Das Meer ist ein großer Lehrer, findet der Yogi, Surfer und Fotograf Thomas Zielinski. Hier erzählt er von seiner ganz persönlichen Beziehung zum Ozean, er erklärt, was er von ihm gelernt hat und was das mit Yoga zu tun hat.
Text & Fotos: Thomas Zielinski
Als wir vor circa 20 Jahren zu dritt zusammengepfercht im vollgepackten Opel Corsa auf der Autobahn in Richtung Frankreich fuhren, war mir nicht im geringsten bewusst, welch prägenden Einfluss dieser eine Trip an den Atlantik auf all die darauffolgenden Reisen in meinem Leben haben würde. Nicht nur war ich auf dem Rücksitz noch eine gefühlte Ewigkeit vom Meer entfernt, ich war auch noch Jahre entfernt von einem Mindset, das sich mit dem Hier und Jetzt zufrieden zu geben weiß. Und so wuchs die Ungeduld mit jedem Kilometerschild, das wir passierten, und mit jedem Kreisverkehr, der uns in den kleinen Ortschaften des Südens ausbremste. Nach erschöpfenden 1600 Kilometern schien die Küste endlich in spürbarer Reichweite und je mehr wir uns ihr näherten, desto dunkler wurde der Himmel an diesem Nachmittag.
Vor dem Pinienwald angekommen, hasteten wir sofort Richtung Düne, begleitet von einem immer lauter werdenden Donnergrollen. Etliche Touristen eilten uns entgegen und warfen uns skeptische Blicke zu. Oben auf der Düne lag es dann endlich vor uns, das Ziel unserer Reise, dessen Anziehungskraft uns schon aus 1600 Kilometern Entfernung in den Bann gezogen hatte: das Meer. Geradezu nahtlos ging sein dunkles Blau in den Horizont über. Durch den warmen Sand rannten wir zum Ufer, von oben prasselten dicke Regentropfen auf uns herab. Wir rissen uns die T-Shirts vom Leib, schmissen sie auf den leergefegten Strand und sprangen in die Brandung. Wild warfen uns die Wellen hin und her – und wir, nur ein kleiner Teil von etwas Großem, gaben uns dem Meer hin und waren einfach nur glücklich und beseelt. Mir war sofort klar: Es würde keine Reise mehr ohne Meer geben.
Meeres-Meditation
Etliche Surf- und Yogareisen später ist diese Faszination ungebrochen. Und ich bin damit gewiss nicht alleine. So wie das Licht Insekten anzieht, so zieht das Meer den Menschen an und lässt ihn immer wieder strapaziöse Irrfahrten in Kauf nehmen, nur um ein paar Tage in der Nähe dieser Kraftquelle zu verbringen. Schneller noch als jeder Tempel oder jede Kathedrale schafft es das Meer, uns unmittelbar ins Hier und Jetzt zu holen.
Man könnte auch sagen: Das Meer ist Pratyahara für alle. Die fünfte Stufe des Ashtanga-Weges, der Rückzug der Sinne, wird hier ganz simpel erlebbar gemacht – auch für Menschen, die mit Yoga noch nie in Kontakt gekommen sind. Hier tun sie es, ohne es zu wissen. Der Blick auf die Weite der See spült, ob man will oder nicht, die Reizüberflutungen des Alltages einfach weg. Bereits wenige Tage am Meer reichen aus, um sich wieder bewusst zu werden, wie wenig es eigentlich braucht, um zufrieden zu sein, zu wissen, dass der Moment, so wie er gerade ist, perfekt ist. Santosha kann so einfach sein!
Das Meer ist wie eine große, tiefe Meditation: Wir beobachten, wie es sich durch äußere Umstände wie Ebbe, Flut und Winde ständig verändert, so wie auch unser Bewusstsein sich stets verändert. Wellen kommen und Wellen gehen. Mal ist es stürmisch und mal entspannt. Wir lernen, dass kein Zustand im Sein eingemeißelt ist, sondern alles stets im Fluss, in Bewegung. Und uns wird deutlich, dass wir so viel mehr Zufriedenheit in unser Leben bringen, wenn wir uns dessen bewusst sind.
Lesetipp: “Meditation unter Wasser” – Interview mit der Surferin Loly Rehder
Ozean-Macht
Von der Zeit am Meer können wir aber noch weitere Lehren für unsere eigene “innere” Reise mitnehmen und weitergeben. Ganz egal, ob man an Gott oder an etwas “Höheres” glaubt oder nicht – das Meer ist zweifelsfrei eine höhere Macht. Es erlaubt uns einen Perspektiv-Wechsel, den wir ruhig öfter in unserem Leben einnehmen könnten: Auf imposante Art und Weise zeigt es uns, wie klein und unbedeutend wir doch im Vergleich zum “Großen und Ganzen” sind. Und das, indem es einfach nur da ist. Im Kontakt mit dem Ozean lassen wir schneller von unserem Ego ab als in jeder Asana-Praxis. Dafür müssen wir nicht erst von einer gefährlichen Strömung mitgerissen werden. Wir spüren ganz intuitiv, wieviel größer und stärker die Kraft dieser Natur ist. Gibt es eine schönere Art Demut zu praktizieren?
