In unserer Reihe “Götter auf der Matte” stellt uns Sybille Schlegel Göttinnen und Götter vor, die du vielleicht schon mit einem Mantra besungen hast, oder die als Deko dein Yogastudio zieren. Wir wollen wissen: Wo kommen sie her und was haben sie im modernen Yoga zu bedeuten? Diesmal geht es um Sarasvati und ihre schöpferische Energie, ihren Schwung, ihre Weisheit und Harmonie.
Text: Sybille Schlegel
Sarasvatis Geschichte beginnt schon vor dem Moment, an dem das Universum geboren wurde: Vishnu, der indische Gott, der immer alles am Laufen hält, träumt in der Phase des Nichts von der Entstehung einer manifestierten Welt. Damit der Traum Wirklichkeit werden kann, wächst ihm aus dem Nabel ein Lotos. Die Blüte öffnet sich und darin sitzt Brahma, der Gott des Anfangs.
Doch ein Anfang allein, egal wie strahlend der Funken des Neubeginns auch ist, reicht nicht, denn Schöpfung ist immer ein Prozess. Deshalb ist Schöpfungsenergie gefragt, eine Kraft, die alles in den Fluss bringt, den wir Leben nennen. So öffnet Brahma seinen Mund und heraus kommt seine schöpferische Energie, seine Shakti: Vac, der Klang. Vac ist die Vibration, die in jeder Manifestation liegt, das Tanzen der Atome, der Klang von Sprache und Musik. Erst diese Schwingung bringt die Schöpfung in ihren ewigen, kreisläufigen Fluss. Sie ist die Lebendigkeit, die wir fühlen in Momenten der Harmonie und des Zusammengehens. Die Personifizierung dieser klingenden Energie ist die Göttin Sarasvati, die Fließende.
Die Göttin Sarasvati in der Ikonographie
In der Ikonographie steht Sarasvati meist für sich: Auch wenn sie Brahma zugeordnet wird, ist sie ist keine brave Ehefrau, sondern eine jungfräuliche Künstlerin, Gelehrte und Weise, dargestellt als jugendliche Schöne, die mit offenen Haaren eine Vina, das indische Saiteninstrument, spielt. Sie ist die Göttin der Musik, der Sprache, der Poesie, der Kunst und des Wissens. Man könnte auch sagen: von allem, das in Zusammenhang, in Beziehung kommt. Sie gilt als die Weisheit selbst. Das Pulsieren von allem, das ist. Und obwohl Sarasvati mit dem Beginn des Schöpfungsprozesses assoziiert wird, ist sie in jedem Moment im Hier und Jetzt präsent: Sie ist in allem, was bereits harmonisch ist, ebenso wie in dem Moment, in dem etwas harmonisch wird. Auf Japanisch sagt man, dass es einen Klang gibt, wenn Harmonie entsteht, Hibiki – das ist Sarasvati.

Zum harmonischen Spiel gehört auch das Verstehen: Probleme, Angst oder Misstrauen können verschwinden, wenn Verständnis entsteht. Das ist, was Sarasvati uns rät: Verständnis finden. Dann ist die Göttin bei uns. Doch wie können wir besser werden im Verstehen, vor allem von anderen Menschen? Indem wir uns selbst immer besser kennenlernen. Weil wir dann begreifen können, wie unser Verlangen und unsere Angst uns treiben. Wie unsere Kindheit uns prägt. Dass wir oft handeln, um Leid zu vermeiden. Wenn wir lernen, uns selbst zu verstehen, entwickeln wir auch Verständnis für das Handeln der anderen. Empathie ist dann möglich. Selbstliebe auch. Sarasvati bringt uns in eine Einheit. In Harmonie. In Ein-Klang.
Annäherungen an Sarasvati
Mach dir bewusst, dass Schöpfung in jedem Moment geschieht. Dass jeder Plan mit einem ersten Schritt beginnt. Wohin lenkst du deine Schritte? Was fühlt sich harmonisch an? Wie fühlt sich überhaupt Harmonie für dich an? Richte dein Gehen aus nach der Ruhe und Schönheit der Harmonie – in der Vorstellung, dass Sarasvati mit dir geht. Egal ob mit Musik, Poesie, Malerei oder anderen Kunstformen: Bring Schönheit und Kreativität in dein Leben. Jede*r hat eine Ader dafür. Wenn schon nicht im Selber-Machen, dann in der Betrachtung und Wertschätzung. Versuche dich im Verstehen. Nicht in blindem Verständnis, sondern in weisem Verstehen: Lerne dich selbst so gut kennen, dass du offener wirst für andere. Lass Sarasvati in deine Konflikte hinein, um sie von ihrer Kraft zu lösen. Frei von Kampf. Frei von Aggression. Stattdessen voller Offenheit und Zuneigung.
Om Aim Sarasvatyai Namaha
„Ehre sei Sarasvati, die uns Harmonie eröffnet.“

Sybille Schlegel schreibt regelmäßig für uns über Yogaphilosophie. Mit ihrer Götter- und Göttinnen-Kolumne widmet sich unsere Autorin der Frage, was moderne Yogi*nis von indischen Göttersagen lernen können.
Nach vielen Jahren als Yogalehrerin und -ausbilderin konzentriert Sybille sich jetzt ganz aufs Üben und Schreiben. Du findest sie auf Instagram unter: @sybi_bille
Die hinduistischen Gottheiten stehen für Anteile in uns. In diesem Test erfährst du, von welcher Göttin besonders viel in dir steckt:


