Somatic Yoga – von innen nach außen

Somatic Yoga legt den Fokus auf die innere Erfahrung – eine besonders achtsame, kontemplative Praxis, die dir helfen kann, emotional besser in die Balance zu kommen. Redakteurin Tasha Eichenseher berichtet von ihren ersten Kontaktpunkten mit Body Mind Centering und Somatics und du erfährst, was Somatics bedeutet und wie daraus Somatic Yoga entstanden ist. Am Ende bekommst du wertvolle Tipps, wie du deine Yogapraxis – und in Folge dessen auch dein Leben – noch achtsamer und bewusster gestalten kannst.

Text: Tasha Eichenseher / Fotocollagen: Nadia Flower

Ich sitze daheim auf meinem Sofa und übe per Telefon mit Bonnie Bainbridge Cohen. Sie lenkt meine Aufmerksamkeit zunächst auf meinen Atem und dann nach und nach durch meinen Körper. Ich beobachte, wie sich mein Zwerchfell ausdehnt und zusammenzieht, wie das Blut durch meine Venen strömt und was in meinen Nadis, den yogischen Energiebahnen, vor sich geht. Bonnie lädt mich nicht nur ein, all diese einzelnen Elemente wahrzunehmen, sondern auch die Räume dazwischen, die Verbindungen, vom Kopf bis zum Steißbein und weiter bis in die Zehen.

Aus dieser bewussten Wahrnehmung heraus bittet sie mich, meine rechte Hand auf die linke Schulter zu legen, meine Augen zu schließen und zu atmen. Anstatt nun aber den Atem von der Vorderseite meines Gehirns aus zu lenken, soll ich “die Rückseite meines Gehirns öffnen”. Sie könnte auch sagen: Hör auf, alles kognitiv zu überdenken (präfrontaler Cortex), und verlasse dich mehr auf deine Instinkte, deine Intuition. Ich versuche es – und tatsächlich: Ich habe das Gefühl von mehr Raum im hinteren Teil meines Kopfes. Bainbridge Cohen beschreibt sich selbst als Bewegungskünstlerin, Forscherin und Therapeutin, sie ist aber auch die Gründerin von Body Mind Centering, einem experimentellen Bewegungssystem für Embodiment, also für Verkörperung oder genauer gesagt: für das Gefühl, wirklich in seinem Körper zu leben. Ihre Arbeit beruht auf Somatics, einem in der Psycho-, Physio- und Bewegungstherapie gängigen Ansatz, der immer mehr auch im Yoga Einzug hält.

Lesetipp zum Thema Embodiment: “Embodiment: Ich fühle, also bin ich”

Das beginnt schon damit, dass dir ein*e Lehrer*in beispielsweise sagt: “Bewege dich so, dass es sich für dich gut und stimmig anfühlt.” Die Idee: Langsame Bewegungen, sehr genaue Beobachtung und minimale Hinweise zum Alignment beruhigen und heilen ein überlastetes Nervensystem – und sie helfen dir, ruhiger und bewusster zu agieren in einer Welt, die sich immer mehr aufheizt und zwar nicht nur klimatisch, sondern auch emotional und politisch.

Also versuche ich, meinen mentalen Kontrollknopf abzuschalten und einfach nur den Atem unter meiner Hand zu spüren. Als Bonnie mich bittet, meine Zunge zu entspannen, nehme ich wahr, wie sich etwas in meinem Kiefer löst. Dann fordert sie mich auf, meine rechte Hand unter meinem linken Arm auf die Mitte der Lunge zu legen. Ich soll von der Lunge zum Gehirn spüren und wieder zurück – und neugierig sein, was da passiert. Dann die gleiche Übung mit der Hand am unteren Ende der Lunge, an den Rippen. Einige Minuten lang geht das so. Anschließend lädt sie mich ein, den linken Arm von der Lunge aus zur Seite auszustrecken und zwar so, dass die Lunge die Hand bewegt und die Hand die Lunge. Klingt verrückt?

Probier es aus! Ich beginne tatsächlich zu spüren, wie meine Organe und meine Glieder in Verbindung stehen. Meine Bewegungen fühlen sich nicht nur geschmeidiger an, sondern vollkommen integriert, als könnte mein Arm auf meiner Einatmung reiten. Als sei ich eine Figur in einem Malbuch und jemand habe meine linke Seite in rosigen Farben ausgemalt, während meine rechte bisher nichts als eine schwarze Umrisslinie ist.

Was heißt “Somatics”?

„Der somatische Ansatz bringt
Yoga zurück in den Bereich der Heilkunst.“

Somatics ist sowohl ein Studienfeld als auch eine Praxis in der Schnittmenge von Körperarbeit, Bewegung und Psychotherapie. Sie beruht darauf, dass du deine innere Erfahrung achtest und dich von ihr leiten lässt. Soma ist das altgriechische Wort für Körper. Entsprechend arbeitet man bei Somatics mit Achtsamkeitstechniken, um mehr Bewusstsein und Verständnis dafür zu entwickeln, wo im Körper man Spannung, Trauma aber auch Freude gespeichert hat. Wir lernen unsere physischen, mentalen und emotionalen Komfortzonen kennen – und das kann der erste Schritt sein, um alte Erinnerungen und Muster loszulassen, Körper und Geist in die Balance zu bringen und mehr in Kontakt zum eigenen Bauchgefühl, der Intuition, zu kommen. Auf diese Weise bewegen wir uns schließlich auf die Empfindung zu, wirklich handlungsfähig, ganz und heil zu sein.

Die Bezeichnung Somatics geht zurück auf den Philosophen Thomas Hanna. Er entwickelte in den 1970ern Übungen zur Heilung und Schmerzlinderung: Hanna Somatics. Im Grunde kann man Hannas Arbeit aber (genau wie die von Vorläufer*innen wie Moshé Feldenkrais oder Ilse Middendorf) als moderne westliche Interpretationen von fernöstlichen Praktiken wie Tai Chi und Yoga ansehen: alles ganzheitliche Techniken und Philosophien, die auf achtsamer Körperwahrnehmung basieren und auf einer subtilen, energetischen Ebene ansetzen.

Feldenkrais, Rolfing, Alexandertechnik, Erfahrbarer Atem und Laban Bewegungsanalyse sind so gesehen alle somatische Therapiemethoden – und Somatic Yoga holt diese energetische Herangehensweise eigentlich nur dahin zurück, wo es sie schon immer gegeben hat: in die Asana- und Pranayama-Praxis. Die meisten modernen Yogi*nis haben zwar schon von Prana (Energie) gehört, auch die Nadis (Energiebahnen) und Chakras (Energiezentren) sind ihnen vielleicht ein Begriff, aber in den typischen Unterrichtsstunden spielt diese energetische Ebene nur selten explizit eine Rolle. Die Bewegungen werden eher von der Mechanik her gedacht: Beuge dies, strecke das, halte, schiebe, atme …

Bonnie Bainbridge Cohen hält das für eine vertane Chance: “Statt einfach nur den Arm zu strecken, könntest du dich mit dem Energiefluss bewegen, der durch deine Nadis strömt – und würdest so ganz natürlich Sukha und Sthira finden, Leichtigkeit und Halt.” Inzwischen hat sie viele Yogalehrende inspiriert, aus- und weitergebildet. Ihr Augenmerk auf Leichtigkeit und Halt als wichtigste Elemente jeder Asana geht zurück auf Patanjalis berühmtes Yogasutra II.46: Sthira sukham asanam. Würde man es tatsächlich berücksichtigen, gäbe es wohl sehr viel weniger Verletzungen im Yoga, meint Bainbridge Cohen. Und sie stellt fest: “Der somatische Ansatz bringt Yoga zurück in den Bereich der Heilkunst.”

Mehr Bewusstsein auf der Matte

Eleanor Criswell, Witwe von Thomas Hanna und selbst Psychologieprofessorin und ehemalige Präsidentin der International Association of Yoga Therapists, kann dem nur beipflichten: “Die schnellen Bewegungen in vielen Yogastilen lassen dir nicht genug Zeit, um Geist und Körper in Verbindung zu bringen.” Das von ihr begründete Somatic Yoga legt daher sehr viel Wert auf die langsame, äußerst bewusste Bewegung, ganz besonders im Übergang zwischen zwei Haltungen.

Die weit verbreitete Betonung der “perfekten Pose” verhindert ihrer Meinung nach das Bewusstsein dafür, was in deinem Körper geschieht, während du dich in die Haltung hinein und wieder aus ihr heraus bewegst. Die Folge: Kopf und Körper sind nicht wirklich in Verbindung, der Wille übernimmt das Ruder und Verletzungen werden umso wahrscheinlicher.

„Nur innerhalb deiner Bewegungsgrenzen spürst du Leichtigkeit und Halt.“

Criswells Unterricht beginnt mit Somatics-Übungen in Rückenlage: Man spannt bestimmte Muskeln oder Muskelgruppen an, löst sie wieder und beobachtet genau, was da passiert und wie es sich anfühlt. Nach 20 bis 30 Minuten kommt man behutsam zum Sitzen und Stehen und beginnt damit, sich zunächst nur in der bildlichen Vorstellung in eine bestimmte Asana hinein zu bewegen. Dann leitet Criswell ihre Schüler*innen an, ihren persönlichen Ausdruck der Haltung zu finden: innerhalb der eigenen Komfortzone, ohne überflüssige Spannung. Vor der nächsten Übung legt man sich dann noch einmal auf den Rücken und lässt sich Zeit für ein sensorisches Feedback mit tiefer Bauchatmung: Aha, jetzt spüre ich etwas weniger Zug in meiner linken Schulter und die Atmung in meiner linken Lunge ist runder …

Feines Spüren durch langsame Bewegung

Dieses feine Spüren, diese äußerste Aufmerksamkeit und Bewusstheit für die Prozesse auf muskulärer, aber auch auf organischer, energetischer und sogar zellulärer Ebene muss man entwickeln, es braucht Zeit. Und das beginnt damit, sich langsam zu bewegen, sich Zeit für jede einzelne Phase der Bewegung zu nehmen, erklärt auch Aki Omori, die in London Somatic Yoga und Body Mind Centering unterrichtet: “Erst wenn du dich langsam bewegst, kannst du wahrnehmen, wie du eine Bewegung einleitest. Und nur so kannst du die Bewegung sinnvoll führen. Bei Somatics dreht sich alles darum, ein Experte für dich selbst zu werden.” Im Yoga bedeutet das auch: ein gutes kinästhetisches Bewusstsein zu entwickeln. Dazu gehören Interozeption (die Wahrnehmung des Körpers von innen heraus), Propriozeption (die Wahrnehmung des Körpers im Raum) und ein gutes Gleichgewicht zwischen dieser inneren und äußeren Empfindung.

