Stille – wie wir sie finden und was wir aus ihr schöpfen können

Jetzt kommt sie wieder, die sogenannte “stille Zeit”. Warum sehnen wir uns nach dieser Stille, weichen ihr aber oft lieber aus? Und was finden wir, wenn es um uns und in uns still wird? Wir versuchen, nicht zu viele Worte darum zu machen …

Text: Stephanie Schauenburg / Titelbild: Jan Huber via Unsplash

Sogar die Stille kann laut sein. Das fällt mir auf, seit ich mich für das Thema interessiere. Überall neue Stille-Bücher und Einladungen zu Stille-Retreats, Stille-Räume in trubeligen Innenstädten und Stille-Reisen in entlegene Wüstenregionen. Bei so viel Gewese um die Stille kann in unseren Leben nicht viel Stille sein.

Eher eine große Sehnsucht. Ein Bedürfnis, das – wie wunderbar die deutsche Sprache doch ist – “gestillt” werden will. Der Drang, der Kakophonie an Geräuschen, Bildern, Mails und Terminen etwas entgegenzusetzen. Das Verlangen, dem kräftezehrenden Immer-Schneller, Immer-Weiter, Immer-Mehr einmal Einhalt zu gebieten. Innezuhalten und sich nach innen zu wenden. Da-Sein zu spüren. Vor allem jetzt, wo die vermeintlich “stille Zeit” kommt, nehmen wir diese Sehnsucht wahr. Weil es draußen dunkler und leerer wird und der Körper nicht mehr so vor Energie sprüht wie im Sommer. Wir hören den Ruf der Stille – und hetzen meistens einfach weiter. Aber was bedeutet das eigentlich: Stille?

Stille – mehr als nur die Abwesenheit von Lärm

Wenn man in eine leere Kirche tritt und die Tür hinter einem ins Schloss fällt, dann ist sie plötzlich da. Man spürt: Stille ist mehr als nur die Abwesenheit von Lärm. Äußere Stille kann die Tore öffnen für eine innere. Das hat viel damit zu tun, dass wir Menschen in Resonanz leben mit der Welt um uns herum. Klingen die Schallwellen ab, die uns umgeben, dann verändern sich auch die subtilen Schwingungen in uns: Gedanken, Gefühle und Stimmungen, die ja auch nichts anderes sind als Wellen verschiedener Energien, sie alle reagieren auf die Schwingungen im Außen. Manchmal indem sie sich ebenfalls beruhigen. Dann spüren wir, dass wir innerlich still werden und beginnen, auf eine viel feinere Weise zu lauschen. Vielleicht nehmen wir dann unseren Atem wahr, wir bewundern Staubkörner, die im Licht tanzen, oder wir hören, was unser eigenes Herz spricht. In dieser Art von innerer Stille finden wir Frieden.

Boot auf stillem Ozean
Foto: Daniele Colucci via Unsplash

„Die größten Ereignisse, das sind nicht unsere lautesten, sondern unsere stillsten Stunden.“

Wenn Stille zur Herausforderung wird

Manchmal passiert aber auch das genaue Gegenteil: Die äußere Stille macht einen inneren Aufruhr hörbar, der zuvor übertönt wurde. Die Gedanken rasen und tosen noch lauter als zuvor. Nicht selten meldet sich sogar eine tief sitzende Angst. “Ich war richtig erleichtert, dass der Mann neben mir immer wieder gehustet hat”, berichtete einmal eine Teilnehmerin im Meditationskurs des französischen Lehrers Fabrice Midal. “In dieser großen Stille bekam ich Angst, ich sei tot.” Es ist kein Zufall, dass wir von Totenstille oder Grabesstille sprechen: Die Abwesenheit von Geräuschen kann ein Gefühl von Leblosigkeit, Verlassenheit und Leere wecken, dem wir uns nur allzu gerne entziehen. Dann lieber schnell die Kopfhörer in die Ohren stöpseln und sich durch Worte oder Musik in eine andere Stimmung, eine andere Schwingung versetzen lassen.

