Selbstfürsorge als politischer Akt? Im duftigen Selfcare-MeTime-Wohlfühl-Kosmos geht gerne mal unter, dass wir es mit einer Grundlage menschlichen Miteinanders zu tun haben. Warum es wichtig ist, sich um sich selbst zu kümmern, um gut handeln zu können.
Text: Carmen Schnitzer
Pastellfarbene Teetassen-Idylle, listenweise Tipps, Blumen, Schaumbäder und immer wieder entspannt lächelnde Menschen im Schneidersitz, die Hände zur Jnana-Mudra geformt: Wer das englische Pendant zur “Selbstfürsorge”, “selfcare”, in die Internet-Suchmaschine seines Vertrauens eingibt, den kann die Flut an Ergebnissen überwältigen. Gut 3 Milliarden Treffer spuckt etwa Google aus, bei Ecosia sind es 13,7 Millionen, weit über 34 Millionen Mal findet sich der Hashtag #selfcare auf Instagram. Derzeit gehört das Wort laut “Google-Trends” zu den weltweit am häufigsten gesuchten Begriffen, und klar: Auf so einen Zug springen Produktmanager*in gerne auf, sie nennen Badeschaum “Zeit für mich” und Kräutertees “Happy Mind”, während die Verlage uns mit Wohlfühl-Zeitschriften in Mandala- und Wolken-Optik beglücken.
All das ist offenbar Zeitgeist. Dabei haben wir es hier nur scheinbar mit einer Neuzeit-Erfindung zu tun. Die Philosophie hinter dem vermeintlichen Modewort “Selbstfürsorge” ist schon Jahrtausende alt, und zwar nicht nur im indischen Yoga. Auch hier in Europa widmeten sich Denker bereits in der Antike dem Thema. Zentrale Begriffe sind dabei das griechische epimeleiaheautou bzw. das römische cura sui, die sich beide mit “Sorge um sich selbst” übersetzen lassen. Der Philosoph Michel Foucault hat ihnen 1982 in mehreren Vorlesungen am Collège de France neue Aufmerksamkeit verschafft. Er wies unter anderem darauf hin, von welch zentraler Bedeutung für die Polis, also den Staat beziehungsweise die Gemeinschaft, es war, dass der Philosoph Sokrates (469–399 v. Chr.) die Bürger zur Selbst(für)sorge mahnte.
Es gibt ein fiktives Gespräch zwischen Sokrates und dem späteren Staatsmann Alkibiades, einem jungen, attraktiven Draufgänger, den es in die Politik zog. Nach und nach zeigt Sokrates ihm darin auf, dass es ihm dafür noch an Kompetenz, Bildung und klaren Grundsätzen mangele. Er rät ihm, zunächst einmal zu lernen, sich um sich selbst zu kümmern, was wiederum Selbsterkenntnis voraussetze. Erst wer für sich selbst sorgen könne, könne auch ethisch gut handeln und sei einer Führungsrolle würdig.
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“Ich zuerst” ist der falsche Weg
Damit wären wir bei einem bis heute weit verbreitetem Missverständnis, demzufolge das Kümmern um sich selbst gleichzusetzen ist mit Egoismus oder einem bloßem Kreisen um die eigenen Befindlichkeiten – einer Art “Achtsamskeitsspirale”, die sich auch in Yogakreisen durchaus mal beobachten lässt. Vielleicht kennst auch du jemanden, der vor lauter “Spiritualität” und Innenschau die Welt um sich herum kaum noch wahrnimmt, oder dessen Interaktion mit anderen Menschen dir problematisch erscheint? Diese Gefahr sieht auch Dr. Tatjana Reichhart, die in ihrem Buch “Das Prinzip Selbstfürsorge” unter anderem von dem Druck schreibt, den der derzeitige “Ich muss mich finden beziehungsweise optimieren”-Trend auslöst. “Wenn die Achtsamkeit instrumentalisiert wird im Sinne von alles ganz toll und gut zu machen – dann landen wir nicht bei dem, was mit Selbstfürsorge gemeint ist”, erklärt sie. Selbstfürsorge beziehe immer andere Menschen mit ein, bedeute nicht “Ich zuerst”, sondern auch Reflexion über die eigene Rolle in der Gesellschaft.
