Yoga gegen Ängste

Dass Yoga innere Ruhe, Entspannung und Gelassenheit fördert, ist fast schon ein Allgemeinplatz. Aber sogar für Menschen, die massiv unter Ängsten leiden, kann die Praxis ein Rettungsanker sein. Lesen Sie hier, warum immer mehr Ärzte Yoga ​als Ergänzung zu konventionellen Therapien empfehlen. Die passende Mini-Practice für Yoga gegen Ängste finden Sie hier. 

Eigentlich würde sich Andrea Posner als „starke, rational denkende Frau“ beschreiben. Das änderte sich schlag-artig, als ihre Tochter in der 10. Klasse von der Regelschule in ein spezielles Programm für autistische Kinder wechseln musste. „Meine Tochter kam trotz Autismus immer gut zurecht“, berichtet die 52-jährige Biochemikern. „Doch die neue Schule war furchtbar für sie: Sie wurde sich ihrer Behinderung voll bewusst und litt schrecklich darunter, von den ‚normalen‘ Teenagern abgesondert zu werden.“ Ihr Kind so leiden zu sehen, trieb auch Andrea in eine ungewohnt verängstigte Stimmung. „Ich wachte mitten in der Nacht mit rasendem Herzklopfen auf. Auch tagsüber bekam ich immer wieder Panik-attacken. Einmal rannte ich sogar von einer Feier bei Freunden davon. Ich landete irgendwo am Strand und hab nur noch Rotz und Wasser geheult.“ Der Hausarzt verschrieb zunächst Beruhigungstabletten, aber das war keine Lösung: „Ich fühlte mich mit den Medikamenten wie abgeschaltet“, erinnert sich Andrea. Sie bat einen Facharzt um Rat. Eines der ersten Dinge, die er empfahl, war Yoga. Fortan besuchte sie dreimal pro Woche eine Yogastunde. Einen Monat später schlief sie wieder besser und auch die Panikattacken hatten abgenommen. „Der bewusste Atem war eine Riesenhilfe“, erinnert sich Andrea. „Außerdem habe ich durch die Asanas gelernt, präsent im Moment zu bleiben und zu beobachten, was geschieht. Das half mir, auch im Alltag in schwierigen Situationen ein Gefühl von Frieden zu bewahren.“

Asana und Atemübungen werden schon seit Jahrtausenden eingesetzt, um einen unruhigen Geist zu besänftigen und dem Stress seinen scharfen Stachel zu nehmen. Dennoch war es noch bis vor Kurzem sehr unwahrscheinlich, dass ein westlicher Arzt bei Angstzuständen Yoga empfiehlt. Die meisten Mediziner vertrauten bisher vor allem auf Medikamente, denn deren Wirkung ist wissenschaftlich am besten belegt. Aber das scheint sich in letzter Zeit zu ändern. Schon 2011 werteten Forscher der Universität Harvard amerikanische Patientendaten aus und fanden heraus, dass Ärzte immerhin schon 3 Prozent ihrer Patienten bei psychischen Problemen zu ganzheitlichen Körper-Geist-Methoden wie Yoga und Medi-tation geraten hatten. Das entspricht fast 6,4 Millionen Menschen. Bei einem Drittel ging es um Angstzustände, der häufigsten psychischen Störung. Auch bei Kongressen und Fortbildungen nehmen Seminare über Yoga und Meditation immer größeren Raum ein, insbesondere bei Psychiatern und Krebsmedizinern. Das hat gute Gründe: Inzwischen gibt es sehr vielversprechende Forschungsergebnisse zu deren Wirksamkeit gegen Stress, Stimmungsschwankungen und eine Reihe von anderen psychischen Problemen. Daher wächst die Akzeptanz gegenüber integrativer Medizin und Psychotherapie. Beide mischen das Beste aus westlichen und fernöstlichen Behandlungskonzepten, also etwa Gesprächstherapie plus Atemübungen plus progressive Muskelentspannung.

