Yoga-Mythbuster: “Practise and all is coming”?

Oder: Ist Yoga nur eine Sache von ausreichender Kraft, Flexibilität und Übung?

In unserer neuen Mythbuster-Kolumne wagt Yogalehrerin Eva den Blick hinter die perfekte Yoga-Kulisse: Neue Sichtweisen treffen auf manchmal unbequeme Fragen und eine ordentliche Portion Humor. Heute geht Eva der Frage nach: Kann jeder Körper jede Asana schaffen? Und muss das überhaupt sein?

Bewusst wähle ich zum Einstieg das hochproblematische Zitat vom nicht minder hochproblematischen Pattabhi Jois, der für seine menschen- und frauenverachtenden Praktiken im Yoga inzwischen hoffentlich auch einer breiteren Masse bekannt sein sollte (könnt ihr also bitte aufhören, dieses Zitat zu posten?). Neben dieser Tatsache zeige ich heute aus einem physiologischen Blickwinkel auf, dass diese Aussage schlichtweg unwahr ist: Lasst uns über Knochen und das menschliche Skelett sprechen!

Ich möchte die Antwort vorwegnehmen und diesen Artikel dem Thema widmen, warum es tatsächlich sein kann, dass du einzelne Asanas nie (vollständig) einnehmen können wirst, und dass diese Tatsache nichts (!) mit Übung bzw. Trainingsfaulheit zu tun hat. Und es hat in einigen Fällen ebenfalls nichts mit deiner Kraft oder Beweglichkeit zu tun! Denn: Jeder Körper hat eine ganz eigene Knochenstruktur, Knochenlängen und Hebelverhältnisse, und diese sind durch Training nicht veränderbar. Ich möchte den Sachverhalt heute ansprechen, weil ich das Gefühl habe, dass dieses Wissen im deutschsprachigen Raum noch zu wenig Verbreitung gefunden hat. Pioniere in der Arbeit mit diesen Themen, zumindest im Yogabereich, sind definitiv Bernie Clark und Paul Grilley. Clark hat das Bewusstsein der individuellen Anatomie maßgeblich mit geprägt. Leider nur im Bereich des Yin Yoga arbeitet Paul Grilley.

Ungewöhnliche Knochenlängen

Mich begleiten ungewöhnliche Knochenlängen tatsächlich seit dem Tag meiner Geburt: Meiner Mutter fielen meine langen Daumen auf und sie fragte sogar bei einem Arzt im Krankenhaus nach, ob er so etwas schon mal gesehen hätte. Meine Musiklehrerin hingegen war entzückt und rief sogar bei uns zu Hause an und fragte, ob ich nicht Klavierstunden nehmen möchte. Die Spannweite zwischen meinem Daumen und kleinen Finger sei ungewöhnlich und ich hätte ergo perfekte Voraussetzungen, um auch weit voneinander entfernte Tasten gleichzeitig spielen zu können.

Postwendend kam die Absage meines Vaters (ein sehr erfolgreicher Leichtathlet), der mich wiederum quasi von Kopf bis Fuß vom Arzt seines Vereins vermessen ließ – und früh war klar, dass ich nie wie eigentlich erträumt eine Hochspringerin werden könnte: “Viel zu schwer und steif im Rücken. Lass sie rennen oder Diskus werfen!” Schon hier sieht man: Ein Körper kann definitiv für gewisse Disziplinen besser oder schlechter geeignet sein…

Lesetipp: Warum Asanas im Yoga nicht alles sind

Jeder Körper hat andere Fähigkeiten

Nach der Pubertät hat das Skelett seine Grundform erreicht, wenn man davon ausgeht, dass ihm hoffentlich keine Deformationen durch äußere Einflüsse zugefügt werden und die degenerativen Prozesse, z.B. durch die Alterung, zunächst ausklammert. Und: Jede Person hat eine einzigartige Knochen- und Gelenkstruktur! Diese Tatsache ist sogar nicht nur (wie in meinem Beispiel) auf die Längenverhältnisse bezogen, sondern es haben auch die verschiedenen Intensitäten der wachstumsbedingten Torsionen einen Einfluss auf die Fähigkeiten des jeweiligen Körpers. 

