Das Atmabodha von Shankara gehört sicher nicht zu den Top Five auf der Bücherliste des Yoga. Dabei widmet es sich in großer Tiefe der wahrscheinlich wichtigsten Frage der Yogaphilosophie: Wer bin ich – wirklich?
Text: Sybille Schlegel / Titelbild: Monkey von Business Images via Canva
Die Älteren unter euch kennen sie vielleicht noch: die legendäre und für heutige Verhältnisse unfassbar langsam gedrehte ARD-Quizsendung “Was bin ich?” Bei diesem “heiteren Beruferaten” musste ein Rateteam aus Prominenten die Berufe der Kandidat*innen herausfinden. Die kamen herein und kreuzten auf einer Tafel an, ob sie selbstständig oder angestellt sind. Dann stellte Showmaster Robert Lemke die berühmte Frage, auf die ich als Kind immer hingefiebert habe: “Welches Schweinderl hätten’S denn gern?”
Man wählte ein Sparschwein aus, machte eine für den Beruf typische Handbewegung und einer aus dem Rateteam begann mit dem Interview. Für jede Antwort “Nein” kam ein Fünf-Mark-Stück ins Sparschwein und der nächste Rater beziehungsweise die nächste Raterin an die Reihe. So ging es weiter, bis entweder der Beruf erraten war, zehn Fragen mit Nein beantwortet worden waren oder ich ins Bett geschickt wurde.
Wer bin ich – für Anfänger…
Im Yoga ist die grundlegende Frage nicht “Was bin ich?”, sondern “Wer bin ich?”. Eine Frage, die ich zunächst als völlig überflüssig angesehen habe. Schließlich weiß ich doch ganz genau, wer ich bin – und sollte ich es mal vergessen, genügt ein kurzer Blick in meinen Personalausweis: Ich bin eine Person mit Namen, Geschlecht, Geburtsdatum, Geburtsort und Adresse. Die Kurzversion meiner Biographie auf einer Plastikkarte im Format DIN A7.
Aber bin ich nicht viel mehr als das? Ich betrete also die Bühne einer 80er-Jahre-Show namens “Wer bin ich?” (die sagenhafte 34 Jahre lang lief, von 1955 bis 1989). Das Publikum klatscht wohlerzogen. Auf einer Tafel kreuze ich “weiblich” an und mache eine für mich typische Handbewegung: Ich lege Daumen und Zeigefinger zusammen und spreize die anderen drei Finger ab. Dann setze ich mich, wähle das rosa Schweinderl und überhöre die erste Frage des Rateteams, weil ich noch darüber nachdenke, ob diese Handbewegung eigentlich noch typisch für mich ist oder nicht? Schließlich unterrichte ich kein Yoga mehr, sondern arbeite in einem Büro.
Ich muss an ein Gespräch mit einer Schülerin denken, die mich nach einer meiner letzten Stunden gefragt hatte: “Wer bist du denn, wenn du nicht mehr unterrichtest?”. Die Fragerin aus der Raterunde wiederholt leicht pikiert: “Haben Sie Kinder?” “Ja, eins.” “Dann sind Sie Mutter?” “Äh, ja.” Bingo: Ich habe mit Ja geantwortet. Das Rateteam hat gewonnen. “Aber doch nicht nur!”, protestiere ich. Lemke gratuliert der ehemals bekannten Schauspielerin aus seinem Team zur schnellen Auflösung und verabschiedet mich. Ein kurzer Spaß. Ich sitze backstage und bin verwirrt: Ich bin das, was ich beruflich tue.
Ich bin Mutter, aber auch Tochter, Schwester, Gattin, Freundin, Nachbarin, Unbekannte. Je nachdem, neben wem ich stehe, bin ich groß oder klein, dick oder dünn. Ich bin meine Vorlieben, Abneigungen und Ängste. Ich bin die, die ich mit drei Jahren war und die heute mit 48. Ich bin lieb, nett, wild, laut und leise. Ich bin alle Adjektive, die ich nach den Satzanfang “Ich bin” setzen würde. Aber bin das wirklich ich? Ich seufze leicht, denn ich bin offensichtlich so viel – nur eines nicht: beständig eins.