Solche Konzepte sind eine wichtige Antwort auf den enormen Bedarf an effizienten, möglichst nebenwirkungsfreien Behandlungen: Im Jahr 2010 waren laut einem Artikel der „Welt“ über 10 Millionen Menschen in Deutschland wegen krankhafter Angst beim Arzt – das ist fast jeder sechste Erwachsene. Viele Angstpatienten bekommen Psychopharmaka aus der Gruppe der Benzodiazepine verschrieben. Die sind zwar dafür bekannt, Ängste wirksam zu lösen, sie haben aber auch ein hohes Abhängigkeitspotenzial und können Benommenheit, Schwindel, Gedächtnisverlust und Alpträume hervorrufen. Diese Nebenwirkungen sind, ebenso wie Missbrauch und Abhängigkeit, seit über 40 Jahren bekannt, dennoch gehen laut einer 2015 im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Studie jährlich noch 230 Millio-nen Tagesdosen über den Ladentisch. Bis zu 1,6 Millionen Menschen sollen allein hierzulande abhängig von Beruhigungsmitteln und anderen Benzodiazepin-Präparaten sein – mit all den dramatischen Folgen, die das nicht nur für die individuelle Biographie sondern auch für das Gesundheitssystem hat.

Kein Wunder also, dass alternative Behandlungskonzepte mehr und mehr gefragt sind. Und hier kommt zunehmend auch Yoga ins Spiel. Andrea Posners Arzt, Adam Splaver, meint: „Yoga kann nicht nur die Symptome lindern, es kann einen auch lehren, mit seinen Sorgen und Ängsten besser umzugehen. Und wenn sie die Wahl hätten, würden die meisten meiner Patienten ihre Probleme lieber überwinden als nur ein Pflaster drüber zu kleben.

Das sagt die Wissenschaft

Mittlerweile haben sich Hunderte von Studien mit der beruhigenden Wirkung von Meditation beschäftigt. Das bislang vermutlich eindeutigste Urteil legten dabei Forscher der Johns Hopkins Universität ab, die 2014 in einer Metastudie 47 größere Forschungsarbeiten auswerteten. Madhav Goyal, der Hauptautor der Studie schreibt: „Wir haben quer durch die Forschung stichhaltige Beweise dafür gefunden, dass Achtsamkeitsmeditation die Symptome von Angstzuständen zu einem gewissen Grad lindern kann.“ Und weiter: „Wenn man ängstlich ist, wird der Geist häufig von besorgten Gedanken mitgerissen. Das steigert die Angst und ruft weitere Symptome wie etwa Schlafstörungen auf den Plan. Durch Meditation lernen Menschen Methoden kennen, wie man diesen Tendenzen entgegenwirken kann: Sie bleiben zum Beispiel im Moment und erkennen angstvolle Gedanken schon wenn sie auftauchen. So verhindern sie, dass sich die Angstszenarien überhaupt aufbauen.“ Am besten erforscht ist dabei die so genannte Achtsamkeitsmeditation, eine moderne Praxis, die darauf abzielt, die Achtsamkeit für den gegenwärtigen Moment mit all seinen Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen zu erhöhen. Aber es gibt auch Belege dafür, dass andere Meditationsformen ähnlich wirksam sind, etwa die Metta-Meditation, eine buddhistische Variante, bei der man freundliche, wohlwollende Gedanken an sich selbst und alle fühlenden Wesen sendet. Oder die Transzendentale Meditation, bei der ein Mantra so lange wiederholt wird, bis der Geist in einen Zustand des Nicht-Denkens gelangt.

Doch Meditation ist noch lange nicht alles: Gerade die Kombination von Körperübungen (Asana), Atemarbeit (Prana-yama) und Meditation scheint besonders geeignet zu sein, um Sorgen und Ängste klein zu halten. Auch hierzu gibt es erste, viel versprechende Untersuchungen, etwa bei Patientinnen, die wegen Ängsten und Depressionen in Behandlung waren, bei Gewaltopfern, bei Menschen, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litten oder bei Frauen, die eine künstliche Befruchtung erwarteten. Besonders eindrucksvoll ist eine 2015 in den USA erschienene Studie über Ängste während der Schwangerschaft. Deren Hauptautorin Karen M. Sheffield schreibt: „Egal welchen Typ von Yoga die untersuchten Frauen übten: Sie alle konnten Ängste und Depressionen signifikant lindern.“ Und das Beste daran: Schon eine einzelne Yogastunde pro Woche über einen Zeitraum von sieben Wochen führte zu diesen positiven Effekten.