Welches Bewusstsein sollten wir auf Basis dieser Erkenntnisse also entwickeln, egal ob wir Lehrer*innen, Trainer*innen oder Übende sind?

Gute Lehrer*innen verstehen deinen Körper

Einige Asanas werden für bestimmte Körpertypen nie zugänglich sein, unabhängig davon, wie viel Yoga sie machen. Und: Zu wirklich jeder Regel in der Anatomie gibt es Ausnahmen und Abweichungen. Suche dir Lehrer*innen, die genau hinschauen. Eine Person, die keinen Leistungsdruck aufbaut, sondern sieht, wenn dein Körper eine natürliche Grenze erreicht hat. Jemand der dir dabei hilft, Endpunkte deiner Flexibilität unterscheiden zu lernen und dich so befähigt, Kompression (Knochen zu Gewebe) und Muskelwiderstand zu erspüren. Ganz wichtig: Lass dir nicht von Instagram und Co. diktieren, wie eine Asana auszusehen hat.

Interessierte Lehrer*innen wollen Übungen finden und Anleitungen geben, die für jedes Individuum innerhalb einer Klasse funktionieren – anstatt universeller Hinweise trotz der einzigartigen Anatomien. Denn während man in Personal-Yoga-Stunden nur eine Person vor sich hat (ebenso wie im traditionellen Yoga), ist der Personenanzahl in Gruppenkursen, je nach Gegebenheiten, scheinbar kein Limit nach oben gesetzt. 

Lesetipp: 10 Maximen für Yogalehrer von Mark Stephens

Jagd nach dem Unerreichbaren

Immer wieder wird mir berichtet, dass Übende sich schlecht und nicht spirituell genug fühlen, weil sie diese und jene Asana noch nicht beherrschen, und sich daraufhin auferlegen, “noch härter arbeiten zu müssen”. Die Jagd nach dem Unerreichbaren hat begonnen. In einer (Yoga-)Welt, die uns glauben macht, dass man lediglich härter und länger trainieren muss um “besser” zu werden, zeigt die Wissenschaft, dass nicht jeder Körper in der Lage ist, jede Asana zu erreichen. Einfach aufgrund einzigartiger anatomischer Unterschiede. Das Festhalten an dogmatischen Ausrichtungsregeln, die für alle Menschen gelten sollen, ist ergo ein Missverständnis, das gegen wissenschaftliche Erkenntnisse verstößt. Es gibt tatsächlich keine universelle Ausrichtung, die für jede Asana gilt, und es gibt auch keine perfekte Ausführung, die für jede Person gilt. Jeder Körper hat unterschiedliche Fähigkeiten, von denen einige eben verändert bzw. trainiert werden können, und andere eben nicht.

Mein Schlusswort bringt es hoffentlich auf den Punkt: Es gibt keine einzige (!) Asana, die jeder menschliche Körper erreichen kann. Denk mal drüber nach!


Unsere Mythbuster-Kolumnistin und Yogalehrerin Eva kommt ursprünglich aus dem Leistungssport. Aufgrund einer gesunden Neugier liebt sie es, sich mit anatomischen Fragen auseinanderzusetzen und so den eigenen Körper besser zu verstehen. Zusätzlich nutzt sie ihr Wissen, um die Yogawelt immer inklusiver zu machen. Mehr Infos auf Instagram: @yogacycle_by_eva. Porträtbild: Sonja Netzlaf www.sonjanetzlaf.com

Titelbild: Photo by Liveology on Unsplash

6 Kommentare

  1. Wow, was für krasse Wahrheiten sie hier knallhart und ungeschminkt aufs Tablett bringt. Echt Mythbuster. Ich habe auch noch ein paar Infos, das gibt garantiert noch Knallerartikel: Wenn du dich nach dem Baden abtrocknest, dann ist das Handtuch nass und der Körper trocken. Am Tag ist es hell und in der Nacht dunkel! Der Winter ist viel kälter als der Sommer! Bitte leitet diese Infos weiter, sie dürfen nicht länger verborgen bleiben.