… und für Fortgeschrittene
Nach mir tritt ein weiterer Kandidat ins Scheinwerferlicht. Sein Name ist Shankara und er sieht ziemlich alt aus. Er schaut milde lächelnd auf die Tafel, ohne etwas anzukreuzen, steht gelassen vor dem jetzt verhaltener klatschenden Publikum, dann setzt er sich. Lemke versucht die Situation mit seinem flotten Spruch zum Schweinderl zu retten. Shankara bittet den Quizmaster, selbst ein Schwein auszusuchen – ihm sei es gleich, welche Farbe oder ob er überhaupt eins bekommt. Das Publikum wird unruhig, denn jeder hat doch ein Schwein zu wollen!
Der Oberstaatsanwalt in der Raterunde beginnt mit dem Fragen, was allerdings angesichts der aktuellen Stimmung im beschaulichen ARD-Studio eher wie ein Verhör wirkt: “Da Sie uns das Kreuz verweigert haben, sind Sie männlich?” Shankara schüttelt den Kopf. Fünf Mark klirren ins Sparschwein. Die Schauspielerin ist dran: “Dann sind Sie weiblich?” Negativ. “Sind Sie divers?” “Nein,” sagt Shankara lächelnd. Lemke rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Die nächste Frage: “Ihr Name wirkt indisch, sind Sie Inder?” “Nein, ich habe keine Staatsangehörigkeit.” Fünf Mark ins Schwein. “Sind Sie ein Philosoph?” “Nein.” Klirr. “Ein Anarchist?” “Nein.” Klirr. “Haben Sie im Mai Geburtstag?” “Ich wurde nicht geboren.”
Es gibt Tumult im Publikum und fünf Mark ins Schweinderl. “Aber Sie sitzen doch hier vor uns. Ich kann Ihren Körper genau sehen.” “Ich bin nicht mein Körper.” “Sie denken wohl, Sie können uns veräppeln”, knurrt der Oberstaatsanwalt. “Nein,” lächelt Shankara. “Ich bin nicht meine Gedanken.” Es klirrt lauter als zuvor: Lemke hat wild gestikulierend das Sparschwein vom Tisch geschmissen. Er ringt um Fassung: “Aber wer sind Sie denn?” “Ich bin das,” erklärt Shankara lächelnd. Die ARD bricht die Übertragung ab…
Die Antwort auf die logische Frage
Zu Hause angekommen, greife ich ins Bücherregal. Mit ist eingefallen, dass ich vor Jahren mal ein Buch dieses mysteriösen Spielshow-Kandidaten Shankara gekauft habe: “Atmabodha. Das Erkennen von Atman.” Ich habe die Übersetzung von einem gewissen Raphael, aber die Fassung enthält zum Glück auch die Sanskrit-Verse, wenngleich ohne Devanagari-Schrift. Beim großen Onlinehändler gibt es noch drei weitere Übersetzungen, eine davon ein gratis Kindle.
Dennoch: das Atmabodha gehört bisher ganz sicher nicht unter die Top-Five-Must-Reads der Yogaszene. Ich hatte meine Fassung vor ein paar Jahren erstanden, weil es Workshopthema meiner Lehrerin auf einem Jivamukti-Retreat nahe des Chiemsees sein sollte. Am Ende haben wir doch ein anderes Thema behandelt und das schöne grüne Buch wanderte ins Regal.