Das klingt kompliziert und tatsächlich gibt es kein schlichtes Rezept, dem man mal einfach folgen kann, um im besten Sinne selbstfürsorglich zu sein. Denn Zeiten ändern sich ebenso wie Menschen und Umstände, und so gilt es, das eigene, sich wandelnde Innere immer wieder neu auszuleuchten und in den Kontext zur sich ebenfalls wandelnden Außenwelt zu setzen. Und ja, das bedeutet auch: Arbeit an sich selbst. Nicht im Sinne eines ehrgeizigen Höher-schneller-weiter-Denkens, nicht, um immer “besser” zu werden, sondern um im Einklang mit sich und der Umwelt zu bleiben beziehungsweise sich neu auszubalancieren.
Nur wer sich selbst hilft, kann anderen helfen
Wem das alles zu abstrakt klingt, dem hilft vielleicht ein konkretes Bild: Wenn im Flugzeug vor dem Start die Sicherheitshinweise gezeigt werden und davon die Rede ist, dass bei einem Druckabfall Sauerstoffmasken aus den Fächern über den Sitzen fallen, dann heißt es immer: “Setzen Sie sich erst selbst die Maske auf, bevor Sie Kindern und anderen hilfsbedürftigen Menschen helfen!” Denn wenn du nicht mehr atmen kannst, ist auch dem Kind neben dir nicht geholfen. Im übertragenen Sinne heißt das: Wenn du nicht auf deine Energiereserven achten, wenn du dich nur für andere Menschen und Pflichten verausgabst oder Erfolgen nachjagst, ohne dir Regenerationsphasen zu gönnen, wird früher oder später der Punkt kommen, an dem du weder zur Hilfe noch zur Pflichterfüllung mehr fähig bist.
Etwas anders ist das in der Yogaphilosophie. Patanjali stellt im Yogasutra die Yamas, also die Grundregeln ethischen Verhaltens, die sich mit dem Außen beschäftigen (verkürzt: Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkei, Nicht-Stehlen, Maßhalten, Begierdelosigkeit) vor die Niyamas, die sich auf das Selbst beziehen (Reinheit, Zufriedenheit, Selbstdisziplin, Selbstreflexion, Hingabe). Er geht also, wenn man so will, im Vergleich zu Sokrates einen umgekehrten Weg. Aber wie ist es denn nun “richtig”? Nun, dazu könnten wir uns darauf besinnen, dass es die harte Trennung von Innen und Außen, von Ich und Umwelt, von Zuerst und Danach im Grunde nicht gibt, dass Yoga Einheit bedeutet, Harmonie und Verbindung. Im konkreten Fall – etwa bei den Sauerstoffmasken im Flugzeug – ist es zwar wichtig, sich zuerst um sich zu kümmern, aber nicht im Sinne einer Hierarchie, sondern mit Blick auf das große Ganze.
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Philosophie und Alltag
Worte wie “zuerst” oder “wichtig(er)” sind demnach als Wortkrücken zu verstehen, die der einfacheren Kommunikation dienen, aber den tieferen Sinn einer Handlung nur bedingt erfassen. Doch weg von der Philosophie und hin zum Alltag: Was bedeutet Selbstfürsorge in einer Zeit, in der das kollektive Stresslevel hoch ist? Schon vor Corona, 2019, erreichte die Zahl psychisch bedingter Krankschreibungen einen neuen Höchststand: 260 Fehltage kamen laut des DAK-Psychoreports 2020 auf 100 Versicherte, das bedeutet seit 2000 einen Anstieg von 137 Prozent.
Woher kommt diese offensichtliche Überforderung mit dem Leben, der Welt? Warum fühlen wir uns so oft gehetzt, ruhelos, wo wir doch im Vergleich zu unseren Vorfahren so viele Möglichkeiten haben, Zeit zu “sparen“: Fürs Wäschewaschen haben wir Maschinen, mit der U-Bahn legen wir in wenigen Minuten mehrere Kilometer zurück, Nachrichten verschicken wir per Mausklick. Und doch fühlen sich viele überfordert, denn wir bekommen zwar einerseits Zeit “geschenkt”, haben aber andererseits zigmal mehr Möglichkeiten, sie einzusetzen, als wir tatsächlich können. Und diese Wahlmöglichkeit, die gleichzeitig ja auch eine Wahlpflicht ist, stresst.
