“Nahe Feinde”: Wenn uns vermeintlich positive Geisteshaltungen in die Irre führen

Manche Dinge sind nicht so, wie sie scheinen. Im Buddhismus gibt es einen hilfreichen Begriff für vermeintlich positive Zustände, die uns in Wirklichkeit aber in die Irre führen: “Nahe Feinde”. Hier liest du, wie du mit ihnen arbeiten kannst.

Text: Ulrich Hoffmann / Titelbild: Choi Dongsu von Getty Images via Canva

Falsche Freunde kennen wir wohl alle: Da sind zum Beispiel die Leute, die hinter deinem Rücken fiese Dinge erzählen. Oder welche, die einen im Job kaltlächelnd ans Messer liefern. Deutlich weniger schlimm sind die falschen Freunde, von denen man bei den Sprachkenntnissen manchmal spricht: Das englische Verb “to become” zum Beispiel bedeutet dummerweise gerade nicht “bekommen” und wer im Ausland “Chips” bestellt, kriegt meist Pommes.

Ebenso verwirrend, aber weit weniger lustig sind die falschen Freunde, um die es in diesem Artikel gehen soll: Emotionen oder Geisteshaltungen, die erstrebenswerten Gefühlen auf den ersten Blick ähnlich sehen, uns aber gründlich in die Irre führen können. Im Buddhismus gibt es dafür einen wunderbaren Begriff: “Nahe Feinde”. Sie sind auf den ersten Blick ziemlich nah dran an dem, was wir uns wünschen oder wonach wir streben. Wir schenken ihnen allzu gerne Glauben oder mogeln uns auch mal mit ihnen durch. Aber genau deswegen sind sie auf dem spirituellen Weg – und genauso im täglichen Miteinander – auch so tückisch.

Die Brahmaviharas

Traditionell geht es dabei um die Brahmaviharas, die “Vier Unermesslichen Geisteshaltungen”, manche übersetzen sie auch als die “Vier Himmlischen Verweilzustände”: Liebende Güte (Maitri), Mitgefühl (Karuna), Mitfreude (Mudita) und Gleichmut (Upeksha). In der Visuddhimagga, der größten und ältesten systematischen Darstellung des Buddhismus, heißt es dazu im Kapitel der “Vermischten Erklärungen”: “Jeder einzelne der Göttlichen Verweilzustände hat je zwei Feinde, einen nahen (Asannapaccatthika) und einen entfernten (Durapaccatthika).”

Nahe und entfernte Feinde

Die entfernten Feinde sind die offensichtlichen Gegensätze: Bei der Liebenden Güte ist das die Böswilligkeit und beim Mitgefühl die Grausamkeit, das Gegenteil von Mitfreude ist Neid oder Missgunst und als das des Gleichmuts gilt der Hass. Diese den hilfreichen Geisteszuständen entgegengesetzten Geistesgifte sind meistens leicht zu erkennen. Viel schwieriger ist das bei den nahen Feinden, denn ihr Gift weiß sich erst mal ganz gut zu verbergen. Wenn wir zum Beispiel einer Freundin oder einem Freund erzählen, was uns gerade bedrückt, und dann zu hören bekommen “Oh, das tut mir aber leid!”, bleibt manchmal ein merkwürdig schales Gefühl zurück. Weil pauschal und etwas von oben herab Mitleid ausgesprochen wird, wir aber auf der Suche nach aufrichtigem, von Herzen kommendem Mitgefühl waren.

Umgekehrt kann es durchaus passieren, dass wir zur Beförderung, dem neuen Auto oder der neuen Liebe einer Freundin heucheln: “Ach, ich freue mich so für dich!”, dabei aber nur unseren heimlichen Neid verbergen. Oder wir verkitschen eine neue Liebe disneyhaft und sind dann maßlos enttäuscht, wenn die Partnerin oder der Partner sich nicht dauerhaft als fehlerlos erweist – und schon ist sie sehr weit weg, die beständig liebevoll-gütige Hinwendung, um die es eigentlich ginge.

Warum Abkoppeln nichts bringt

Auch Gleichgültigkeit und Desinteresse, die nahen Feinde des Gleichmuts, sind Zeichen dafür, dass wir uns innerlich abschotten und entfernen, zum Beispiel wenn es heißt: “Ich habe jetzt einfach aufgehört, Nachrichten zu lesen, die haben mich immer so runterzogen.” Dabei bestünde eine gesunde Selbstfürsorge nicht darin, sich von der Welt abzukoppeln. Genauso sollte auch die Praxis von Yoga und Meditation nicht so verstanden werden, dass wir uns zurückziehen und unsere schöne kleine Welt vor der großen bösen Welt da draußen schützen. Vielmehr besteht die Aufgabe genau darin, uns selbst besser kennenzulernen und mit größerer innerer Ruhe und Kraft immer wieder in den Kontakt zu gehen. Oder im Sinn des Buddhismus: Liebende Güte, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut zu kultivieren.