Aber wie es so schön heißt: Die Dinge kommen zu einem, wenn man bereit ist. Und die Frage “Wer bin ich?” wurde für mich in den letzten Jahren und Monaten immer wichtiger. Ich wusste natürlich, dass dieses “Wer bin ich?” die Frage im Yoga ist, in meinem Lieblingsbuch “I am that” von Sri Nisargadatta Maharaj geht es Seite für Seite darum. Doch erst jetzt fühlt sich die Frage authentisch an: Sie kommt ehrlich aus mir selbst heraus.
Also powerlese ich das Atmabodha an einem Samstagnachmittag, so wie ich es gelernt habe: Vers für Vers auf Sanskrit chanten, kontemplieren, die Übersetzung lesen, selbst übersetzen, kontemplieren, notieren. Es sind 68 Verse. Schlicht, in einfacher Sprache formuliert. Keine blumige Poesie. Aber, oh Mann, was für eine Klarheit darin liegt! Was für eine Liebe. Shankara hat es echt drauf, denke ich. Er weiß, wovon er schreibt, weil er es ist. Anders ist diese Klarheit nicht möglich.
Die Essenz des Seins
Wie der Titel schon sagt, geht es um Atman. Davon hat man sicher in der Yogawelt, im Teacher Training oder sonstwo schon mal gehört: Atman ist die individuelle Seele, Atman, das bist du. Aber wer ist das eigentlich? Schon oft habe ich in meinen Artikeln die Chandogya Upanishad zitiert, in der es ebenfalls um diese Frage geht und die Antwort der Weisen lautet dort: “Das Reale ist Brahman. Und Brahman ist Atman. Und das bist du: Tat twam asi.” Atman ist also das, was ich wirklich bin, das was identisch ist mit Brahman. Nur das ist für die philosophische Richtung Advaita Vedanta real oder wirklich, denn es ist beständig und ewig, unwandelbar und einzigartig. (Schau dich mal um, was in deiner Umgebung so darunter fällt. Genau: nichts.)
Brahman ist der Urgrund, die Ursache und die Essenz des Seins. Diese Wirklichkeit jenseits von Zeit und Raum, jenseits von Sinneseindrücken und Kenntnis durch den Geist, kann durch uns Menschen erkannt werden. Da sie gekennzeichnet ist von Glückseligkeit und tiefem Frieden, können wir uns mit ihr sogar mehr identifizieren als mit unseren persönlichen Merkmalen, unserem vergänglichen Körper, dem flüchtigen und unsteten Geist. Das behauptet jedenfalls Shankara im Atmabodha.
Wege der Erkenntnis
Zum Glück erwähnt er gleich eingangs die Zielgruppe für diesen Lehrtext:” “Alle, die nach Befreiung streben, von Irrtum (Avidya) gereinigt, in Frieden und frei von Begehren sind” (AB 1). Da gehöre ich noch nicht so ganz dazu. Aber immerhin mit dem Streben kann ich mich anfreunden und da ich gerne frühzeitig über meine Destinationen informiere, lese ich weiter und lerne: Atman kann ausschließlich durch Erkenntnis erfahren werden. Das Atmabodha auswendig lernen reicht also nicht. Die Erkenntnis – und damit das automatische Verschwinden von Avidya (Irrtum) – wird von Shankara in mehreren Bildern beschrieben: Wie die Sonne, die Dunkelheit vertreibt, wie Feuer, das seinen Brennstoff auffrisst. Atman ist überall und, da identisch mit Brahman, Urgrund, Ursache und Essenz von allem, das existiert.
Das Problem: Atman kann nicht über die Sinne und den Geist – das Dreamteam für die Wahrnehmung der Außenwelt – erkannt werden, da er “wie ein Kristall die Farbe seiner Umgebung annimmt” (AB 15). Oder “wie der Mond sich scheinbar bewegt, wenn er sich in den Wellen von Wasser spiegelt” (AB 22). Atman in der Außenwelt zu finden, ist daher unmöglich, sagt Shankara, denn unser Geist fällt immer wieder auf die stärkeren, verdeckenden Sinnesreize rein. Abgesehen davon, ist es Atman, der sowohl die Sinne als auch den Geist mit Bewusstsein erleuchtet (AB 28), denn seine Natur ist die Erkenntnis, dadurch braucht er nur sich selbst zu dieser und nichts sonst. So wie eine Lampe keine andere Lampe braucht, um zu leuchten (AB 29).