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Stress ist nicht gleich Stress
Dabei ist Stress nicht grundsätzlich etwas Schlechtes. Stressforscher*innen unterscheiden zwischen positivem (Eustress) und negativem (Distress) Stress. Während ersterer zum Beispiel als Lampenfieber oder Aufregung vor einem Wettkampf zum Tragen kommt und uns kurzzeitig wacher und leistungsfähiger macht, belastet uns der Distress, wir fühlen uns überfordert, weil wir Dinge nicht zu unserer Zufriedenheit erledigen können, brennen aus oder plagen uns mit Ängsten herum. Jetzt zu Corona-Zeiten sahen und sehen sich leider viele diesem negativen Stress ausgesetzt, sei es wegen der Doppelbelastung durch Kinderbetreuung und Arbeit, wegen Existenzsorgen oder aufgrund von heftigen Differenzen mit Freund*innen, die zum Thema eine andere Haltung haben als man selbst.
Um diesem krank machenden Stress etwas entgegenzusetzen, ist Selbstfürsorge in diesen Tagen vielleicht wichtiger denn je. Denn um Herausforderungen und Rückschlägen standzuhalten, brauchen wir Resilienz (von lat. resilire: zurückspringen, abprallen). Zwillingsstudien legen nahe, dass diese psychische Widerstandsfähigkeit zu 30–50 Prozent genetisch bedingt ist. Frustrierend? Konzentrieren wir uns lieber auf die gute Nachricht: 50–70 können wir trainieren. Dazu gilt es, das eigene Denken und Handeln zu reflektieren, sich der eigenen Bedürfnisse klar zu werden, Glaubenssätze zu erkennen und gegebenenfalls zu modifizieren. Solche oft bereits in der Kindheit erlernte Glaubenssätze können zum Beispiel sein: “Ich werde geliebt, wenn ich Leistung bringe”, “Ich darf nicht schwach sein” oder “Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Das Erkennen solcher inneren Muster ist der erste Schritt hin zu einem selbstfürsorglicheren Verhalten.
Hilfreich: Meditation für ein heilendes Herz
Die nächsten Schritte führen uns dann durchaus mal raus aus der Komfortzone, wobei du dich nicht überfordern solltest. Das Prinzip kennst du im Grunde schon vom Yoga: Es geht darum, die eigenen Grenzen zu erkennen und zu respektieren – was nicht bedeutet, es sich innerhalb dieser Grenzen gemütlich zu machen, sondern sie immer wieder auszutesten, etwas darüber hinauszugehen, aber auf keinen Fall zu viel.
Nachhaltige Freundlichkeit
Auf den Alltag bezogen kann das zum Beispiel heißen, dass du mal nicht so “nett” reagierst, wie man es von dir gewohnt ist – weil du zum Beispiel eine Bitte abschlägst, die du sonst automatisch, aber vielleicht innerlich grummelnd erfüllt hättest (bis es irgendwann womöglich zum großen Knall gekommen wäre). Danach gilt es, die (kurzzeitige) Enttäuschung oder Verwunderung deines Gegenübers auszuhalten. Doch du wirst merken, dass das Leben weitergeht, du weiterhin respektiert und geliebt wirst – vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als vorher. Denn die Freundlichkeit, die du entwickelst, wenn du selbstfürsorglich handelst, wird eine echte, nachhaltige und (selbst-)sichere sein, die sowohl dich als auch dein Gegenüber bereichert. Und auf diese Erkenntnis können wir nun gerne mit einer pastellfarbenen Tasse “Happy Mind”-Tee anstoßen!
Zu Beginn ihrer Recherchen hatte Autorin Carmen Schnitzer beim Thema “Selbstfürsorge” viele Plattitüden im Kopf und Sorge, dass es zu wenig Substanzielles zu sagen gäbe. Am Ende sah sie sich gezwungen, ihren Text ordentlich zu kürzen …