Sich dieser höheren Macht hinzugeben, lehrt uns das fünfte der Niyamas, Ishvara Pranidhana. So groß unsere Vorfreude auf die lang erwartete Zeit am Ozean auch sein mag, so sehr wir uns bestes Wetter und perfekte Wellen erträumen – am Ende zeigen uns auch hier höhere Mächte, dass kein Tag so sein wird wie der andere. War heute noch alles perfekt und voller Sonnenschein, so können wir uns schon morgen inmitten wilder, stürmischer Bedingungen wiederfinden.
Wir begreifen, dass wir keine Kontrolle darüber haben, was uns widerfährt. Was wir aber kontrollieren können – hier wie auch in den Wirren unseres Alltags – ist, wie wir mit der jeweiligen Situation umgehen: Versuchen wir dagegen anzukämpfen und werden frustriert oder versuchen wir loszulassen, lernen zu akzeptieren, was ist, und machen das Beste aus den Umständen? Selbst wenn der Himmel heute grau und der Wind kalt ist: Ich kann selbst wählen, den Tag nun frustriert zu verbringen oder ihn alternativ zu gestalten, mit Dingen, die mir und meiner Umgebung Freude bereiten.
Wir sind alle gleich
Im sechsten Kapitel der Bhagavad Gita lehrt Krishna seinen Schützling Arjuna: “Als sehr fortgeschritten gilt der Yogi, der aufrichtige Gönner, zugeneigte Wohltäter, Neutralgesinnte, Vermittler und Neider, Freunde und Feinde sowie die Frommen und die Sünder alle mit gleicher Geisteshaltung sieht.” Equal Vision lautet die Devise – und auch hier können wir das Meer als Lehrmeister sehen, denn egal ob arm oder reich, dick oder dünn, groß oder klein, schwarz oder weiß: Der Ozean macht keine Unterschiede zwischen denen, die sich in und an ihm tummeln. Er birgt für alle die gleichen Gefahren und die gleiche Freude.
In seinem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Buch “Barbarian Days” beschreibt der Surfer und New-Yorker-Redakteur William Finnegan den Ozean als einen gleichgültigen Gott, gefährlich und übermächtig und zugleich der Ursprung von allem. Auch im Yoga kennen wir so etwas: Wir alle sind spirituelle Wesen, Teil von etwas Größerem, aber wir haben diesen wahren Ursprung im Laufe der Zeit einfach vergessen. So wie ein isolierter Tropfen aus dem Meer scheinen wir die Verbindung zu unserer wahren Essenz verloren zu haben – zu der wir durch unsere Yogapraxis nach und nach zurückfinden wollen.
Unsere Zeit ist begrenzt
Das ist vielleicht ist die größte Lehre, die ich von all meinen Reisen ans Meer mitnehme: Mir ist bewusst, dass ich nur eine gewisse Anzahl an Tagen zur Verfügung haben werde. Also versuche ich, jeden Tag in den Wellen voll auszukosten, egal wie gut oder schlecht sie sind. So oft es geht. Ich beginne jeden Tag mit einem positiven Mindset und bleibe enthusiastisch. Diese Zufriedenheit, Santosha, egal ob am Meer oder im gewöhnlichen Alltag, die Fähigkeit, unsere oft selbstgemachten Probleme entspannter zu sehen, dazu müssen wir nicht erst die Erleuchtung finden.
Dem Meer ist es übrigens ohnehin egal, wie wir uns entscheiden. Unser Sein oder Nicht-Sein wird nichts daran ändern, dass sich Ebbe und Flut auch in den nächsten tausend Jahren alle sechs Stunden abwechseln. Die Gezeiten werden die Energie regelmäßig von einer Küste zur anderen transportieren und das Wasser in Bewegung halten, ganz egal welches Unwetter über ihm tobt, völlig egal, wie groß ein Unterwasserbeben sein mag. Das Meer wird ganz einfach so weitermachen wie seit 200 Millionen Jahren.
THOMAS ZIELINSKI ist Coach, Texter, Fotograf, Jivamukti-Yogalehrer und Surfer. Er veranstaltet regelmäßig Yoga- und Surf-Retreats (das nächste findet im Oktober 2023 in Ericeira/Portugal statt), hält Yoga-Workshops und möchte Menschen inspirieren, sich selbst neu zu entdecken und Potentiale zu entfalten. Auch in seinem Podcast “Get Wet Soon” dreht sich alles rund um Yoga, Kreativität und Surfen.
Mehr über Thomas und seine Arbeit erfährst du in seinem Blog www.getwetsoon.de oder auf Insta @getwetsoon
Lerne Santosha, Ishvara Pranidhana und die anderen Niyamas in diesem Artikel noch besser kennen: