wunderbare Gelegenheit, zu regenerieren, uns wieder deutlicher mit dem eigenen Inneren zu verbinden und in Ruhe zu reflektieren und zu lernen. In der Tradition des Yoga hat diese geistige Praxis, bei der wir höheres Wissen erlangen und weiser werden wollen, eine besonderen Platz – und einen Namen: Jnana Yoga.
Darum geht es im Jnana Yoga

Im modernen Yoga werden die Lehren der alten Schriften, also die Yogaphilosophie, häufig in die körperliche Asana-Praxis integriert, genauso kombiniert man sie auch mit Ayurveda, der alten indischen Heil- und Lebenskunst. Diese Verbindung von körperlicher und philosophisch-spiritueller Praxis ist nicht unbedingt falsch. Dennoch ist es, glaube ich, wichtig, dass Übende und Lehrende verstehen, wie die Lehre ursprünglich einzelne Übungswege voneinander unterschieden hat:
Noch älter als Hatha Yoga oder auch die acht Glieder des Raja Yoga, zu denen ebenfalls körperliche Übungen gehören, sind drei weitere Formen von Yoga. Sie werden schon in den frühesten Yogaschriften und in den mündlich wiedergegebenen Lehren beschrieben: Karma Yoga (der Weg des selbstlosen Handelns im Dienst an der Natur und anderen Wesen), Bhakti Yoga (der Weg der hingebungsvollen Liebe und Gottesverehrung) und eben Jnana Yoga (der philosophische Übungsweg von Studium, Erkenntnis und Weisheit). Keiner dieser Wege ist besser oder schlechter als die anderen: Alle vier Formen von Yoga sind geeignet, die Übenden zu einem besseren Verständnis ihres wahren Selbsts zu führen und der spirituellen Befreiung (Moksha) näherzubringen.
Die Jnana-Yogapraxis sollte in der Lebenserfahrung wurzeln
Jnana Yoga ist dabei nicht unbedingt die naheliegendste Wahl: Viele von uns haben nach Schule und Ausbildung aufgehört, bewusst zu lernen, ihren Geist zu weiten und Wissen anzusammeln. Dabei steht uns das Lernen ein Leben lang offen und bietet uns zahllose Gelegenheiten, unsere wahre Natur und das Leben besser zu verstehen. Diese vielen großen und kleinen Erkenntnisse auf dem Weg zu Weisheit sind der eigentliche Sinn von Jnana Yoga. Ein wichtiger Bestandteil dieses Yogawegs ist das Studium der alten Schriften, aber dabei geht es nicht so sehr um das Anhäufen von Informationen oder um theoretisches Lernen. Es wird dich nicht viel weiterbringen, Patanjalis Sutras auswendig rezitieren zu können. Damit man die Lehren dieser Schriften wirklich durchdringen kann, sollte das Studium in der eigenen Lebenserfahrung wurzeln und von der ehrlichen Intention getragen sein, nach den universellen Wahrheiten zu streben.
Diese Verankerung in der eigenen Lebenswirklichkeit und die Anbindung an eine aufrichtige Motivation sind wichtig, denn das reine Anfüttern der intellektuellen Intelligenz geht oft damit einher, dass sich das Ego aufbläht. Jnana Yoga ist daher im Idealfall keine intellektuelle Gymnastik, sondern eine feine, achtsame Praxis, bei der man die eigenen Gewohnheiten und Muster beobachtet und ganz besonders auch solche Fallstricke wie Stolz, Ehrgeiz und Überheblichkeit aufspürt. Nur so können das Studium und das erworbene Wissen auch wirklich ins Leben hineinwirken und uns helfen, unsere angeborene Weisheit zu entfalten.

