Kannst du Geschenke aufrichtig und dankbar annehmen? Für unsere Philosophie-Expertin Sally Kempton ist Geben und Nehmen eine spirituelle Praxis. Mit diesem Text lädt sie dich ein, dein Herz für die Gaben des Lebens zu öffnen und eine Balance aus geben und nehmen zu schaffen.
Meine Mutter war ein sehr großzügiger Mensch, aber sie selbst konnte nie ein sinnvolles Geschenk annehmen. Jedes Jahr zu ihrem Geburtstag war es das selbe Spiel. Meine Brüder und ich hatten ihr etwas ausgesucht, von dem wir wussten, dass es ihr gefallen würde. Einen Pulli zum Beispiel, ein Schmuckstück oder einen Massage-Gutschein. Sie nahm das Geschenk und bedankte sich. Dann vergrub sie den Pulli ganz hinten in ihrem Schrank, packte das Schmuckstück weg und machte nie einen Massage-Termin aus. Ganz ähnlich war es, wenn man ihr etwas Nettes sagte. “Hör auf”, rief sie dann, “das ist doch total übertrieben!” Wir zogen sie oft damit auf, dass sie anscheinend immer die Gebende sein musste. Gleichzeitig fanden wir es aber auch frustrierend, dass wir nie in die Balance aus geben und nehmen kamen.
Komplimente ablehnen als Form Zuneigung abzulehnen
Kürzlich wurde ich daran erinnert. Ein Freund rief an, um sich für etwas zu bedanken, das ich für ihn getan hatte, und um mir zu sagen, wie viel ihm das bedeutete. Ohne nachzudenken, entgegnete ich: “Ach was, das ist doch nicht der Rede wert. Das hätte doch jeder getan!” Seine Antwort traf mich ins Mark: “Merkst du eigentlich, dass du gerade mein Kompliment zurückgewiesen hast? Ich wollte dir etwas Nettes sagen, aber du hast es nicht angenommen!” Da wurde mir klar, dass ich genau wie meine Mutter reagiert hatte; ich hatte die Zuneigung eines wichtigen Menschen abprallen lassen. Aus falscher Bescheidenheit oder aus einer Art verdrehtem Stolz.
Mit diesem Erlebnis begann für mich ein längeres Nachdenken über die vielen Nuancen des Gebens und Nehmens. Dabei wurde mir klar. Die meisten Menschen haben nie gelernt, ein Geschenk wirklich und vollständig anzunehmen. Natürlich können wir alle Dankbarkeit einladen. Wir sagen viele Male am Tag “danke”, manchmal schreiben wir auch ein Kärtchen an Freunde und Lehrer, die uns geholfen oder inspiriert haben. Aber selbst wenn wir Dankbarkeit ausdrücken, haben wir häufig nicht wirklich empfangen, in uns aufgenommen und verarbeitet, was wir bekommen haben. Dieses echte, empfangende Annehmen ist Yoga!
Große Bedeutung von Achtsamkeit beim geben und nehmen
Es erfordert ein hohes Maß an Sensibilität und Achtsamkeit. Zunächst müssen wir überhaupt erkennen, dass wir beschenkt wurden, sei es nun mit einem Geburtstagsgeschenk, einem Kompliment, einer Anregung, einem hilfreichen Feedback, einer liebevollen Geste oder vielleicht einem Segen aus ganz anderen als den alltäglichen Sphären. Dann müssen wir genügend Ruhe und Offenheit in uns kultivieren, um diese Gabe wirklich in uns aufzunehmen. Weiter müssen wir sie wertschätzen. Oder zumindest die Intention des Gebenden würdigen. Und schließlich geht es darum zu spüren, dass wir diese Gabe auch verdient haben – dass sie weder zu groß ist noch zu gering. Das englische Wort “receive” und das französische “recevoir” stammen vom lateinischen “recipere” ab. Das bedeutet wörtlich “zurücknehmen”. Darin klingt an, dass das, was uns gegeben wird, uns eigentlich schon gehört, dass wir es wirklich verdienen und zwar in dem Sinn, dass etwas zu uns zurückkommt und uns vervollständigt, das wir durch die Natur unseres Seins angezogen haben.