    • Hi lieber Matthias,
      freut uns, dass es für dich nix Neues war und du bereits zu der Einsicht gekommen bist.
      Uns erreichen aber tägliche viele Anfragen und Kommentare von Lesern, die genau dieses Thema beschäftigt. Gerade Yoga Anfänger sind oft verunsichert, da sie denken, sie MÜSSTEN jede Asana nachmachen können und sind dann verständlicherweise frustriert, wenn es dann nicht klappt. Deswegen haben sich sehr viele Leser genau über diesen Artikel sehr gefreut.
      Alles gute für Dich!
      Dein Yogaworld-Team

  2. Hallo Eva, Danke für deine Artikel, klar kann man sagen, wissen wir doch- aber eben auch nicht. Ich selbst habe zahlreiche Yogaklassen besucht, bei denen vom Lehrer der Eindruck vermittelt wurde, mehr üben, dann wird es schon, ohne dass dieser L. Einmal genau auf die individuellen Körper schaute, die da übten. Das ist nicht im Sinne des klassischen Yoga. Ich zitiere sehr gern R.Sriram, der sinngemäß sagte, Yoga solle an den einzelnen Menschen angepasst werden und nicht umgekehrt. Glücklicherweise verdanke ich meine Yogalehrer Ausbildung u.a. Wolfgang Keßler, der uns anatomisch korrekt das Korrigieren der Ananas vermittelte und unseren Blick auf individuelle körperliche Gegebenheiten schärfte. Und manches geht trotz voller Hingabe einfach nicht.
    Liebe Eva, bitte mache weiter!! Herzliche Grüße, Isabelle

  3. Hallo,
    ich dachte immer, dass sich das Zitat darauf bezieht, dass man über die Erfahrungen des Körpers tiefer ins Yoga einsteigt über die Asanas hinaus. Ich hätte jetzt nie gedacht, dass es sich darauf bezieht, dass man jede Asana können muss oder immer noch mehr üben muss. Daher bin ich jetzt verwirrt und werde sicherlich noch weiter dazu recherchieren.

  4. Hallo Andrea, was du oben beschreibst, ist richtig und gut Vor allem auch, dass du die großen Verdienste von Bernie Clark und Paul Grilley aufführst, die mit als erste darüber gesprochen und geschrieben haben, dass unser aller Körper sehr unterschiedlich sind und damit verbunden unsere Möglichkeiten, Asanas auszuführen, bisweilen begrenzt sein können.
    Jedoch hat sich Patthabi Jois mit seinem “do you practice and all is coming” nicht darauf bezogen, dass wenn wir nur genug üben, jede Asana ausführen können, sondern meint er damit, dass wenn wir den achtgliedrigen Pfad umfassend in unser Leben integrieren, Yoga komplett durchdringen und körperliches, seelisches und geistiges Wohlbefinden erfahren. Das genannte Zitat ist immer auch im Zusammenhang mit seinem zweiten bekannten zu betrachten: Yoga is 99 percent practice and one percent theory. Nur durch eine eigene regelmäßige Praxis (des kompletten achtgliedrigen Pfads) kann man die Vorzüge des Yogas voll umfänglich erfahren.

  5. Vielen Dank, Ulrike, genauso habe ich es auch verstanden. Wenn wir Yoga allein als das Wollen in einer Asana verstehen, dann verfehlt es seinen tieferen Sinn. Es macht durchaus Sinn, sich mit der dahinterliegenden Philosophie zu beschäftigen, wenn wir den Yoga wirklich verstehen wollen, um ihn in unser Leben zu integrieren. Unser Körper gibt uns in seinen Möglichkeiten und auch seinen Begrenzungen, den Raum, etwas zu erfahren, um ein tieferes Bewußtsein zu erlangen.

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