Nicht selten erfordert es also Mut, sich der Stille auszusetzen. Wir können erschrecken vor der Leere, die hinter ihr liegt, weil wir nicht wissen, ob und wie wir sie füllen können. Dabei ist diese Leere eigentlich etwas sehr Kostbares. Kein tödlich starrer “Still-Stand”, sondern die Bewegung in einen weiten Raum, in dem wir uns selbst begegnen und in dem etwas entstehen kann. Dafür müssen wir nichts anderes tun, als uns öffnen, lauschen und darauf vertrauen, dass da, wo wir uns hinbegeben, nicht nur nichts sein kann.

In-Beziehung-treten statt Weltflucht

Bert Brecht hat das so schön in Worte gefasst: “Geh ich zeitig in die Leere, / komm ich aus der Leere voll. / Wenn ich mit dem Nichts verkehre, / weiß ich wieder, was ich soll.” Ganz ähnlich beschreibt es auch der norwegische Abenteurer Erling Kagge, der alleine zum Südpol gewandert ist und danach ein wunderbares Buch geschrieben hat (“Stille. Ein Wegweiser”). Für ihn ist Stille ein zeitweises Aussperren der Welt, eine bewusste Reduktion, die nach innen führt, den Blick weitet und das Herz öffnet. Eigentlich, schreibt er, ist es ganz einfach: “Man muss nur subtrahieren.”

Frau alleine sitzend mit Blick in die Ferne
Foto: Christopher Sardegna via Unsplash

Dieses Substrahieren kann ganz behutsam sein. Denn die Stille, nach der wir uns sehnen, ist nie die völlige Abwesenheit von Geräuschen, keine Isolation oder radikale Abkehr von der Welt, sondern im Gegenteil ein feineres In-Beziehung-Treten. Es ist die Stille der Nacht, der Natur, der Wüste, in der die Geräusche so vereinzelt sind, dass wir sie wirklich hören. Dann können wir uns auch wieder selbst hören, anstatt uns im dauernden Umgebungslärm des Alltags zu verlieren.

„Ja, reden, genau das soll die Stille tun. Sie soll reden, und du sollst mit ihr reden und das Potenzial nutzen, das darin liegt.“

Verschiedene Wege in die Stille

1. Schweigen

Eine Zeit lang zu schweigen, das ist der vermutlich naheliegendste Weg in die Stille. Nicht umsonst wird das Schweigen in fast allen klösterlichen und spirituellen Traditionen gepflegt: Erst wenn man selbst schweigt, kann man wirklich lauschen und sich öffnen für das, was einem begegnen und was einen berühren will. Ganz egal, ob man sich für ein traditionell siebenwöchiges Vipassana-Retreat entscheidet oder für ein modernes zehntägiges, ob man sich in ein Zen-Kloster zurückzieht oder bei einem christlichen Orden einkehrt, ob man überhaupt solch einen festen Rahmen wählt oder ganz einfach im Alltag mal bewusst “Ruhe gibt” und einige Stunden schweigt: Die Entscheidung, nicht zu sprechen – und auch nicht ansprechbar zu sein –, hat eine große, heilsame Kraft.

2. Alleinsein

Indische Yogis und Saddhus ziehen sich seit alters her in Höhlen im Himalaja zurück, die Urchristen haben in der Wüste meditiert, selbst Jesus und Buddha wählten zeitweise bewusst die Einsamkeit. Denn so sehr der Mensch ein soziales Wesen ist und sich erst in der Verbindung und Auseinandersetzung mit anderen entwickelt, so wichtig ist es dennoch, von Zeit zu Zeit alleine zu sein. Die Zeit der selbst gewählten Einsamkeit ist die Zeit der Einkehr bei sich selbst. Eine Gelegenheit zu Klärung, Erkenntnis, Transformation – und vielleicht sogar ein menschliches Grundbedürfnis. Swami Sivananda jedenfalls meint: “So wie der Schlaf wichtig ist für das Wohlbefinden des Körpers, so ist das Alleinsein notwendig für das Wohlbefinden der Seele.”