Dabei ist ganz klar. Nicht immer harmoniert die Energie eines anderen Menschen gut mit der eigenen und manche Geschenke sind mit so vielen Hintergedanken und Erwartungen verknüpft, dass sie eher Bestechungsversuchen gleichen. Deswegen ist es hilfreich, bei der Beschäftigung mit dem Thema zunächst zu ergründen, was genau hinter der Ablehnung gegenüber einem Geschenk steckt. Manchmal spricht darin tatsächlich dein unterscheidendes Bewusstsein. Es teilt dir mit, dass es nicht weise ist, dieses bestimmte Geschenk anzunehmen. Wenn zum Beispiel ein Yogalehrer von einem Schüler privat eingeladen wird, kann das durchaus doppelbödig sein. Möglicherweise will der Schüler nicht nur seine Dankbarkeit ausdrücken, sondern auch eine Sonderstellung erwerben.
Ist das Geschenk aber angemessen und aufrichtig, dann lautet die Frage eher. Kann ich es annehmen? Kann ich es wirklich verarbeiten und in mich aufnehmen? Dabei verhält es sich so ähnlich wie mit dem Verdauungssystem. Kann es die Ernährung nicht richtig umwandeln und ins System integrieren, dann fehlen wichtige Nährstoffe, ganz unabhängig davon, was und wie viel ich esse. Genauso wird man sich nie wirklich geliebt und vom Leben genährt fühlen, wenn man die Liebe und Unterstützung, die ein echtes Geschenk darstellt, nicht annehmen kann. Und wenn man diese Hinwendung seiner Mitmenschen nicht annehmen kann, dann wird es einem auch schwer fallen, die viel subtileren Hilfen anzunehmen, die uns der Kosmos bereitstellt.
Gestörter Austausch
Ein extremes Beispiel für die Unfähigkeit ein Geschenk anzunehmen – und für die Konsequenzen – wird in den Puranas erzählt, einer antiken Sammlung Weisheitstexte aus Indien. Durvasa, ein recht reizbarer Heiliger, findet eine Girlande, in der er die Verkörperung des Glücks erkennt. Als er die Girlande dem Gott Indra schenkt, hängt der sie achtlos seinem Elefanten um. Durvasa fühlt sich von Indras Unfähigkeit, seine Gabe angemessen anzunehmen, so beleidigt, dass er erklärt, fortan würde das Glück aus Indras Welt verschwinden. Und genau so geschieht es. Damit am Ende wieder alles gut wird, sind übermenschliche Anstrengungen verschiedener Götter und Titanen nötig.
Dabei ist Durvasa nicht einfach überempfindlich, in seiner Reaktion spiegelt sich vielmehr eine Wirkweise des Kosmos. Eine der wichtigsten Weisheiten der Veden besteht darin, dass alles Leben auf Austausch beruht, auf einer dynamischen Beziehung von Geben und Nehmen. Auch die Bhagavad Gita die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Mensch, Natur und der unsichtbaren Welt des Geistes mit dem Bild des kosmischen Opfers. Die Erde empfängt das Geschenk des Regens und die Pflanzen können wachsen. Feuchtigkeit steigt aus der Erde auf und wird wieder von der Atmosphäre aufgenommen. Genauso empfangen wir Menschen vielfältige Gaben von der Erde, von unseren Eltern, Vorfahren und Mitmenschen. Wir tragen diese Gaben in uns, aber mit ihnen auch die unausgesprochene Verpflichtung, etwas davon zurückzugeben. Etwa indem wir anderen materiell oder auf energetischer Ebene weiterhelfen oder indem wir unsere eigenen Gaben und Fähigkeiten mit ihnen teilen.
Werden unsere Gaben nicht angenommen, ist die kosmische Dynamik des Austauschs gestört. Wir werden unsere Gaben nicht los und können unsere Verpflichtung nicht erfüllen. Ohne einen aufnahmefähigen Schüler kann kein Lehrer sein Wissen weitergeben, ohne einen bedürftigen Empfänger ist die großzügige Spende des Mäzens sinnlos. Jede nicht angenommene Gabe ist so fruchtlos wie ein Samen, der nicht aufgeht und gedeiht. Das kann man selbst auf einer ganz subtilen Ebene noch spüren. Dann fragt man sich vielleicht, ob etwas mit dem Geschenk nicht gestimmt hat. Man fühlt sich frustriert oder gekränkt. Feinfühlige Menschen nehmen den Widerstand einer Person, eine Gabe anzunehmen, wie eine trennende Wand zwischen sich und diesem Menschen wahr.