Das Gehirn liebt Yoga

Aber wie lösen Yoga und Meditation diese Effekte aus? Die amerikanische Psychologin und Forscherin Jenny Taitz erklärt es so: „Angst ist im Wesentlichen ein Sich-Sorgen über die Zukunft. Es geht um schlimme Dinge, die noch nicht passiert sind und die so wahrscheinlich auch nie passieren werden. Und weil Ängste in die Zukunft gerichtet sind, ist alles hilfreich, was einen im gegenwärtigen Moment hält.“ Genau das leisten Yoga und Meditation: Indem man zum Beispiel beobachtet, wie sich der Körper in der Heldenhaltung anfühlt, oder indem man sich auf die Empfindungen konzentriert, die der Atem an der Nasenspitze verursacht, bindet man den Geist fest an die Gegenwart. Dadurch hat man auch Gelegenheit, in diesem Moment ablaufende mentale Reaktionsmuster zu beobachten und zu identifizieren, etwa die Ungeduld in einer lange gehaltenen Vorwärtsbeuge oder den Unwillen gegenüber einer bestimmten Asana. Wenn man dann im Alltag in eine schwierige Lage gerät, kann man genau das selbe tun: Man beobachtet sich selbst in seinen Reaktionen. Tauchen angstvolle Gedanken auf, dann kann man diese Gedanken wahrnehmen, ohne so sehr von ihnen gefangen zu werden. Man schafft also eine gesunde emotionale Distanz.

Diese subjektiv empfundenen Veränderungen der inneren Haltung lassen sich im Gehirn gut nachvollziehen. Mit moderner MRT-Technik kann man sichtbar machen, was im Kopf von Angstpatienten zum Beispiel während einer 20-minütigen Achtsamkeitsmeditation vor sich geht: Der ventromediale präfrontale Cortex, also das Hirnareal, das in der Lage ist, Angstgefühle zu dämpfen, wird durch die Meditation aktiviert. Und in dem Maß, in dem sich die Ängste legen, steigt die Aktivität im anterioren cingulären Cortex. Das bedeutet, dass rationales Denken und Optimismus wieder die Überhand gewinnen. Mit anderen Worten: Die Meditation trainiert das Gehirn darin, sich selbst in seinen Reak-tionen zu kontrollieren. Und das hilft, auch im Alltag seine Reaktionen besser in den Griff zu bekommen.

In anderen Forschungen wurde gezeigt, dass Yoga das Niveau von Gamma-Aminobuttersäure (GABA) im Gehirn beeinflussen kann. Als beruhigend und entspannend wirkender Neurotransmitter spricht der Botenstoff die selben Rezeptoren an, auf die auch die angsthemmenden Psychopharmaka der Benzodiazepin-Gruppe abzielen. Studien der Boston University zeigten, dass schon nach einer einzigen Yogastunde der GABA-Spiegel signifikant erhöht war. Natürlich kann eine einzelne Stunde immer nur die momentane Angst lindern. Um die Neigung zu übermäßiger Sorge, Ängsten und Panik-attacken generell zu vermindern, muss man sich Yoga und Meditation schon zur regelmäßigen Gewohnheit machen. Die amerikanische Yogalehrerin Angela Fie hat sich mit ihrem Programm Yoga-Med auf die Behandlung von Angstpatienten spezialisiert. Viele ihrer Schülerinnen und Schüler kommen auf Empfehlung der behandelnden Ärzte zu ihr. Aus ihrer reichen Erfahrung weiß sie: „Die regelmäßige Praxis senkt das Grundniveau emotionaler Erregung. Wenn dann im Alltag etwas Schlimmes passiert oder beängstigende Gedanken aufsteigen, kann man dem mit mehr Ruhe und Präsenz begegnen. Anstatt mit Angst zu reagieren, wird man das Geschehen aufmerksam und mit Neugier und Geduld betrachten.“

Andrea Posner kann das nur bestätigen. Sie hat sich dem Yogaweg inzwischen seit vielen Jahren verschrieben und übt fast jeden Tag. „Meine Tochter studiert mittlerweile. Aber dass ich diese große Sorge und meine Angststörung so gut bewältigen konnte, verdanke ich zu großen Teilen Yoga. Ich bin viel ruhiger geworden und kann mit den Ups und Downs des Lebens heute besser umgehen. Ich glaube wirklich, es ist meine regelmäßige Yogapraxis, die mir diesen Seelenfrieden geschenkt hat.“


Ginny Graves hat sich dieses Thema nicht zufällig ausgesucht: Als freiberufliche Autorin kennt sie Existenzängste gut. Sie findet es ungemein erleichternd, zu wissen, dass Yoga eine Hilfe sein kann!

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