Kein nostalgisches „Zurück zur Natur“ oder nur ein weiterer Ashram im südindischen Hinterland: Bei seinem neuen Begegnungszentrum geht es dem renommierten Yogalehrer R. Sriram um die Vernetzung von Yoga, Kunst, Philosophie und Politik – dabei integriert er sogar die einheimische Elefantenherde. YOGA JOURNAL-Autor Volker Linder besuchte ihn in Tamil Nadu.
Im abgelegenen Tamil Nadu, hoch oben in den Bergen, wird man sanft geweckt von exotischem Vogelgezwitscher und der ganz eigenen Morgenröte Südindiens. Für R. Sriram, der seit Jahrzehnten als führender Vertreter der Yogatradition von Krishnamacharya und Desikachar in Deutschland gilt, sind die Momente der Ruhe und Zurückgezogenheit selbst in der totalen Abgeschiedenheit der Pallani Hills rar. Sein Handy klingelt, deutsche Schüler haben Fragen zu Projekten. Mehr oder weniger gleichzeitig gibt er in Tamil, seiner indischen Muttersprache, den einheimischen Maurern Anweisungen, damit die kleinen Gästehäuser auch den ökologischen Prämissen des Projekts entsprechen und sich organisch in die traumhafte Landschaft einfügen. Auf keinen Fall darf der Blick auf den Wasserfall an der gegenüberliegenden Bergkette verstellt werden. Auch die Achse von der Terrasse zu der Steinansammlung, die schon in grauer Vorzeit von den Ureinwohnern als Verehrungsstätte genutzt wurde, muss frei bleiben. Das ist besonders Srirams deutscher Frau, der Tänzerin und Künstlerin Anjali, wichtig.
Sriram, der Ausblick von der Veranda ins Tal ist einmalig. Was hat dich an diesen Ort verschlagen, worum geht es bei eurem Gemeinschaftsprojekt?
Wir bewegen uns hier an den Schnittstellen von Körper und Geist, Philosophie und Kunst, Europa und Indien, Yoga und Therapie. 2016 lebten und arbeiteten zum ersten Mal Stipendiaten der Universität Wien für ein paar Monate hier. Zwei unserer Partner, Arno Böhler und Susanne Valerie Granzer, sind für diesen Teil unseres Gemeinschaftsprojekts zuständig. Danach haben Anjali und ich ein acht tägiges Programm mit Musik, Wort, Tanz und Yoga durchgeführt. Im Laufe dieses Jahres kommen langjährige Yogalehrer zu Fortbildungen in Yogatherapie. Wir wünschen uns Offenheit und einen regen Austausch zwischen der akademischen Welt, der Kunstwelt, ökologischer Bewegung und Yoga.
Als Vertreter der Yogatradition Krishnamacharyas: Wie unterscheidet sich deine Yogalehre von anderen Systemen und ist dazu ein Seminarzentrum im indischen Dschungel nötig?
Was heute in der Yogaszene vor allem im Westen passiert, wird von den schicken, urbanen Yogastudios und klingenden Yogastilen amerikanischer Machart dominiert. Häufig ist es auch solide Arbeit, die dort gemacht wird. Auf der anderen Seite gehen der Yoga-Hype und die Vermarktung des Yoga als Lifestyle und Marke immer häufiger völlig konträr zu den überlieferten Inhalten und zentralen Themen der indischen Yogatradition.
Was ist schlecht daran, wenn sich Yoga im Westen der Kultur anpasst? War es nicht der Export durch Gurus wie B. K. S. Iyengar oder Sivananda nach Europa und Amerika, die maßgeblich zur postmodernen Renaissance des Yoga beigetragen haben?
Das ist richtig – und wir haben dem Austausch jede Menge zu verdanken. Aber die Entwicklung ist nach Jahrzehnten an einem Punkt angekommen, der nach einem Innehalten ruft. Worum geht es? Will ich als Yogalehrer möglichst viele Schüler um mich scharen, will ich Geld verdienen, Yoga mit anderen Techniken kombinieren, die vielleicht gerade in Mode sind und auf dem Markt ankommen? Oder will ich wirklich etwas über mich erfahren, die Kernaussagen des Yoga in mein Leben integrieren? Letzteres ist unser Ansatz.