Das wiederum funktioniert nur, wenn du innerhalb deiner Bewegungsgrenzen bleibst, sagt Aki Omori: Nur hier spürst du Leichtigkeit und Halt. Um diese Art von sensorischem Bewusstsein zu entwickeln ist neben der Zeit noch ein zweiter Faktor entscheidend: Das, was man wahrnimmt, nicht zu werten. Aki Omori betont, wie wirkungsvoll dieses Üben auch außerhalb von Yoga sein kann: Wenn dir zum Beispiel eine Freundin sagt, dass sie es nicht richtig findet, wie du dich in deiner Beziehung verhältst, dann spürst du wahrscheinlich eine unwillkürliche Reaktion: Vielleicht ist da eine Hitze im Nacken und deine Schulter spannen sich an, um das Herz zu schützen?

Bewussteres Leben durch Somatics

Die Fähigkeit, das bewusst wahrzunehmen, dieser somatischen Empfindung Raum zu geben und ihr wertfrei und neugierig zu begegnen, macht einen gewaltigen Unterschied: Du kannst erkennen, dass dich Gefühle wie Scham, Abwehr oder Wut bewegen. So musst du nicht blindlings zurückschlagen, sondern kannst Mitgefühl zulassen – und Drama vermeiden. “Diese Neugier gegenüber dem, was sich zeigt, ist nie verkehrt”, sagt Omori, “jede Empfindung ist ja zunächst einmal gültig. Mit dieser Grundeinstellung bist du präsenter in deinem Alltag, kannst dir selbst besser vertrauen und auch entsprechend einfühlsamer mit dir und anderen umgehen.”

„Du spürst: Ich fühle mich bereit
für das, was kommt – auf allen Ebenen.“

Aber nicht nur auf der emotionalen Ebene kann dir Somatic Yoga helfen, mit weniger Schmerz zu leben: Eleanor Criswell hat in ihrer langjährigen Praxis schon oft erlebt, dass Schüler*innen zum Beispiel mit schmerzenden Schultern in den Unterricht kamen und völlig schmerzfrei wieder gingen. “Ich weiß auch, dass die Praxis den Schlaf verbessert und sogar Depressionen und Ängste lindert. Ich glaube, es liegt daran: Du fühlst dich bereit für das, was kommt, egal ob das auf einer körperlichen Ebene ist, sozial, bei der Arbeit oder in der Familie.”

Paradigmenwechsel

Um auf diese Weise zu üben und dich weiterzuentwickeln, brauchst du nicht unbedingt einen speziellen Somatic-Yoga-Unterricht. Eigentlich genügt es schon, dass du selbst viel Achtsamkeit und Neugier mitbringst – am besten natürlich in Klassen, wo man sich langsam bewegt.

• Beobachte wertfrei, wie sich dein Körper anfühlt, bevor du dich in eine Haltung begibst und während du dich in sie hineinbewegst.

• Gehe nur so weit, wie es sich in deinem Körper in diesem Moment gut und richtig anfühlt.

• Bewege dich mit der selben Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auch wieder aus ihr hinaus. Schenke diesen Übergängen mehr Beachtung als deiner intensivsten oder der idealen Form einer Haltung.

• Und vor allem: Übe diese Bewusstheit nicht nur auf der Matte, sondern auch in deinem Alltag, deinem Leben.

Mir hat schon die eine Session mit Bonnie Bainbridge Cohen einen neuen Blick auf die Praxis eröffnet: Ich fühlte mich anders danach, vollständiger. Als hätte ich den Original-Code wiedergefunden, der mir ermöglicht, ganz in meinem Körper zu sein, verkörpert, embodied. Als würde ich zuerst in Verbindung mit der Stille treten und erst danach mit all dem Lärm, der aus der gemeinsamen Erfahrung des Menschseins entsteht. Das war ebenso erdend wie energetisierend, ebenso selbstverständlich und natürlich wie es umwerfend neu war. Ein Paradigmenwechsel.


TASHA EICHENSEHER war lange Zeit die Chefredakteurin der US-amerikanischen Ausgabe des YOGA JOURNAL. Jetzt setzt sie ihre Yogareise auf anderer Ebene fort: unter anderem mit einem Studium in transpersonaler Psychologie.


In dieser Podcast-Folge spricht Anna Trökes ebenso darüber, wie wir uns durch unsere Körperräume erfahren:

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