Was macht es so schwer?
Es gibt viele Gründe dafür, warum man ein Geschenk, eine Gefälligkeit oder ein Kompliment nicht annehmen kann. Das reicht von Schuldgefühlen und Unsicherheit (“Ich hab es nicht verdient”) über ein Gefühl der Überheblichkeit (“Was soll daran besonders sein?”) bis hin zu der Angst, man habe nicht die Mittel, diese Zuwendung angemessen zu erwidern. Oder dem nagenden Verdacht, sie sei mit Hintergedanken verbunden. Ein weiterer Grund ist ein unterbewusstes Gefühl der Unterlegenheit. In unserer Kultur wird uns vermittelt, der Gebende sei in einer Machtposition, während der Nehmende stillschweigend eingesteht, bedürftig zu sein. Selbst wenn wir das tatsächlich sogar sind, wird sich das als Anschlag auf das Ego gesehen und häufig wehrt es sich gegen dieses unangenehme Gefühl und damit gegen die Balance aus geben und nehmen.
Eines der größten Probleme mit dem Nehmen hat mit einem Phänomen zu tun, das ich gerne “Die Löcher im Eimer” nenne. Wenn man Wasser in einen löchrigen Eimer füllt, wird es zwangsläufig herauslaufen. Genauso verhält es sich, wenn man sich chronisch bedürftig fühlt oder wenn man das, was man hat, nicht richtig würdigt. Dann fällt es grundsätzlich schwer, sich an den Gaben zu freuen. Wir mögen uns verzweifelt danach sehnen, dass uns jemand liebt, mit einem aufmerksamen Geschenk bedenkt oder eine helfende Hand ausstreckt. Die Liebe und Hilfe, die uns begegnen, scheinen nie genug oder nie ganz richtig zu sein. Jemand lobt mich dafür, schlau zu sein, und ich frage mich, warum er nicht bemerkt, dass ich gut aussehe. Mein Liebster schenkt mir ein Buch und ich bin enttäuscht, dass er nicht weiß, dass ich mir einen Pulli gewünscht hätte. Was also können wir tun, um das echte, vollständige geben und nehmen zu lernen?
1. Präsenz kultivieren
Wenn man sich gehetzt, zerstreut oder sorgenvoll fühlt, wird es viel schwieriger, ein Geschenk voll und ganz anzunehmen. Deswegen ist es hilfreich, sich zunächst seinen Geisteszustand bewusst zu machen, wenn jemand einem etwas schenkt. Sei es nun ein freundliches Wort, ein Gefallen oder ein Weihnachtsgeschenk. Stell dabei fest, dass du dich zerstreut fühlst, einen inneren Widerstand hast oder keine Verbindung zum Gebenden spüren können, dann kann eine einfache Yogatechnik dir helfen, die Energie auf den gegenwärtigen Moment zu richten. Atme tief ein und spüre, wo im Körper der Atem ankommt. Nimm wahr, wie der Atem deinen inneren Körper berührt. Ein anderer Weg, Präsenz zu kultivieren, ist die Arbeit mit den folgenden fünf Sätzen:
“Dies ist die richtige Zeit. Genau jetzt. Dies ist der richtige Ort. Genau hier. Dies ist der richtige Mensch. Dies ist das richtige Geschenk. Ich bin der richtige Mensch, um es zu empfangen.”
Die ersten drei Sätze helfen dir, im gegenwärtigen Moment anzukommen. Die letzen beiden erleichtern es, ein inneres Umfeld zu schaffen, in dem du das Geschenk mit aufrichtiger Würdigung annehmen kannst.
2. Wertungen vermeiden
Wenn einem jemand etwas schenkt, geschieht es häufig, dass der Geist wertet, abwägt und das Geschenk für gut oder schlecht befindet, bevor man es überhaupt angenommen hat. Genau wie der Gott Indra mit der Glücksgirlande. Oder wie meine Freundin Ellen kürzlich, als ihr Freund an ihrem Geburtstag den Abwasch für sie machte. Für ihn war das eine liebevoll gemeinte Geste. Ihre Reaktion aber war: “Danke, aber ich finde eigentlich, das solltest du immer tun, wenn ich für dich koche!” Woraufhin das Paar begann zu streiten, statt den Geburtstag zu feiern…
Wenn dir also das nächste Mal etwas offeriert wird, das auf den ersten Blick vielleicht nicht perfekt erscheint, dann widerstehe dem Drang, darüber nachzudenken, was du vielleicht lieber bekommen hättest. Unterdrücke den Impuls, eine Bemerkung zu machen à la: “Du weißt eben nie, was ich mir wirklich wünsche.” Versuche statt dessen, die liebevolle Absicht des Gebenden zu sehen.
