Sommer, Sonne, Wind im Haar: Endlich können wir die Yogamatte auch wieder draußen ausrollen! Aus gegebenem Anlass wirft unsere Kolumnistin Sybille Schlegel ein helles Licht auf die Tradition des Sonne-Anbetens im Yoga.
Meine Mutter hat diese Angewohnheit: Immer, wenn wir in der Stadt unterwegs sind und aus einer schattigen Straße auf einen sonnigen Platz treten, stoppt sie plötzlich, hält ihr Gesicht in die Sonne und sagt: „Sei mal still!“ Als ich klein war, fragte ich mich immer, warum sie das macht. Die Sonne beschien sie ja schließlich unabhängig von meinem oftmals ungebremsten Redefluss. Heute weiß ich: Instant-Meditation. Oder Surya Namaskara. Und das heißt im buchstäblichen Sinn: „der Sonne Verehrung erweisen“. Meditation auf das Licht erhellt und erfreut den Geist, sagt auch Meister Patanjali in Yogasutra 1.36: „… (man richte den Geist auf) das Leuchten, welches weg vom Leiden führt.“ Wie das funktioniert, spüren wir bei jedem Wetter-Hoch, wenn sich die Wolken lichten und die innere Freude aufsteigt wie 99 Luftballons. Probleme jeglicher Art sehen dann aus dieser Happy-Birds-Perspektive winzig und überwindbar aus.
Yogis tanken Solarenergie
In der Sonne tanken wir Energie und strotzen vor Kraft. Tatsächlich kommt mit jedem Sonnenstrahl elektromagnetische Energie auf die Erde. Und zwar in Mitteleuropa im Hochsommer so um die 700 Watt pro Quadratmeter. Was der Leistung von ungefähr 1,5 Thermomixern entspricht. Diese Energie war für die alten Yogis göttlich – die Shakti der Sonne, Savitri. Im Savitri Gayatri Mantra wird sie (noch heute) verehrt:
„Om – Erde, Himmel und Götterhimmel,
wir meditieren auf die Quelle, die alles bewegt.
So möge diese höchste Freude,
welche das Licht des Göttlichen ist,
unsere Gedanken inspirieren.“*
Auch in einer ursprünglichen Variante des Sonnengrußes Surya Namaskara wird der Solarenergie gebethaft gedacht: In jeder Pose hält man im Kumbhaka (Atempause) inne und rezitiert im Geiste Mantras: Es gibt vedische (die eigentlich nur Brahmanen vorbehalten sind), Bijas (die Keimsilben der Energieform) und die sogenannten Laukika-Mantras – die weltlichen, die alle singen dürfen. Eines der Laukika-Mantras ist „Om Namah Suryaya“. Surya ist der vedische Sonnengott, der nach alter Vorstellung jeden Tag von Ost nach West in einem Wagen über den Himmel fährt. Mit jeder Asana wird mit einem neuen Vers einem anderen Aspekt der Sonne gedacht: dem Licht, dem Nährenden, dem Aufgehenden, dem Vergehenden, dem Wärmenden, dem Bewegenden. (In dieser andächtig-ruhigen Variante des Sonnengrußes wird einem übrigens noch wärmer als im hastig durchgeturnten …)
Surya oder das Loch im Himmel
Als die göttliche Dreifaltigkeit Brahma-Vishnu-Shiva die spirituelle Bilderwelt Indiens bestimmte, gab es noch eine andere Erklärung für die Sonne: Man stellte sich die Welt in drei Schichten vor: Die Erde war eine Scheibe und das Himmelszelt trennte sie vom feurigen Götterhimmel. Natürlich wurde die Erde (mal wieder) von einem Dämon bedroht. Und (wie immer) erschien daraufhin Vishnu, der James Bond unter den Göttern, als Retter. Diesmal wiegte er den Dämon Bali in Sicherheit, indem er als harmloser Zwerg auftrat. Er bat bescheiden um Platz für seine Feuerstelle. Kaum wurde ihm das gewährt, da lief Mini-007 im Namen ihrer Majestät (in diesem Fall des Götterkönigs Indra) mit drei Schritten um die ganze Welt herum, um die Besitzverhältnisse ein für alle Mal klarzumachen. Dabei bohrte er mit seinem großen Zeh ein Loch in das Himmelszelt, sodass der aus Feuer bestehende Götterhimmel dahinter sichtbar wurde. Dass wir die Sonne am Himmel sehen, ist also quasi ein Kollateralschaden.
Sonne und Mond: Ha und Tha
Reinhard Gammenthaler beschreibt in seinem Buch „Kundalini Yoga Parampara“ echte Yogis als Sonnenanbeter und ein andächtiges Sonnenbad als Teil der yogischen Praxis: „Durch die Hingabe an das göttlichste unter den Gestirnen erwacht das Bewusstsein für die Schönheit und Mystik des gesamten Planetariums. Shiva, der Mond, wird nur sichtbar, wenn er von den Strahlen der Sonne, der Shakti, beleuchtet wird. Ohne sie würde alles im Dunkel der Formlosigkeit verschwinden. Nur sie vermag allen Dingen in diesem Universum Gestalt und Leben zu verleihen.“ Ob es das ist, was meine Mutter im Sinn hat? Wahrscheinlich intuitiv: ein natural born Yogi. Jetzt aber raus mit Ihnen. Und eincremen nicht vergessen!
Sybille Schlegel leitet ihre Hatha Vinyasa Parampara Yogaschule in Mainz und unterrichtet Workshops sowie Teacher Trainings in verschiedenen Städten Deutschlands. Mit viel Sonne im Herzen engagiert sie sich dafür, das alte Yogawissen und die Tradition lebendig zu halten. www.hathavinyasa.de
Foto: Matthew Kane/ www.unsplash.com
*Übersetzung der Autorin