3. Meditation und Kontemplation

Für uns Yogi*nis ist die Meditation das, was in philosophischen und religiösen Zusammenhängen die Kontemplation oder auch das Gebet ist – eine Praxis der inneren Sammlung und geistigen Ausrichtung. Sie enthält fast immer das Schweigen und oft auch das Alleinsein, aber hier kommt noch etwas anderes hinzu: die bewusste Konzentration auf oder gar die Versenkung in etwas, das nur im Inneren stattfindet. In dieser Gegenbewegung zu den Energien des Alltags, wo wir beständig nach außen gezogen werden, kann sich die Aktivität des Geistes beruhigen. Im Yoga nennen wir das Citta Vritti Nirodha, das Zur-Ruhe-Kommen der Gedankenwellen. Und so wie abklingende Schallwellen eine äußere Stille erzeugen, so führen uns ruhigere Gedankenwellen in die innere Stille.

Angler und Ente auf stillem See
Foto: Johannes Plenio via Unsplash

4. Atembetrachtung

Der Atem ist magisch: Sobald man sich ihm bewusst zuwendet, wird es ein bisschen stiller. Wir tauchen ein in diesen einen, gegenwärtigen Atemzug und nehmen uns wahr in diesem einen, spürbaren und spürenden Körper: Ein. Aus. Jetzt. Hier. Verbunden. Selbst wenn rings umher Lärm und Chaos herrschen, selbst wenn es nur für ein paar wenige Atemzüge ist, dieses kleine Innehalten hat die Macht, uns Stille jederzeit und ganz konkret spürbar zu machen. Besonders, wenn wir uns ein wenig in die Umkehrpunkte einsinken lassen. In den Momenten, wo die Ein- in die Ausatmung übergeht und die Aus- in die Einatmung, gibt es winzige Pausen in der unablässige Atembewegung – und da wird es ganz still. Auf diese Stille kann man sich innerlich ausrichten und man kann ihr erlauben, in Körper und Geist nachzuhallen.

Beim Pranayama arbeitet man noch etwas gezielter mit der Atemstille. Etwa indem man Kumbhaka, die Atempause, ausdehnt, oder indem man Langhana praktiziert, die vertiefte Atemleere. Immer geht es dabei um diese Momente der Stille und der Leere, aus der die tiefsten Einsichten aufsteigen können.

5. Bewegung

Auf den ersten Blick mag es widersinnig erscheinen, Stille durch Bewegung herbeiführen zu wollen. Schon das Wort “Stille” bedeutet wortgeschichtlich ja “unbewegt stehend”. Aber es funktioniert: Äußere Bewegung kann innere Stille erzeugen. Wir kennen das aus der Asana-Praxis, wenn Atem und Bewegung ineinanderfließen und der Geist zur Ruhe kommt. Aber auch beim Laufen oder Schwimmen, beim Spazierengehen, ja sogar beim Stricken kann die gleichmäßige körperliche Bewegung wie eine Meditation wirken: Sie besänftigt die Gedankenbewegungen und bringt sie manchmal fast zum Erliegen. Die rhythmische, monotone Wiederholung ist dabei der eine Schlüssel. Der andere heißt: Achtsamkeit. Beides gemeinsam kommt bei der Gehmeditation zum Einsatz. Aber es gibt noch eine andere, sehr traditionelle Form der Bewegung, die man als einen Weg in die Stille verstehen kann: das Pilgern. Tag für Tag und Schritt für Schritt nähert man sich dabei einem äußeren Ort, der eigentlich für ein inneres, ein spirituelles Ziel steht.

„Es liegt im Stille-Sein eine wunderbare Macht der Klärung, der Reinigung, der Sammlung auf das Wesentliche.“


Stephanie Schauenburg

YOGAWORLD JOURNAL-Chefredakteurin Stephanie Schauenburg erlebt ihre schönsten Stille-Momente oft in der Natur. Etwa wenn sie bei Windstille auf die Seen südlich von München schaut …

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