Was heißt das, „die Kernaussage des Yoga in mein Leben integrieren“?
Das kann vieles bedeuten. Auf alle Fälle geht es nicht primär nur um Asanas und darum, dass ich mich selbst gut fühle. Das ist natürlich auch ein ganz wichtiger Bestandteil, aber wenn es dabei stehen bleibt, hat man von Yoga in einem umfassenderen Sinn nicht viel verstanden.
Wie könnte eine entsprechende Praxis aussehen?
Es ist auf jeden Fall nur ein Einstieg, wenn ich einmal die Woche in ein Yogastudio gehe, ein paar Mal den Sonnengruß mache und dann eine Auswahl an Asanas vielleicht auch noch schweißtreibend übe, die mehr oder weniger zu mir passen. Häufig passen sie eben weniger. Und das ist der große Unterschied: Gehe ich meine Yogapraxis mit einem starken Fokus auf das Individuum an oder versuche ich, eine vorgefertigte Choreografie so zu praktizieren, dass sie vielleicht dem Idealbild in meinem Kopf nahe kommt. In meiner Tradition steht das Individuum im Mittelpunkt – mit all seinen Bedürfnissen, Eigenheiten, dem Alter, der spezifischen Konstitution und den Lebensthemen, die gerade anstehen. Als Yogalehrer versuche ich immer, den Blick für die einzelne Schülerin oder den Schüler zu schärfen.
Aber sind wir da nicht schon im Feld der Yogatherapie angekommen?
Yoga ist in einem gewissen Sinn immer Therapie – wer kann schon von sich sagen, er hätte keine gesundheitlichen Themen, die ihn beschäftigen – sei es auf der körperlichen oder psychischen Ebene. Im Yoga trennen wir nicht zwischen körperlicher Medizin und psychischen Belangen. Wir versuchen immer, den ganzen Menschen im Blick zu haben. Das schließt sogar sein Umfeld ein, denn die erste Stufe des Yoga ist nach Patanjali im sozialen Miteinander angesiedelt. Ahimsa, die Gewaltlosigkeit, ist die erste Empfehlung im Yoga-Sutra.
Wie hängt dieses Verständnis von Yoga mit eurem neuen Projekt in der Nähe der südindischen Stadt Kodaikanal zusammen?
Es geht genau um dieses ganzheitliche Verständnis des Yoga, das im Kern immer Mikro- und Makrokosmos zugleich meint. Wenn ich das aus dem Blick lasse, hat das, was ich tue, nur marginal oder überhaupt nicht mit Yoga zu tun. Deshalb haben wir zusammen mit unseren Partnern unser Projekt „Base“ genannt: ein Yogazentrum als Basis für ästhetisches, geistreiches und umweltbewusstes Leben, sprich ein Zusammenschluss von Kunst, Philosophie und Ökologie. Wenn hier Elefanten in der Nähe sind – wie letzte Nacht –, dann ist das natürlich eine gefährliche Angelegenheit, aber wir kämen nie auf die Idee, sie deswegen hier weghaben zu wollen.
Aber kommt man nicht zwangsläufig in Konflikt mit der Natur, wenn man in der Nähe eines Nationalparks ein Seminarzentrum baut? Immerhin wurden gerade vier neue Häuser in die Landschaft gestellt.