Unterscheiden, um zu verbinden

Das genaue Erforschen und Unterscheiden von Emotionen ist also eine Methode, sich nicht hinter falschen Freunden zu verstecken, die einen abschotten, sondern immer wieder in die lebendige Verbindung zu gehen. Natürlich geht das nicht nur mit den Vier Unermesslichen des Buddhismus, wir können auch weniger zentrale Gefühle, Geisteshaltungen und Verhaltensweisen immer wieder daraufhin abklopfen, ob sie wirklich hilfreich sind, oder doch eher trügerische und heimlich vergiftete Varianten des Guten: Wird zum Beispiel Großzügigkeit eingesetzt, um andere zu manipulieren? Kann ich Kritik wohlwollend, hilfreich und sachlich formulieren oder ist sie unterschwellig abschätzig oder aggressiv? Trägt meine grenzenlose Zuversicht vielleicht auch Züge von Größenwahn? Bin ich in diesem Gespräch wirklich zugewandt oder nur oberflächlich freundlich? Ist das noch Hilfsbereitschaft oder schon Selbstaufopferung?

Die Auseinandersetzung mit sich selbst und der Wirklichkeit ist kein warmes Wannenbad.

Spiritual Bypassing: Knapp daneben ist auch vorbei

Natürlich darf das nicht dazu führen, jeden guten Impuls gleich unter Selbstzweifeln zu vergraben. Aber wir müssen schon ehrlich mit uns sein. Falsche Freunde können nämlich dazu führen, dass wir sehr zufrieden mit uns sind, aber in Wahrheit nicht dort ankommen, wo wir eigentlich hinwollen. Wir wundern uns dann, warum andere auf unsere neu gefundenen Tugenden so merkwürdig reagieren: Weil sie spüren, dass etwas nicht stimmt. Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht. Oder: Knapp daneben ist auch vorbei.

Falsche Freunde ermöglichen uns “spiritual bypassing”, wie es der US-Psychologe Robert Augustus Masters nennt, also “spirituelle Vermeidung”: Wir versuchen, uns um die harte spirituelle Arbeit der Selbsterkenntnis und Veränderung zu drücken, weil es oberflächlich betrachtet so aussieht, als hätten wir das Ziel schon erreicht. Rumschreien im Namen der “ehrlichen Kommunikation”, die eigenen Meinungen für Wahrheiten halten, die Hände in die Luft werfen und beim ersten Hindernis aufgeben – all das ist viel einfacher als immer wieder selbstkritisch und zugleich liebevoll und offen sich selbst und das eigene Verhalten zu untersuchen.

Falsche Freunde lähmen uns

Als falscher Freund kann auch die Annahme gelten, dass Yogis und Meditierende immer freundlich, geduldig und entspannt sein müssten. Das ist natürlich Unsinn. Auch spirituell Interessierte können vollkommen berechtigt ärgerlich, ungeduldig oder angespannt sein. Die Praxis dient nicht dazu, diese Gefühle abzulegen oder loszuwerden. Wir wollen sie genauer betrachten, ihre Ursache überprüfen, und uns im Idealfall konstruktiv zu ihnen verhalten, statt ihnen ausgeliefert zu sein.

Aber gerade diejenigen, die sich eine bessere Welt wünschen und versuchen, ein wenig dazu beizutragen, müssen manchmal entschlossen handeln. Im MSC (Mindul Self Compassion) wird das als “kraftvolles Selbstmitgefühl” bezeichnet. Die Kollegin zu verfluchen, wenn sie schon wieder deine Idee geklaut hat, ist kein kraftvolles Selbstmitgefühl, ihr aber künftig weniger zu erzählen, schon. Auch einen Porsche zu zerkratzen, weil er zur Klimakrise beiträgt, ist natürlich kein kraftvolles Selbstmitgefühl – Resignation unter dem Mäntelchen des Selbstschutzes aber eben so wenig. Vielleicht könnte man die Faustregel so formulieren: Erstrebenswerte Geisteszustände machen eher handlungsfähig, falsche Freunde dagegen lähmen.

Spirituelle Mythen entlarven

Ironischerweise grassieren gerade auch unter spirituellen Gutmenschen viele Formulierungen, die als nahe Feinde angesehen werden müssen. Darüber hat der Tantra-Forscher Christopher Wallis ein Buch geschrieben (“Toxic Spirituality: Wie man Irrwege erkennt und wirklich frei wird.”). Er weist darauf hin, dass viele spirituelle Plattitüden nicht nur belanglos oder inhaltsleer sind, sie können manchmal auch ernsthaften Schaden anrichten. Wenn wir zum Beispiel die Devise verfechten, man solle “seine eigene Wahrheit sprechen”, dann klingt das zwar auf Anhieb erst mal danach, mutig und authentisch zu sein, aber es trägt auch dazu bei, den derzeit sowieso gefährdeten Begriff von Wahrheit weiter zu verwässern. Stattdessen – und das wäre der wahre Freund – müsste es darum zu gehen, herauszufinden, was tatsächlich eine unumstößliche, allgemeingültige Wahrheit darstellt und was eigentlich nur eine Überzeugung ist, meine eigene, subjektive und zwangsläufig beschränkte Interpretation von Wahrheit.

