Yoga und Glück: “Was bedeutet dir Glückseligkeit?”

Wie würde ein Yogi Glück definieren? Mit den Weisheitslehren des Yoga und dem Glück ist es so eine Sache: Einerseits strebt der Yogi nicht schlicht nach persönlichem Glück, sondern eher nach spirituellem Wachstum und Selbsterkenntnis – andererseits greift er nach dem Höchsten: der Glückseligkeit.

Gehen wir hinaus und fragen ein paar Menschen: „Was bedeutet Glückseligkeit für dich?“ Wohl die allermeisten werden vom ganz großen Glück sprechen, so wie sie es verstehen: vom persönlich erfahrenen Glück, das vergangen ist, oder von dem, das sie sich noch erträumen. Von einem Glück also, das einmal war oder einmal kommen mag – oder eben auch nicht. Vielleicht begegnen wir einem, der sich gerade jetzt in diesem Moment über den Wolken sieht, schwebend im sprichwörtlichen siebten Himmel, in der Seligkeit der Verliebtheit zum Beispiel oder im Rausch eines soeben errungenen Erfolges. Welch Intensität an Glück! Unübertroffen – solange die Liebe erwidert wird, die Verliebtheit frisch und der geliebte Mensch um uns ist (und dem idealen Bild entspricht, das unser verliebt-verdrehtes Auge sich von ihm gemacht hat). Unübertroffen – solange der Erfolg des Erfolgreichen anhält und nicht zu viele unschöne Nebenwirkungen hat. Doch sogar der anhaltende Erfolg kann bald den schalen Geschmack des Gewohnten und Langweiligen annehmen.

Die Glückseligkeit also, verstanden als das „ganz große Glück“, ist an Bedingungen geknüpft. An ziemlich viele sogar: an das Gegebensein genau jener Umstände und Voraussetzungen nämlich, die wir – sei es bewusst oder nicht – als individuell notwendig erachten, um uns glücklich zu fühlen. Sind sie nicht mehr gegeben, dann sind wir auch nicht glücklich, sondern leiden den Schmerz des Mangels. Die Liebe von gestern wird zum Liebeskummer von heute, der strahlende Erfolg von ehedem zum matten Glanz der Vergangenheit. Und die Hoffnung auf das Morgen kaschiert nur den Schmerz, den wir jetzt fühlen, wo das Glück noch nicht da ist oder nicht mehr. Die Unerfülltheit, das Gefühl des Mangels und das damit verbundene Sehnen nach Glück sind der Treibstoff für das weitere Streben. Es ist die Dunkelheit, die uns nach Licht suchen lässt.

Glück und Schmerz sind also wie zwei Punkte auf derselben Geraden, wechselnde Aufenthaltsorte ein und desselben Pendels, zwei Pole des gleichen Seins. Sie gehören so untrennbar zusammen wie Leben und Tod. Der berühmte Verhaltensforscher Konrad Lorenz, jener Tierpsychologe, der mit den Graugänsen schwamm, sagte einmal: „Es ist unvermeidlich, dass alle Freude mit Leid bezahlt wird.“ Das klingt ziemlich nach Miesepeter! Doch kann Wahrheit nur wahr sein, wenn sie uns auch schmeckt? Was Lorenz sagte, ist eben das, was auch die alten Weisen lehrten: Das Glück, wie wir es verstehen, selbst das allergrößte, ist bedingt: Es hängt an Zeit und Raum, an Ursache und Wirkung, an unserem Körper und Ego. Es ist relativ, begrenzt und vergänglich. Von einem Moment zum anderen kann der Wind sich drehen. Das so verstandene Glück ergibt überhaupt nur Sinn, wenn die Möglichkeit von Unglück mitgedacht wird. Es erfährt seine ureigene Existenz erst aus dem Kontrast zum Schmerz und verhält sich wie der Reichtum zum Elend, wie Groß zu Klein und Licht zu Dunkelheit. Glück und Schmerz sind das Zuckerbrot und die Peitsche des Lebens. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Im Yogasutra, dem wohl wichtigsten Weisheitstext des Yoga, lässt der Autor Patanjali uns im 15. Vers des 2. Kapitels wissen, dass jede Erfahrung in der Welt, wie positiv sie auch sein mag, letztlich im Schmerz enden wird – und sei es nur der Schmerz, dass auch das Schönste einmal enden muss. Ich nenne dieses Sutra auf meinen Workshops gerne das „Spielverderber-Sutra“. Ganz verdichtet sagt dieses Sutra: „Alles tut weh!“ Eine klare Botschaft, auch wenn sie unseren Ohren nicht schmeicheln mag.

In der Sprache der Rishis, der Weisen Indiens, reimen sich die Worte für Glück und Schmerz: Sukha ist das Süße und Angenehme, das, was uns wohlfühlen lässt, glücklich macht. Das deutsche Wort Zucker kommt daher (ebenso wie das englische Sugar und das französische Sucre). Zu viel davon macht bekanntlich krank. Und das Unangenehme in all seinen Facetten – von der kleinen Unzufriedenheit bis hin zum größten vorstellbaren Leid – heißt auf Sanskrit Duhkha. Das bedeutet wörtlich: „negativer Raum“. Alle betreten wir immer wieder die negativen Räume des Lebens, ganz egal, wie sehr wir auch die positiven suchen. Und selbst wenn unser ganzes Leben ein einziges Wandern durch positive Räume wäre (ich habe freilich keinen kennengelernt, dem das vergönnt ist), selbst wenn es also so ein Leben gäbe: Es würde einmal enden. Diese Endlichkeit ist überhaupt das einzige, was sich mit Sicherheit aussagen lässt.

