Verträumt und lakonisch, zart und bodenständig, hochkonzentriert und auf jeden Fall besonders: So erlebte YOGA JOURNAL die vielseitige Künstlerin Meret Becker im Interview. „Lügen und andere Wahrheiten“ heisst ihr neuer Film, und auch das Gespräch dreht sich vor allem um Gratwanderungen – im Leben und in der Kunst.
Meret, angesichts Ihres neuen Films verpflichtet uns dieses Interview zu besonderer Wahrhaftigkeit …
Noch spannender ist für mich zu sehen, wie originell ich antworte. Ich erlebe Interviewtage oft so: Erst sucht man ständig nach Worten, und irgendwann weiß man, was man zu dem Thema sagen kann oder möchte. Dann ist es allerdings bald an der Zeit, aufzuhören. Man muss aufpassen, dass man nicht immer das Gleiche sagt. Die Entdeckung soll nicht vorbei sein, denn sie ist wesentlich interessanter, als etwas zu wissen. Heute habe ich mir zum Beispiel schon fünfmal gesagt: Du Lügnerin, du wiederholst dich!
Womit wir beim Thema wären. Ihr neuer Film „Lügen und andere Wahrheiten“ stellt die Frage, ob es verschiedene Abstufungen von Ehrlichkeit gibt und wo jeweils die Grenze liegt. Inwiefern gilt das für Sie als Künstlerin?
Ja, wo fängt das an? In der Schauspielerei, besonders bei Dreharbeiten, in deren Rahmen man Szenen wiederholen kann? Bleibt dann das „echte“ Gefühl? In diesem Fall haben wir einen Improvisationsfilm gemacht und sind sehr ehrlich in die Situationen gegangen. Generell habe ich den Anspruch, eine Szene so zu vermitteln, als sei sie gerade erfunden. Oder gerade gefunden. Man muss immer sich selbst überraschen, dann bleibt man authentisch.
Es gibt die Auffassung, dass die künstlerische „Lüge“ näher an die Essenz der Dinge kommen kann als das so genannte „wahre“ Leben. Ihre eigene Kunst hat viele Gesichter: Film, Theater, Musik,
Varieté. Wägen Sie diese in puncto Authentizität manchmal gegeneinander ab?
Worüber ich mir immer im Klaren bin, das sind der Inhalt, den ich vermitteln möchte, und die Reaktion, die ich mir darauf wünsche. Die Wege dorthin variieren sehr, gehen in Richtung Zirkus, Entertainment, Chanson … Natürlich macht es auch einen Unterschied, ob ich wie beim Film im Team arbeite, mit Musikern auf der Bühne stehe oder wie bei meinem neuen Album „Deins & Done“ ganz loslasse und die ganze Stimmung ohne Performance nur noch in
den Song gebe.
Erleben wir hier eine ganz „echte“ Meret?
Alles, was ich tue, ist immer sehr persönlich und aus meinen Gedanken und Hintergründen entstanden. Bei „Deins & Done“ kommt vieles in der Tat sehr pur zum Vorschein. Ich singe viel Country und Bluegrass – Stile, in denen typischerweise ziemlich direkt das gesagt wird, was gefühlt wird. Da überschneiden sich bei mir Ausdruck und innere Einstellung. Das heißt aber nicht, dass ein Film wie „Lügen“ weniger wahrhaftig ist, weil der Film von Regisseurin Vanessa Jopp ist und ich lediglich ihr Werkzeug bin.
Auf der Suche nach mehr Wahrhaftigkeit oder auch Freiraum in ihrem Leben praktizieren einige Figuren in „Lügen“ Yoga. Was treibt Ihre Figur Coco in den Unterricht?
Coco ist eine wahnsinnig verspannte Perfektionistin, der Typ Frau, der es allen recht machen will: Sie ist erfolgreiche Zahnärztin, will ein perfektes Zuhause, perfekte Ehefrau und Tochter sein. Zusätzlich macht sie halt auch noch Yoga, damit ihr Körper fit, gesund und gut aussieht. Sie macht es zusammen mit ihrer besten Freundin, gespielt von Jeannette Hain, die offenbar mehr Anspruch hineinträgt und die Grundlagen kennenlernen will. Coco hat dazu gar keine Zeit. Was sicher konträr gegen Yoga läuft – wenn man nicht die Zeit hat, sich damit auseinanderzusetzen.
