Achtsamkeit in der Hirnforschung

“Achtsamkeit ist ein Lebensweg”, sagt die Lehrerin für Yoga- und MBSR (achtsamkeitsbasierte Stressreduktion), Britta Hölzel. Gleichzeitig erforscht sie mit den Mitteln der modernen Hirn­forschung die Wirkung der Achtsamkeitspraxis. Ein Gespräch über Missverständnisse im Achtsamkeitsboom, über Methoden und Grenzen der Forschung – und über Absichtslosigkeit in der Absicht.

YJ: Ein Blick auf den Buchmarkt (und in Ihr aktuelles Buch) weckt den Eindruck: Achtsamkeit verbessert das Leben quasi von der Schwangerschaft bis zum Sterbebett. Wo liegen die Grenzen dieses Allheilmittels?
Ich denke, die Grenzen liegen vor allem dort, wo man erwartet, dass kurze Programme Wunder bewirken. So wird es ja im Moment häufig eingesetzt: Man denkt, man macht einen Acht-Wochen-Kurs und danach ist alles gut. Achtsamkeit ist aber ein Lebensweg, eine Haltung. Wenn man sich ernsthaft darauf einlässt, kann sie eine ganz starke transformative Wirkung haben, aber sicher ist das kein „Quick-Fix“, der etwas wieder in Ordnung bringt, und sonst geht alles weiter wie gehabt.

YJ: So wird es aber häufig verstanden – zum Beispiel, wenn Firmen ihre Mitarbeiter in Achtsamkeit schulen, um Stressresistenz und Leistungsfähigkeit zu verbessern …
Genau. Dabei muss man diese Haltung schon wirklich ins Leben bringen, damit sie wirken kann. Wenn sie das aber tut, dann macht sie sehr viel: Ganz einfach dadurch, dass man sich weniger mit den eigenen Schwierigkeiten identifiziert, dass man weniger Stress erzeugt, weil man nicht so daran anhaftet, wie die Dinge vielleicht sein sollten.

YJ: Sehen Sie diese breite Anwendung und große Popularisierung von Achtsamkeit eher als Chance oder als Problem?
Im Moment sind sehr viele Stimmen zu hören, die davor warnen, dass Achtsamkeit zu sehr verwässert wird – gerade wenn sie zur Selbstoptimierung oder zur Optimierung der Arbeitskräfte verwendet wird. Ich glaube aber, wenn man die Praxis wirklich ernst nimmt, dann stellt sich diese Gefahr gar nicht so dar. Achtsamkeit geht ja damit einher, dass wir uns selber besser spüren, dass wir uns auch besser so akzeptieren lernen, wie wir sind. Deshalb ist mein Vertrauen in die Praxis, dass sie diesen Selbst­optimierungszwang selbst ein Stück weit aushebelt.

YJ: Anstatt sich selber zu akzeptieren, wird die Praxis aber häufig so interpretiert, dass man eher die Verhältnisse akzeptiert und versucht, besser mit ihnen umzugehen. Stefan Schmidt nennt das in Ihrem Buch eine „kollektive Selbstregulierung“, die ein krank machendes System eher stützt als aufbricht.
Naja, man hört aber auch immer mal wieder von Menschen, die nach einem Achtsamkeitskurs in einem Unternehmen kündigen, das an unguten Strukturen festhält. Ich glaube, dass der Begriff der Akzeptanz bei uns oft ein bisschen missverstanden und überbetont wird. Wenn man in die buddhistischen Schriften schaut, dann kommt zu dieser Haltung des Anschauens ohne sofort zu reagieren auch immer noch etwas anderes, nämlich eine Unterscheidungsfähigkeit, die genau erkennt: Was sind die heilvollen Zustände oder Geisteszustände und was sind die unheilvollen – und die versucht man zu verbannen.