Es geht ja nicht darum, uns aus der Natur herauszuziehen, sondern einen Weg zu finden, beides miteinander neu zu leben. Dieses Land war völlig überwuchert von einer Art Efeu, die die natürliche Regenwaldvegetation zerstört und den Tieren Lebensraum nimmt. Wir haben Wochen gebraucht, das Terrain erstmal in einen Zustand zu bringen, der ein harmonisches Zusammenleben von Mensch und Natur ermöglicht. Dazu gehört auch, dass wir die einheimische Bevölkerung aktiv in den Gestaltungsprozess mit einbinden – als Bauarbeiter, Gärtner, Maler, Handwerker, Maurer und Servicekräfte. Jetzt sind hier fast alle Arbeiten abgeschlossen, und wir werden regelmäßig kostenlose Sommercamps für Kinder aus dieser Gegend, aber auch aus den großen indischen Städten wie Madurai oder Chennai, veranstalten. Zwei weitere Partner des Projekts sind ein deutscher Zahnarzt und eine indische Ayurveda-Ärztin. Beide werden kostenlos medizinische Hilfe hier in den Bergen anbieten. Nicht Isolation in einer schönen Landschaft ist unser Ziel, auch nicht, völlig autark zu leben.
Aber es geht doch darum, deinen Schülern ein Umfeld zu ermöglichen, in dem sie Yoga für sich noch einmal neu entdecken können?
Ich werde mit kleinen Gruppen europäischer und indischer Yogaschüler hier zusammen Zeit verbringen. Es wird aber kein straffes Programm geben, das die Tage füllt, sondern viel Freizeit und Freiraum, um eigene Erfahrungen in dieser einzigartigen Natur zu machen. Die Auseinandersetzung mit der für viele Europäer fremden Kultur hier, die Nähe zur Natur und das in vieler Hinsicht ursprüngliche Leben birgt sicher das Potenzial, den im Yoga zentralen Selbsterkenntnisprozess zu fördern. Die individuelle Betreuung bildet den Schwerpunkt meiner Programme.
Ist es im Alltag eines Yogalehrers normalerweise nicht unmöglich, derart genau hinzuschauen und jeden Schüler in seinem Prozess aus nächster Nähe zu begleiten?
Das ist ein Luxus, aber den müssen wir uns nehmen. Auch das Vertrauensverhältnis zwischen Yogaschüler und Yogalehrer ist ein zentraler Faktor für einen wirklich transformativen Prozess. Alles andere ist eine Verkürzung, die dem Yoga auf die Dauer nicht gut tut. Davon bin ich überzeugt, das hat mir mein Lehrer T. K. V. Desikachar mit auf den Weg gegeben. Es geht heute darum, diesen ernsten, tiefen Ansatz des Yoga wieder verstärkt in den Blick zu nehmen.
Nach all den Jahren deines unermüdlichen Einsatzes für Yoga vor allem in Deutschland nun dieses Projekt und dieses neue Fleckchen indische Erde als Wirkstätte – wieso eigentlich?
Wenn man sich sein Leben lang mit Yoga beschäftigt, wächst da natürlich etwas, und es nimmt neue Formen an. Wir wollen raus aus der Engstirnigkeit mancher Yogazentren, die durch ihre Art, Yoga zu vermitteln, teilweise Eskapismus befördern. So etwas läuft konträr zu der ursprünglichen Ausrichtung des Yoga auf das große Ganze. Als Yogalehrer interessiert man sich früher oder später verstärkt für die Welt und die Zeit, in der man lebt. Dazu muss man auch sein Reflexionsvermögen stärken und sich vor allem mit Blick auf die eigene Arbeit fragen, wie es sich auf die Gesellschaft auswirkt, in der ich Yoga vermittle.
Der Aufbau hier fordert eure ganz Kraft: die Bauarbeiten, internationale Bürokratie und die ständige Abstimmung und Auseinandersetzung mit allen Beteiligten. Was treibt dich an?
Als ich das erste Mal mit Anjali hier stand und ins Tal blickte, war es eigentlich schon klar, dass dies der richtige Ort ist, um unseren Traum zwischen Natur und Kultur, Yoga und Kunst sowie Philosophie zu verwirklichen. Es ist eine große Herausforderung, aber wir bekommen schon jetzt viel zurück von den Menschen, die an der Aufbauphase mitwirken. Parinama, der Wandel (ein Konzept aus dem Yoga-Sutra), lässt sich hier mitten im Leben beobachten und gestalten.