Beschäftigen Sie sich selbst mit der Praxis?
Nach meiner Erfahrung sehe ich sie als tolle Bewegungsform und ja, als Sport, obwohl ich weiß, dass es sich um eine Philosophie handelt. Die kenne ich allerdings nicht. Damit geht die Lüge natürlich los: Yoga üben und sich nicht wirklich damit auseinandersetzen. Da überspringt man sicher etwas. Rein körperlich ist Yoga wunderbar für Leute wie mich: Ich mache Artistik, da ist es gut, etwas Weicheres zu üben, in die Bewegung hinein zu atmen und den Körper gesünder zu manchen Dingen zu führen als in der Akrobatik. Dazu ist es gut für Leute, die gar keinen Sport machen, ältere Menschen, Kinder …
Der umschwärmte und vermeintlich so integere Yogalehrer Andi, gespielt von Florian David Fitz, bildet ein wichtiges Zentrum des Films. Die Frauen, die in seine Stunde kommen, berauschen sich fast an seiner vorerst ungebrochenen Tiefgründigkeit. Brauchen wir auf unserer Suche nach mehr Tiefe solche Erlöserfiguren, Stichwort: „Gurus“?
Das ist eine Charakterfrage. Es gibt sicher Menschen, die sich Inspiration von Gurus holen können. Ich habe diese Tendenz überhaupt nicht. Es wird so viel Inneres nach außen getragen, genau wie früher in den Religionen, dabei dient all das doch dem Gegenteil – habe ich zumindest immer gedacht. Ich glaube, dass die Menschen Rituale brauchen, ebenso wie Zauber. Wir wollen wegzaubern, was wir nicht wollen, wie bei der Beichte oder der Gedankenkiste beim Therapeuten, in der wir alles Lästige verstauen und später nochmal anschauen können. Wir brauchen Philosophien, Tradition und Rituale: Das nennen wir „Kultur“. Und wenn wir uns verrannt haben oder an etwas verzweifeln, suchen wir uns etwas Neues: Gurus, Yogalehrer, die versuchen, all das neu zu erfinden. Ich weiß allerdings nicht, ob das wirklich nötig ist.
Unsere Identität ist von Geburt an auch durch äußere Einflüsse und Erwartungshaltungen bestimmt. Yoga kann uns davon entspannen und Momente bereiten, in denen wir spüren: In mir gibt es etwas Beständiges, das keiner Prägung unterworfen ist.
Tja, ab wann erfinde ich mich selbst? Wann bin ich real? In Pedro Almodóvars Film „Alles über meine Mutter“ erzählt ein Transsexueller von den Operationen, die er unternahm, um authentischer zu sein, also als Frau leben zu können. Für viele ist das ein künstlicher Vorgang und nicht natürlich. Aber was soll „real“ bedeuten? Ganz natürlich sind wir direkt nach unserer Geburt, aber dann geht es ja schon los. Bekommt das Kind einen Ball oder eine Puppe geschenkt? Eine extrem spannende Frage, die man nicht beantworten, sondern nur mit Emotionalität ausmachen kann.
Und mit dem persönlichen Ausdruck?
Ich zum Beispiel denke regelmäßig darüber nach, meine Nase verändern zu lassen. Doch dann denke ich: Mensch, das bin doch ich, diese Nase hatte meine Oma schon, und ich bin so stolz auf meine Oma, da kann ich doch nichts an dieser Nase machen lassen. Ach, aber was wäre schon dabei? Und so weiter …
Gibt es für Sie einen Gegensatz zwischen Kunst und Natur?
Als ich ein Jahr in Brandenburg auf dem Land lebte, konnte ich erstmals die Natur in all ihren Facetten und Jahreszeiten kennenlernen. Es war irre, zu sehen, wie viele Sorten Tau, Sonne und Nebel es gibt. In der Natur verstreicht die Angst vor dem Tod. Man weiß plötzlich, warum man ist. Kunst empfinde ich vor allem als Ausdruck von Emotion. Man versucht, Emotion einzufangen und so reproduzierbar zu machen, dass sie die Menschen in dem Moment wieder trifft, in dem sie das Bild betrachten, die Zeilen lesen oder den Klang hören. Für einen Moment können die Menschen dann das zurückbekommen, was sie ohnehin in sich tragen. Das finde ich auf freundliche, herzliche Weise subversiv.
Sind Sie ein strukturierter Mensch oder brauchen Sie kreatives Chaos?
