Der Atem der Sonne

Wenn wir uns im Yoga auf den Atem konzentrieren und ihn lenken, dann geht es um viel mehr als Sauerstoff: Wir lenken unsere feinstofflichen Energien. Der Yogalehrer und Buchautor Ralph Skuban erklärt, warum Pranayama, die yogische Atemarbeit, das eigentliche Herzstück des Yoga ist – und was das mit Sonne und Mond zu tun hat.

„Pranayama bildet den praktischen und philosophischen Kern von Yoga.“

Die indische Tradition des Hatha-Yoga hat die ganze Welt erobert – kaum ein Ort, an dem heute nicht Yoga geübt wird. Wenn wir Yoga sagen, denken wir meist an Asanas, also Körperübungen, denn nichts wird stärker mit Yoga identifiziert als sie. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass im klassischen Hatha-Yoga, dessen Praxis sich im 14. bis 17. Jahrhundert in wichtigen Schriften niederschlug, den Asanas eine viel geringere Rolle zufiel als heute, wo sie den Kern des modernen, westlichen Yoga bilden.

Die wichtigste Schrift des Hatha-Yoga ist die im 14. Jahrhundert von Svatmarama verfasste Hatha Yoga Pradipika (HYP). Übersetzen wir Yoga als Verbindung, dann verweist dieser Titel auf die Verbindung des Lichtes von Sonne und Mond. (Nur am Rande sei erwähnt, dass in der ursprünglichen Fassung der HYP das Wort Yoga gar nicht im Titel stand, hieß sie doch nur Hatha Pradipika, das Licht von Sonne und Mond.)

Die HYP präsentiert nur sehr wenige Asanas, fast ausschließlich medi­tative Sitzhaltungen. Den praktischen und philosophischen Kern bildet die Atemarbeit, Pranayama. Es ist im Blick auf die klassische Hatha-Zeit treffend, wenn wir Pranayama als das Herzstück des Yoga begreifen. Das ist bei später entstandenen wichtigen Hatha-Yoga-Texten nicht anders, auch in der Gheranda Samhita oder in der Shiva Samhita, beide aus dem 17. Jahrhundert, geht es vor allem um das Atmen, oder, energetisch gewendet, um das Spiel von Sonne und Mond: Ha steht für die Sonne, Tha für den Mond.

Was nun hat es auf sich mit Sonne und Mond im Pranayama? Wie so oft ist es gar nicht so leicht, eine eindeutige Antwort zu geben, wenn wir uns mit den Ideen des Yoga beschäftigen. Das ist hier, bei Sonne und Mond, nicht anders. Sie spiegeln mehrere Ideen, die sich in der Praxis widerspiegeln. Zugleich stehen sie für das höchste Ziel des Yoga, das spiritueller Natur ist. Sonne und Mond symbolisieren zum einen die Polarität der Dinge, die Zweiteilung des Seins in Groß und Klein, in Hoch und Niedrig, ganz besonders aber auch unser Bewerten: „Mag ich“ oder „Mag ich nicht!“ – also die durch unsere persönliche Wahrnehmung bedingte Zersplitterung des EINEN SEINS in zahllose Fragmente. Zu einem ganzheitlichen Erleben der Wirklichkeit und zur glückseligen Erfahrung der Ganzheit will Yoga im Allgemeinen und Pranayama im Besonderen uns führen. Der Mond ist der Mensch, die Sonne die absolute Wirklichkeit.

Konkreter werden Sonne und Mond in der Pranayama-Praxis. Dort stehen sie für primäre Aspekte der Lebensenergie, die ich gerne Ströme und Felder von Energie nenne: die Nadis und Vayus: Nadis – wörtlich: (Energie-)Flüsse – existieren zu Tausenden oder Abermillionen im menschlichen Körper, je nachdem, welche Schrift wir fragen. Die beiden wichtigsten repräsentieren die Dualität, ein dritter steht für ihre Transzendenz, das Ziel des Yoga: Die zwei polaren Energien Ida und Pingala verlaufen links und rechts der Wirbelsäule. Sie sind Mond und Sonne und wollen durch Pranayama gereinigt und balanciert werden. Wenn das geschieht, so die Idee, werden Krankheiten überwunden und, viel wichtiger noch, die Dualität transzendiert. Energetisch bedeutet dies das Einströmen von Sonne und Mond in den dritten Strom oder Energiekanal: Sushumna im Zentrum der Wirbelsäule. Dieser Prozess ist sozusagen das energetische Pendant zur Erleuchtung: Körper, Energie (Atem) und Geist bilden im Yoga untrennbare Einheiten.

Die wichtigsten Vayus oder Energiefelder, von denen die Yogaphilosophie zehn kennt, heißen Prana- und Apana-Vayu. Sie repräsentieren Ein- und Ausatmung, Energie-Aufnahme und -abgabe. Prana-Vayu ist die Sonne und wirkt vor allem im Brustraum. Es sorgt für die Einatmung. Energetisch entspricht dem eine Bewegung nach oben – der Torso weitet und hebt sich mit der Einatmung. Apana-Vayu, der Mond, strebt hingegen nach unten: Beim Loslassen des Atems schwingt unser Oberkörper zurück nach unten.

Pranayama will diese natürlichen Energieströme, welche die Ein- und Ausatmung begleiten, umkehren: Prana-Vayu soll also nach unten, Apana-Vayu nach oben fließen. In der Mitte begegnen sie sich – und kommen zur Ruhe. Kein Fließen mehr. Stille. Weil Energie und Geist im Yoga als untrennbar verbunden gelten, folgt der energetischen Stille auch die Stille des Geistes. Yoga als Bewusstseinszustand. Pranayama strebt auf energetischem Wege an, was Patanjali fast 2000 Jahre früher auf meditativem Weg erreichte und im Yogasutra beschrieb. Das freie Fließen ist nur das Vorspiel für den völligen Stillstand von Energie!

„Sonne und Mond symbolisieren die
Polarität der Dinge, die
Zweiteilung in Groß und Klein, in Hoch und Niedrig, ganz besonders aber auch unser
Bewerten: ‚Mag ich‘ oder ‚Mag ich nicht‘.“

Wie kann das erreicht werden? Der Weg zur Stille, wie Pranayama ihn zu gehen versucht, geschieht im Wesentlichen mit Hilfe von zwei Techniken: Kumbhaka (Atemstillstand) und Bandhas (energetische Verschlüsse). Das Anhalten des Atems (in der Atemfülle) in Verbindung mit gezielten Muskelaktionen will Sonne und Mond miteinander verbinden. Im Detail darauf einzugehen, würde den Rahmen dieses Essays sprengen. Doch wir können relativ einfach einen ersten praktischen Zugang dazu finden, indem wir eine einfache ausgleichende und klärende Pranayama-Sequenz üben. Im Folgenden möchte ich, so einfach wie möglich, drei Pranayamas vorstellen: Dirgha, die Vollatmung, Nadi Shodana, die Wechselatmung, und Surya-Bedhana, das „Pranayama der Sonne“  – ganz praktisch und ohne viel Theorie.


25 Jahre lang leitete Ralph Skuban eine Einrichtung für Demenzkranke. Die intensiven Begegnungen mit Alter und Krankheit führten ihn zur Mystik des Ostens, insbesondere zur Philosophie und Praxis des Yoga. Heute unterrichtet er Seminare und Workshops, begleitet Yogalehrer-Ausbildungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz und veröffentlichte bereits zahlreiche Bücher über Yoga. Zusammen mit seiner Frau Nella gründete er die Yoga-Akademie Kaivalya.

www.kaivalya-yoga.de

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