YJ: Daran schließt sich gleich ein zweites, weit verbreitetes Missverständnis an: Dass in der Achtsamkeit grundsätzlich nicht gewertet und geurteilt werden sollte …
Ja, das war für mich auch immer ein Punkt, über den ich gestolpert bin. Ich glaube, das wird bei uns im Westen so stark betont, weil wir das Werten und Urteilen so absolut übertrainiert haben, während wir uns mit der Akzeptanz oft sehr schwer tun. Aber dabei darf nicht das Missverständnis entstehen, dass es darum ginge, nichts mehr zu bewerten. Das funktioniert auch gar nicht, wenn man ein Leben leben will in dieser Welt. Wichtig ist nur, Anhaftungen und Vermeidungen zu erkennen – wo zieht es mich hin, wogegen habe ich Widerstände – und dann nicht unmittelbar auf jeden Impuls zu reagieren, sondern auszusteigen aus diesem automatisch ablaufenden inneren Kommentieren. Denn das ist etwas ganz anderes, als mit Weisheit unterscheiden zu können: Was ist gesund, zuträglich und gut auch für die Welt – und was ist all das nicht.

Achtsamkeit und Forschung

YJ: Welche Rolle spielt die gute wissenschaftliche Erforschung bei der Erfolgsgeschichte von Achtsamkeit?
In unserer Gesellschaft wird all das einfach als sehr wichtig erachtet. Dazu kommt derzeit eine große Begeisterung für die Hirnforschung – auch das spielt sicher eine Rolle, wenn man heute so viel über Achtsamkeit spricht.

YJ: Können Sie vielleicht einmal kurz skizzieren, wie man sich die Erforschung von Achtsamkeit vorstellen kann?
Das ist schwierig: Die Forschung ist sehr vielfältig und zum Teil auch unübersichtlich. Da gibt es psychologische Studien mit gesunden Teilnehmern, es gibt klinische Untersuchungen über die Wirksamkeit bei verschiedenen Beschwerden und schließlich die neurowissenschaftliche Forschung, in der ich hauptsächlich arbeite. Die einen fragen, was die Achtsamkeitspraxis bewirkt, die anderen schauen eher, wie sie wirkt – und das mit teilweise sehr verschiedenen Fragestellungen und Methoden.

YJ: Und in der neurowissenschaftlichen Forschung schieben Sie Ihre Testpersonen in den Kernspintomographen und geben ihnen verschiedene Aufgaben?
Im Prinzip ja, aber auch da gibt es unterschiedliche Herangehensweisen: Wenn man strukturelle Veränderungen im Gehirn untersucht, kann man zum Beispiel vor und nach einem MBSR-Training messen: Was ist genau passiert? Und dann gibt es funktionelle Studien, die sich die Aktivierungsmuster im Gehirn ansehen. Da würde man entweder die Aktivierungen im Ruhezustand ansehen, oder aber Aktivierungsmuster bei bestimmten Aufgaben. Man zeigt Bilder, Sätze oder Geräusche und schaut: Wie reagiert das Gehirn darauf?

YJ: Und was schließt man aus diesen Aufnahmen?
Noch gibt es keine absoluten Kenntnisse oder Standards, die uns genau sagen: Das bedeutet jetzt dies und jenes. Wir müssen das interpretieren und dabei greifen wir häufig auf das zurück, was uns die Probanden erzählen. Gerade in der psychologischen Hirnforschung ist noch so vieles offen, dass man das rückschließend zusammensetzt.

YJ: Gibt es schon Aufnahmen eines Gehirns in Samadhi, dem Zustand völliger Versenkung?
(Lacht.) Das ist es, was mich überhaupt zu diesen Forschungen gebracht hat! Das wollte ich wirklich gerne machen, aber bisher hat es sich leider noch nie ergeben. Es gibt aber eine erste Studie von einem Kollegen, der an Non-dualen-Zuständen interessiert ist. Offenbar sind da wesentliche Strukturen anders untereinander vernetzt – aber da braucht es erst noch größere Studien.

YJ: Diese strukturellen Veränderungen sind sehr spannend: Sogar bei weniger erfahrenen Meditierenden scheint sich das Gehirn ja schon umzubauen, die graue Subtanz nimmt an bestimmten Stellen zu. Wie nachhaltig ist das?
Dazu gibt es noch keine Studien. Zu vermuten wäre aber, dass es stark davon abhängt, wie intensiv man weiter praktiziert. Ein Beispiel aus einem anderen Bereich macht das deutlich: Bei Medizinstudenten gab es in der Examensvorbereitung Veränderungen im Hippocampus, die nach den Prüfungen zum Teil wieder zurückgingen. Man muss aber klar sagen: Es gibt noch nicht viele Studien und die wenigen entsprechen sich auch nicht immer. Es kommt auf die Methode an, die verwendete Software – und auf die Hypothesen, von denen man ausgeht: Man findet statistisch gesehen ja eher etwas in den Bereichen, in denen man es erwartet…

Aufmerksamkeit, Emotionsregulation und Selbstwahrnehmung

YJ: Sie haben versucht, die Ergebnisse der Achtsamkeitsforschung etwas zu ordnen und dabei drei wesentliche Wirkmechanismen ausgemacht: Aufmerksamkeit, Emotionsregulation und Selbstwahrnehmung. Folgt das eine auf das andere?
In vielen Meditationstraditionen wird als erster Schritt auf die Steigerung der Aufmerksamkeit Wert gelegt. Aber danach geht alles Hand in Hand: Die Fähigkeit, ein anderes Verhältnis zu sich selbst zu bekommen, hängt davon ab, wie man seine Emotionen reguliert, wirkt aber auch wieder darauf zurück. Die Aufteilung in einzelne Punkte ist also sicher ein Stück weit künstlich, das ist ein komplexes Geschehen. Andererseits ist es hilfreich, um das Thema zu strukturieren und es in die wissenschaftliche psychologische Sprache zu übersetzen.

YJ: Was sind aktuell die Schwerpunkte der Forschungen?
Es fing hauptsächlich an mit dem Thema Aufmerksamkeit oder Konzentration. Aktuell wird die Emotionsregulation stärker untersucht und ich glaube, auch das Selbstgewahrsein rückt allmählich mehr in den Fokus.

YJ: Ein bislang wenig erforschtes Gebiet sind schädliche Auswirkungen der Achtsamkeitsmeditation. Manche Menschen reagieren mit ernsthaften psychischen Problemen. In den USA gibt es dazu das so genannte Dark Night Project …
Das stimmt, wobei die Zahlen dazu sehr gering sind. Für diejenigen, die es betrifft, ist das aber sehr belastend. Ich glaube, gerade bei intensiven Retreats wird nicht immer genügend Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass das sehr transformative Prozesse sind, die erst einmal integriert und verarbeitet werden müssen. Bei Programmen, die auf einem niedrigeren Level gehalten werden – wie etwa die achtwöchigen MBSR-Kurse – halte ich das Risiko dagegen für sehr gering. Da ist der Lehrer auch dauernd im Kontakt mit den Teilnehmern. Außerdem wird die Selbstfürsorge stark betont.

Erst das Ich stärken

YJ: Vielleicht brauchen manche Menschen aber auch einfach etwas anderes. Der Münchner Psychologe Werner Vogt sagte mir, dass er die Achtsamkeitspraxis für problematisch hält, weil viele Menschen eine schwache Ich-Struktur haben und verunsichert sind durch die Relativierung der Werte. Vielleicht muss man das Ich erst einmal stabil ausbilden, bevor man Akzeptanz und eine nicht-wertende Haltung zum Maßstab macht?

Das sagen viele Psychotherapeuten, die sich mit Achtsamkeitspraxis beschäftigen, und ich sehe es auch so. Gerade auf intensiven Retreats hat man manchmal den Eindruck, dass Teilnehmer überfordert sind. Vermutlich weil sie versuchen, auf einem zu schnellen Weg aus ihrem Leid herauszufinden – man spricht da von „Spiritual Bypassing“, also spiritueller Umgehung.

YJ: Wenn wir uns jetzt die Praxis mal genauer anschauen: Der erste Schritt (und die erste Hürde) beim Einüben von Achtsamkeit ist die Schulung der Aufmerksamkeit. Welche Rolle spielt dabei das Meditationsobjekt?
Es kann sehr hilfreich sein, so ein Objekt zu haben. Der Atem, den wir in der Achtsamkeitsmeditation vorwiegend einsetzen, hat den Vorteil, dass er sich im Körper bewegt. Im Yoga ist das ähnlich: Auch da hilft die Bewegung des Körpers, die Aufmerksamkeit zu halten. Ich glaube, wenn man die Praxis gleich mit offenem Gewahrsein beginnt, wo man alle Empfindungen gleichberechtigt zulässt und wahrnimmt, macht man es sich schwerer. Andererseits gehen einige Traditionen gleich dahin – und für manche Menschen funktioniert das auch gut.

YJ: Vielleicht sogar besser? Ist in der Anweisung „Kehre zurück zum Atem“ nicht auch eine Wertung versteckt – nach dem Motto: „Mist, jetzt hab ich es wieder falsch gemacht!“?
Ich hatte gerade am Wochenende einen Workshop und Sie haben Recht: Da treten diese Bewertungen darüber, wie die Praxis sein sollte, ganz häufig auf. Es stellt sich die Frage: Wie wäre es, wenn man diese Instruktion nicht geben würde? In meiner eigenen Praxis mache ich auch etwas ganz Formloses und setze mich einfach hin. Trotzdem unterrichte ich es anders und wir machen im MBSR auch sehr gute Erfahrungen damit. Aber es stimmt: Erst mal ist es eine Baustelle. Aber auch ein Lernort, um die Paradoxie der Absichtslosigkeit in der Absicht zu überwinden.

YJ: Diese Paradoxie empfinde ich auch: Jeder kommt mit einer bestimmten Motivation in den Kurs, eine Intention wird für die Praxis sogar als wichtig erachtet. Trotzdem soll man keine Erwartungen haben. Wie soll das gehen?
In unseren Workshops reflektieren wir die Motive und Intentionen und fragen: Kann diese Intention auch so etwas wie eine Grundausrichtung sein, etwas, für das ich mich einfach nur öffne? Dem muss man immer wieder nachspüren und Raum geben. Es ist ein Übungsfeld.

YJ: Um noch mal auf das so genannte offene Gewahrsein zurückzukommen, auf das die Achtsamkeitspraxis ja letztlich abzielt: Kann man überhaupt gleichzeitig den Körper, die Atmung, die Gedanken, die Gefühle und die Umgebung wahrnehmen?
Nein, man weiß ja, dass Eindrücke nicht simultan sondern seriell, also nacheinander verarbeitet werden. Deswegen gibt es auch kein Multitasking. Mit offenem Gewahrsein ist eher eine Art offener Raum gemeint, in dem alle Dinge gleichberechtigt auftauchen dürfen. Wobei da meistens vieles gleichzeitig abläuft und manches eben stärker ins Bewusstsein dringt.

YJ: Ein ähnliches Problem sehe ich bei den gängigen Anweisungen zum Umgang mit Gedanken während der Meditation: Wie kann man gleichzeitig denken und wahrnehmen, dass man denkt. Ist das nicht ein Mythos?
Es stimmt natürlich: Irgendein Impuls ist da, bevor ich mir dessen gewahr werde, aber der Zeitabstand kann sich verringern. Mit mehr Übung merkt man schon nach einem halbsekündigen Bruchteil von einem Gedanken, dass man denkt. Und dann entdeckt man: In dem Moment, wo ich mir der Gedanken bewusst werde, laufen sie nicht mehr auf die gleiche Art ab, sie lösen sich auf – und mehr Gewahrsein entsteht.

 

Achtsamkeit ist Lebensweg_Interview mit Britta HoelzelDr. Britta Hölzel ist Psychologin, MBSR- und Yogalehrerin. Nach Forschungsprojekten unter anderem an der Harvard Medical School und der Charité Berlin ist sie an der TU München tätig. Ihr gemeinsam mit Dr. Christine Brähler herausgegebenes Buch „Achtsamkeit mitten im Leben“ ist bei O.W. Barth erschienen. www.brittahoelzel.de

 


Foto: Stefanie Kissner

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