Einerseits bin ich sehr sortiert, ich mache zum Beispiel immer Konzeptalben. Ich liebe Chaos, aber meine Wohnung muss ordentlich sein. Vor allen Dingen brauche ich Ruhe. Chaos und Hektik haben für mich nichts miteinander zu tun. Ich versuche immer, genau in meiner Zeit zu sein. Ich bin Spezialistin für ausgefeilte To-Do-Listen, habe aber das Gefühl, immer hinterherzuhinken. Wenn ich sie Wochen später wiederfinde, merke ich, dass ich doch alles
erledigt habe. Bei der Produktion meines neuen Albums hatte ich das erste Mal seit langer Zeit das Gefühl, in meiner Zeit zu sein. Einmal war ich krank und nutzte die Zeit, mit meinem Gitarristen Buddy Sacher in Klausur zu gehen. Drei Tage habe ich nichts anderes gemacht, als ihm zuzuhören, die Songs zu entwickeln, ohne Gedanken an etwas anderes. Ich kann mir gut vorstellen, dass im Yoga so etwas passiert. Ich glaube, dass alle genau das suchen: sich im Jetzt wohlzufühlen. Man sollte nichts hinterherheulen und nicht irgendwohin rennen müssen. Man sollte hierbleiben.
Direkt hineingehen statt sich auszuklinken? Könnte das auch Aufgabe von Kunst sein: Mitten im Leben und nicht auf einer entrückten Ebene stattzufinden?
Könnte sein. Dabei muss ich an eine Bekannte denken, die gleichzeitig sehr vieles angefangen hat: Meditation, Buddhismus, chinesische Medizin, Yoga. Dann waren wir gemeinsam in Japan, und sie hat kaum Zeit mit den Japanern verbracht, sondern sich immer zur Meditation zurückgezogen. Yoga und Kunst können uns auf unserem Weg helfen, aber letztlich muss man sich selber darum kümmern, wie man wohin kommt.
Ist Ihnen die sehr lebensnah wirkende Improvisation bei den Dreharbeiten zu „Lügen“ entgegengekommen?
Ich kämpfe damit, aber ich finde es toll. Vanessa Jopps System beruht auf Improvisation und gleichzeitig auf einem klaren Gerüst, durch das sie die Schauspieler ganz sicher führt und auch ganz sicher eine vorher festgelegte Geschichte erzählt – das ist sehr wichtig für mich. Ich hasse es nämlich, Privates in eine Rolle zu bringen. Ich möchte etwas vermitteln und mich austauschen, aber das heißt nicht, die Hosen runterzulassen. Von mir gibt es etwas Durchdachtes. Ich zeige Ausschnitte aus meinem eigenen Erfahrungsschatz, von Menschen und ihrem Verhalten. Unsere Regisseurin hat etwas, von dem man denkt, dass es nicht durchführbar sei, auf eine solide Basis gestellt. Das Ganze war jedoch logistischer Wahnsinn, in dem die Schauspieler sehr wenig voneinander und von ihren Rollen wussten und chronologisch gedreht wurde. Dann musste noch gewährleistet werden, dass wir uns in unserer
Improvisation dahin bewegen, wo Vanessa uns haben wollte.
Wie man liest, setzte sie dabei durchaus kleine Lügen ein. Ist ein Leben komplett ohne Lügen vorstellbar?
Letztlich kommt man darum nicht herum. Man vermeidet Lügen, die sehr verletzen können. Das kann Leben kosten. Genauso kann die Wahrheit tief verletzen. Lüge entsteht aus einem Schutzbedürfnis. Für mich wird es brutal, wenn ein Mensch um sein Gefühl betrogen wird, wenn man ihm seine innerste Empfindung abspricht.
Für ihre Arbeit als Schauspielerin („Kleine Haie“, „Rossini“, „Feuchtgebiete“, „Tatort“), Komponistin, Sängerin, Live-Künstlerin und Produzentin ist Meret Becker mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Ihr neuer Film „Lügen und andere Wahrheiten“ lief 2014 in den Kinos und ist ab 5.3.2014 als DVD im Handel erhältlich. Die DVD verlosen wir übrigens pünktlich zum Verkaufsstart! Im September 2014 erschien ihr sechstes Album „Deins & Done“, das laut Meret Becker „nicht nur die erfüllte, sondern vor allem die gescheiterte Liebe portraitiert“.
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