Foto: Inga Gezalian via Unsplash

Auch Sätze wie “Tu, was dich glücklich macht”, “Alles geschieht aus einem bestimmten Grund” oder “Du erschaffst deine eigene Realität” sind laut Wallis solche spirituellen Mythen. Sie klingen erst mal gut, sie können manchmal auch kurzfristig Verbündete sein, aber wirklich hilfreich werden sie erst, wenn wir zu den echten Weisheiten vordringen anstatt uns mit ihren verflachten Abziehbildern zu begnügen. Dazu müssen wir uns allerdings freimachen von dem Wunsch, uns jederzeit sicher und wohl zu fühlen damit, wie wir gerade sind. Die Auseinandersetzung mit sich selbst und der Wirklichkeit ist kein warmes Wannenbad.

Nahe Feinde treiben uns weiter auseinander

Aber sie ist auch nicht hyperkompliziert. Besonders hilfreich am Konzept der nahen Feinde ist die Tatsache, dass wir gar nicht weit gucken müssen, um sie zu finden: Sie begegnen uns überall im Alltag. Wir erkennen sie daran, dass sie uns, wie es der US-Meditationslehrer Jack Kornfield beschreibt, “unbemerkt vom Leben wegführen.” Brené Brown drückt es ganz ähnlich aus: “Oberflächlich betrachtet wirken die nahen Feinde wie Verbundenheit, sie scheinen sich sogar so anzufühlen. Aber letztlich treiben sie uns auseinander.”

Das lässt sich recht einfach nachvollziehen am Beispiel der Liebe. Ein falscher Freund der Liebe ist die Abhängigkeit, das Klammern. Wir lieben jemanden, weil diejenige oder derjenige uns liebt. Wir lieben jemanden, weil wir etwas von der Person wollen. Oder wir halten unser Kind eng umschlungen, obwohl es inzwischen Teenager ist und mehr Abstand braucht. Mit anderen Worten: Ich “liebe” dich – weil ich nicht allein sein will. Ganz klar ein falscher Freund. Denn er treibt auseinander statt echte Verbundenheit zu fördern. Oder wir weichen ernsthaften (anstrengenden) politischen Diskussionen aus und werfen alles in den Topf, um “die eigene Wahrheit zu sprechen”. Auch ein falscher Freund: Treibt uns auseinander.

Was hilft? Übung in Unterscheidung. Und irgendwann eine ebenso radikale wie wohlwollende Ehrlichkeit mit uns selbst. Klingt nach eierlegender Wollmilchsau, aber das Leben ist eben nicht so eindeutig, wie wir es oft gern hätten.

Meditation: Die Wahrheit deiner eigenen Erfahrung

  1. Richte dir eine Meditationshaltung ein, in der du den Rücken entspannt aufrichten kannst. Lasse den Bauch locker und lege deine Hände auf die Knie. Wenn es dir angenehm ist, kannst du die Handflächen nach oben drehen.
  2. Schließe sanft die Augen oder richte den Blick ohne Fokus auf eine mittlere Entfernung. Atme nun einige Male tief und ruhig. Lass all deine Gedanken und Geschichten, Erlebnisse und Meinungen für den Moment los. Es ist nichts mehr zu tun. Du darfst einfach hier sitzen.
  3. Atme nun etwas tiefer in den Bauch hinein. Spüre der Empfindung nach, ohne sie zu benennen. Richte dann deine Aufmerksamkeit auf eine Situation, die für dich schwierig war. Nimm wahr, was dabei in deinem Körper passiert. Vielleicht spürst du eine Anspannung. Nimm sie wahr. Vielleicht kommen Gefühle auf. Nimm sie wahr. Begegne den Veränderungen mitfühlend und freundlich. Du musst nichts tun, nichts verändern. Du bist nicht in der Situation, an die du zurückdenkst.
  4. Frage dich, was du brauchst oder wonach du dich sehnst. Urteile nicht über diesen Wunsch. Nimm ihn nur wahr. Du musst ihm nicht Folge leisten. Erkenne einfach an, was kommt. Atme ruhig weiter.
  5. Du fühlst, was du fühlst. Das ist weder richtig noch falsch. Aber es ist wahr in diesem Moment. Was du später damit anfängst oder auch nicht, ist dir überlassen. Die Wahrheit deiner Wahrnehmung speist sich aus deinen Erfahrungen, Gefühlen, Wünschen, Bedürfnissen und Werten. Vielleicht verändert sich etwas in deinem Körper, nimm es wahr.
  6. Atme zum Abschluss tief ein und lass den Atem langsam ausströmen. Öffne sanft die Augen. Lächle, wenn dir das angenehm ist. Komme langsam und achtsam wieder in die Bewegung.

Ulrich Hoffmann ist Yoga- und Meditationslehrer sowie Autor (“Was Meditation wirklich kann”, “Zusammen entspannen”). Er würde die Klimakrise gern aufhalten, schafft das aber nicht allein. Statt zu resignieren, gleicht er wenigstens seinen CO2-Ausstoß aus, beruflich über atmosFair, privat via TeamClimate. Alle Infos auf ulrichhoffmann.de


Mehr von Ulrich liest du regelmäßig im YOGAWORLD JOURNAL oder zum Beispiel hier:

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