Und nun? War es das? Das ganze Leben nur Sukha und Duhkha, ein Pendeln zwischen Freud und Leid, verbunden mit der vagen Hoffnung, dass das Pendel in meinem speziellen Fall etwas mehr zur schöneren Seite hin ausschlägt? Und dazu die Einsicht, dass sich dann das Pendel für andere mehr zur unangenehmen Seite hinbewegen muss, weil Aktion und Reaktion sich immer ausgleichen: Für meinen Wohlstand zahlt irgendwo ein anderer – ob Mensch, Tier oder Natur – eine mehr oder weniger schmerzhafte Rechnung. Welch Nullsummenspiel! Mystiker wollen wissen, was jenseits des Pendels liegt. Sie suchen, wenn man so will, nach der in sich ruhenden Aufhängung dieses Pendels – oder mit einem anderen Bild: nach der stillen Nabe im Zentrum des sich drehenden Rades der Welt. Und sie sagen, dass da noch etwas Großes ist: nicht Glück als das Gegenteil von Unglück, wie wir es verstehen, sondern wirkliche Glückseligkeit. Sie ist etwas ganz anderes als nur eine extra große Portion Glück: ein Bewusstseinszustand, der über beide Pole hinausgeht, sie transzendiert. Die alten Rishis, Indiens große Seher, prägten das schöne Wort Ananda dafür. Und darin versteckt ist Anda, das Ei. Es steht für das, was sich selbst genug ist, für das, was aus sich selbst heraus wächst und wird, das alles in sich trägt, um zu werden, was es werden soll und zu sein, was es ist. Es steht für die Idee, dass wir kraft unseres eigenen Seins unserer Bestimmung und Vollkommenheit entgegenstreben, dass wir uns im Fluss des Seins Zug um Zug entfalten.

Das Wort Ananda, das so viele Swamis am Ende ihres Namens führen, steht dafür, dass wirkliches Glück transzendenter Natur ist. Es ist zwar nicht von dieser Welt, kann aber in ihr erfahren werden. Die Suche nach Ananda oder Glückseligkeit führt über die Welt hinaus, oder – was im Grunde dasselbe ist – sie bringt das, was über die Welt hinausgeht, in die Welt hinein. Viele Worte fanden die Menschen dafür: Tao, Gott, Brahman oder das Absolute sind nur ein paar davon. Im Yoga nennen wir diesen Zustand Samadhi, das Verschmelzen, Nirvana, das Verlöschen oder Moksha, die Befreiung. Und das Wort Yoga selbst, so wie Patanjali es verwendet, bezeichnet eben jene Transzendenz von Sukha und Duhkha hin zu Ananda.

Glückseligkeit, wie die Weisen sie verstehen, ist eine innere Erfahrung, losgelöst von den Objekten der äußeren Welt. Patanjali beschreibt das so: „Der Seher ruht in sich selbst.“ Alle großen Weisheitslehren versuchen, uns in unser eigenes Inneres zu führen, um zum Höchsten zu gelangen. Laotse, Buddha, Jesus, Patanjali und die Weisen aller Zeiten und Orte laden uns ein, uns selbst zu erforschen und unseren Geist verstehen zu lernen. Sie fordern uns auf, loszulassen, was weh tut, um die Heiligkeit in uns selbst zu entdecken. Ihre Liebe ist bedingungslos, allumfassend, jenseits aller Relativität. Die Erleuchteten fanden die Wahrheit und gaben sie an uns weiter. Alle lehren sie uns, jeden Tag die Augen zu schließen, Mystiker zu werden und nach innen zu schauen. Dort ist Ananda, das vollkommene Glück, das wir sind. Dort und nirgendwo sonst.

„Dein Wesen ist Glückseligkeit“, sagt der fröhliche Swami Satchidananda, jener indische Yogi, der in den 1970er-Jahren in den USA lebte und lehrte. Innerer Friede ist ein anderes Wort dafür. Hast du diesen Frieden, dann hast du alles.

„Das Glück, selbst das allergrößte, ist bedingt: Es hängt an Zeit und Raum, an Ursache und Wirkung, an unserem Körper und Ego.“


25 Jahre lang leitete DR. Ralph Skuban eine Einrichtung für Demenzkranke. Die intensiven Begegnungen mit Alter und Krankheit führten ihn zur Mystik des Ostens, insbesondere zur Philosophie und Praxis des Yoga. Heute unterrichtet er Seminare und Workshops, begleitet Yogalehrer-Ausbildungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz und veröffentlichte bereits zahlreiche Bücher über Yoga. Zusammen mit seiner Frau Nella gründete er die Yoga-Akademie Kaivalya.

kaivalya-yoga.de

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