3. Geschenke als Botschaften sehen
Das Sanskrit-Wort “Prasad” kennst du vielleicht im Zusammenhang mit einer meist süßen Opferspeise, die einem hinduistischen Gott dargebracht und anschließend unter den Anwesenden verteilt wird. In Indien versteht man darunter alles, was einem von einem als heilig angesehenen Menschen geschenkt wird. Als ich in Indien bei meinem Guru lebte, schenkte er uns Schülern häufig Dinge, manchmal das absurdeste Zeug, aber wir empfingen seine Geschenke immer in großer Dankbarkeit, weil wir in ihnen seinen Segen erkannten. Einmal überreichte er mir ein paar riesige himmelblaue Schaumstoffpantoffeln mit gelber Sohle. Sie sahen nicht nur absolut lächerlich aus, sie waren mir auch viel zu groß. Trotzdem kam es mir nicht in den Sinn, mich zu fragen, was er damit bezweckte, mir so etwas Albernes zu schenken, denn ich spürte, dass alle seine Geschenke von seiner einzigartigen spirituellen Energie erfüllt waren.
Wenn dir Freunde oder Verwandte zum Geburtstag Geschenke machen, dann versuche folgende Übung. Nimm dir einen Moment Zeit, um sich die Güte des Gebenden bewusst zu machen, vielleicht sogar so etwas wie seinen heiligen, göttlichen Kern. Überlege, ob und in welcher Weise dieser Mensch ein Lehrer, eine Art Guru, für dich sein könnte. Beides kann helfen, das Geschenk auf eine andere Weise wahrzunehmen, nämlich als Prasad, erfüllt mit der Kraft eines Segens.
4. Sich bewusst öffnen
Annehmen und empfangen ist eine spirituelle Praxis – eine Art Yoga. Dieses Verständnis ist vor allem dann wichtig, wenn das Geschenk, das du dir wünschst, in etwas so Subtilem besteht wie Weisheit, Liebe, der Hilfe eines Menschen oder gar Unterstützung aus der göttlichen Sphäre. Manchmal macht es einen riesigen Unterschied, sich bewusst zu öffnen und bereit zu machen für diese Liebe. Es hilft, nicht nur die Zuwendungen anderer Menschen anzunehmen, sondern zugleich auch die Gnade, die in ihnen liegt, also die wohltuende Energie, die durch das Universum fließt.
Diese Empfänglichkeit kann man üben: Nimm dir einen Moment Zeit und schließe die Augen. Einatmend stellst du dir vor, die subtile Energie, Zärtlichkeit und Gnade des Universums in sich aufzunehmen. Vielleicht visualisierst du dein Herz dabei als einen weit geöffneten Trichter, durch den Liebe und Kraft in dich hineinfließen kann. Versuche nicht, diese Energie willentlich anzuziehen, eher öffnest du dich und dein Herz und erlaubst ihr, von alleine zu kommen.
Geschenke des Alltags
Die Kraft dieser einfachen, aber effektiven Übungen liegt darin, dass sie mit der Zeit in dein Wesen einsickern. Indem du deine Fähigkeit verbesserst, vollständig und aufrichtig zu nehmen, wirst du immer deutlicher wahrnehmen, wie viele Geschenke du andauernd bekommst. Der Wind in den Bäumen, das Lächeln eines Fremden, der freudig wedelnde Schwanz eines Hundes. Alles kann sich anfühlen wie von Zuneigung erfüllte Gaben, Geschenke der Schönheit und Weisheit. Was auch immer du dann zurückgibst, wird Teil des selben Tanzes, des Tanzes von Geben und Nehmen, in dem wir alle Tanzpartner sind.
Wenn Sally Kempton nicht gerade über die Balance aus geben und nehmen schreibt, ist sie eine international anerkannte Lehrerin für Meditation und Yogaphilosophie und Autorin zahlreicher Bücher. “Meditation. Das Tor zum Herzen öffnen” gibt es auch auf Deutsch.