“Atman ist wie die Sonne des Herzens, die die Dunkelheit zerstreut, strahlend auf ewige Weise, alles erleuchten lassend.“ (AB 67)
Im Intellekt, den wir als Mahat oder Buddhi kennen, kann sich das Erkennen widerspiegeln (AB 17) – wir merken es also. Das ist der Moment, sagt Shankara, in dem sich die verdunkelnden Wolken von der Sonne wegziehen und sie frei geben (AB 43). Wie bei den Simpsons im Vorspann. “Atman ist wie die Sonne des Herzens, die die Dunkelheit zerstreut, strahlend auf ewige Weise, alles erleuchten lassend.” (AB 67) Das Problem ist, dass wir meistens den Geist oder das Ego für Atman halten (AB 27).
Alles ist eins
Shankara nennt es Jiva: Unser Verständnis für uns selbst als Person, basierend auf der Identifikation mit Körper, Geist und Geschichte. Das, was “ich” und “mein” sagt. Diese Identifikation nennt er Unwissenheit (Avidya), welche durch die Erkenntnis des Atman zerstört wird. Klingt rabiat. “Ersetzt” oder “ausgetauscht” wäre ebenso richtig. Wichtig ist nur zu verstehen, dass es ein entweder oder ist. Man kann sich nicht gleichzeitig für Sybille Schlegel, 48, etc. pp und Atman halten.
“Shankara vergleicht die Aufgabe der Ego-Person mit einer Larve in einem beengten Kokon, die zum frei flatternden Schmetterling wird.”
Ach so, denke ich. Deshalb waren die Antworten von Shankara in der Quizsendung so komisch: Jede einzelne war eine Jiva-Frage. Die er – ganz im Atman aufgegangen – natürlich nicht beantworten konnte. Shankara sagt, dass mit dem Atman-Erkennen alles eins wird: das Universum in sich und alles in Atman sehend. (An dieser Stelle ist es Zeit für einen kleinen Ego-Test: Ja. Meins ist aktiv: Hoho, das Universum bin ich. Alles meins, meins, meins…).
Wie andere Yogatexte erklärt auch Shankara, dass zur Erkenntnis die Bereitschaft zur aktiven Aufgabe der Ego-Person gehört. Es ist aber eine Befreiung des Jiva, eine Befreiung von Leid basierend auf Körper und Geist (AB 32-34). Er vergleicht es mit einer Larve in einem beengten Kokon, die zum frei flatternden Schmetterling wird. Zur Befreiung gehört also das Ablegen der Fesseln, die wir aus Gewohnheit und Unkenntnis gar nicht bemerken.
Übung zum besser verstehen
1) “Meditiere auf Atman”, rät Shankara. Stetig und hingebungsvoll. Ein bisschen komplex, wenn man auf ein Objekt meditiert, das eigentlich keines ist. Beginne daher mit einer Kontemplation auf die Frage: Wer bin ich?
2) Neti Neti, die Praxis des Verneinens (Sanskrit: na iti, nicht jenes). Da Atman ungeboren und unvergänglich ist, ungebunden von Zeit und Raum, schaue dich um und frage dich: Ist das Atman? Neti Neti …
Unsere Philosophie-Expertin Sybille Schlegel stieß vor Jahren auf diesen Text, hat ihn aber erst kürzlich gelesen. “Zum Glück”, sagt sie, “denn damals hätte ich nicht ein Wort verstanden.” Heute spürt sie großen Respekt vor einem Yogameister, der in einfachen Worten das Unbeschreibliche nahezu begreifbar macht. Mehr über Sybille erfährst du auf ihrem Instagram Account.
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