Jnana Yoga in der Bhagavad Gita
Sicher hast du hier auf der Seite oder im YOGAWORLD JOURNAL schon einmal etwas über die Bhagavad Gita gelesen oder im Yogaunterricht davon gehört. In dieser über 5000 Jahre alten Hindu-Schrift, deren Titel wörtlich übersetzt “Gottes Lied” bedeutet, unterweist der Gott Krishna den Prinzen und Krieger Arjuna, der im Begriff ist, in eine große Schlacht zu ziehen. Die 700 Verse umfassende Unterweisung ist eingebettet in ein großes indisches Epos, das Mahabharata. Innerhalb dieser ausufernden Erzählung über den Krieg zwischen zwei rivalisierenden Familienzweigen bildet die Gita eine Art philosophische Unterbrechung: Hier wird das Schlachtfeld der Kriegserzählung zum Symbol für die moralischen und ethischen Dilemmas, mit denen wir Menschen seit jeher zu kämpfen haben.
Der Rat, den Krishna dem hin- und hergerissenen Helden Arjuna erteilt, ist ein Kernstück der yogischen Philosophie: Es legt die Herausforderungen dar, die ein Leben in Dualitäten mit sich bringt, und zeigt auf, dass sich hinter all den Trennungen in Gut und Böse, angenehm und unangenehm, Anziehung und Abscheu, die Wahrheit von Non-Dualität, von Verbundenheit und Einheit verbirgt.
Lies dazu auch: “Die Bhagavad Gita: Ein Krieger auf der Suche nach Frieden“
Stetiges Lernen als Notwendigkeit
Das vierte Kapitel der Bhagavad Gita ist Jnana Yoga, dem Weg der Weisheit, gewidmet. Darin berichtet Krishna gleich eingangs, dass er sein göttliches Wissen an den Sonnengott weitergegeben habe, der es wiederum an jene Menschen vermittelt habe, die auf der Suche nach Erkenntnis waren. Doch irgendwann sei dieses unvergängliche Wissen den Menschen verloren gegangen. Stetiges Lernen und die kontinuierliche Weitergabe von Wissen werden also als unbedingte Notwendigkeit, als eine heilige Handlung beschrieben. Entsprechend gilt das Lernen im Hinduismus – wie auch in vielen anderen Religionen – als eine wichtige spirituelle Praxis. Zu der wird es aber nur, wenn die Absichten stimmen.
In Vers 23 erklärt Krishna die Bedeutung der Intention, nicht nur fürs Lernen sondern auch für jede Art von Handeln: Nur wenn sie nicht persönlichen Vorlieben und Vorteilen, sondern dem Höchsten (oder: dem Göttlichen) gewidmet sind, bringen sie uns auf dem Weg der spirituellen Befreiung voran. Im Sanskrit-Vers klingt das so:
गतसङ्गस्य मुक्तस्य
ज्ञानावस्थितचेतस: |
यज्ञायाचरत: कर्म समग्रं
प्रविलीयतेgata-sangasya muktasya
jnanavasthita-chetasah
yajnayacharatah karma
samagram praviliyate
– Bhagavad Gita 4,23
Frei übersetzt bedeutet dieser Vers, dass all jene, die ihre Handlungen dem Höchsten widmen, frei werden von den menschlichen Anhaftungen und deren karmischen Folgen. Auf diese Weise wird ihr Geist dauerhaft in der universellen Weisheit verwurzelt sein.
Über die Erkenntnis zur Befreiung
Diese Weisheit ist der eigentliche Kern von Jnana Yoga: Es geht um eine tiefe Form der Erkenntnis, in der wir Freiheit finden können und die unserem Handeln wirklich Sinn verleiht. In Vers 33 heißt es daher: Das höchste Ziel allen Handelns ist die Weisheit. Aber auch schon auf dem Weg dorthin gibt es viel zu gewinnen: Wenn wir die geistige Praxis einbetten in unser alltägliches Yoga und in unsere Lebenswirklichkeit, führt sie uns auf einen Pfad der Selbsterkenntnis und Erkenntnis – und damit in eine ganzheitliche Erfahrung von Spiritualität.
Unsere weise alte Erde neigt sich zur Seite und lässt es auf der nördlichen Halbkugel Winter werden. Damit schenkt sie uns eine Zeit der Regeneration und Reflexion, eine Zeit der Tiefe und des stillen Studierens und Lernens. Jetzt haben wir eine besonders schöne Gelegenheit, es uns gemütlich zu machen und uns in der Jnana-Yogapraxis mit unserem wahren Selbst zu verbinden.

So übst du Jnana Yoga
Neben der streng asketischen Tradition, wie sie der antike indische Yogi Adi Shankaracharya begründet hat, gibt es zahllose weitere Möglichkeiten, Jnana Yoga zu praktizieren. Mit diesen einfachen und alltagstauglichen Vorschlägen möchte ich dich ermutigen, deinen eigenen Weg zur Weisheit zu erkunden.
1. Reinige Körper und Geist
Viele Yogatechniken und alle drei anderen traditionellen Wege von Yoga können dein Studium der alten Schriften, dein Jnana Yoga, wirksam unterstützen: Reinigende Atemübungen wie Kapalabhati oder Kriya Pranayama helfen, deinen Geist zu klären und ihn auf die Aufnahme von Wissen vorzubereiten. Karma Yoga in Form von tatkräftiger Nächstenliebe kann dein Herz öffnen und dir ermöglichen, die Weisheitslehren im täglichen Leben zu verankern und dadurch tiefer zu verstehen. Bhakti Yoga in Form von Mantra-Singen trägt gerade im Winter dazu bei, dein Energie-Level zu heben, damit du die Konzentration besser halten kannst.
2. Widme dich für bestimmte Zeiten dem Studium
Ganz egal ob du dich dafür entscheidest, die Bhagavad Gita eingehender zu studieren, oder dir einen anderen Text aus der Yogaphilosophie, aus Hinduismus, Buddhismus oder einer anderen Tradition aussuchst: Denke immer daran, dass das Lernen kein Wettlauf zu deiner Vervollkommnung ist. Viel mehr als um schnelle Wissensaneignung geht es um Regelmäßigkeit, Hingabe und reine Intentionen. Meine Mutter beispielsweise beschäftigte sich mit einer Gruppe von Frauen volle fünf Jahre lang mit einem kleinen Abschnitt der Puranas. Sie trafen sich jede Woche mit einer Upadhyayani, einer gelehrten Frau der Hindu-Gemeinde. Eine solche Lerngruppe oder auch feste Zeiten alleine helfen dir, deiner Jnana-Yogapraxis Beständigkeit zu geben.
3. Wähle deine Lehrer*innen sorgfältig aus
Sich die alten Texte in ihrer ganzen Komplexität und Rätselhaftigkeit ohne fachkundige Anleitung zu erschließen, ist kein einfaches Unterfangen – erst recht wenn dir der kulturelle und historische Kontext fehlt. Auch traditionell wurde die Yogaphilosophie immer im direkten Lehrer-Schüler-Kontakt vermittelt. Es ist wunderbar, dass spezielle Internetkurse, Retreats und Workshops die alten Lehren heute überall auf der Welt so leicht zugänglich machen. Gleichzeitig sollten wir nicht unterschätzen, wie häufig sich Menschen nach Anerkennung, Macht und Einfluss sehnen – und dann tritt die authentische Suche nach Erkenntnis sehr schnell in den Hintergrund. Die Entscheidung, sich einem Lehrer oder einer Lehrerin anzuschließen, ist keine kleine Sache, genauso wenig wie die Verantwortung als Lehrperson. Lass dir Zeit, hör dich um, spüre genau hin – und wenn du offen dafür bist, bitte um göttliche Führung.
4. Gehe in die Stille
Natürlich arbeitet der Geist beim konzentrierten Studium auf Hochtouren – vergiss dabei aber nicht, dass Intellekt und verstandesmäßiges Wissen etwas völlig anderes sind als Weisheit. Lass dir deshalb Zeit, mache immer wieder Pausen, lasse das Gelesene in der Stille wirken und gib dabei auch deinem Herzen und deinem Körper Gelegenheit, die Inhalte deines Studiums zu integrieren. Für mich ist das der Aspekt, den ich beim Jnana Yoga am meisten genieße.

Rina Deshpande lehrt, forscht und schreibt seit über 15 Jahren über Yoga und Achtsamkeit. Ihre Artikel erschienen bei uns, Huffington Post, Self Magazine und vielen anderen. Mehr Infos auf rinathepoet.com oder Instagram @rinathepoet
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