Warum die Yogawelt traumasensible Achtsamkeit braucht

Immer öfter begegnet man in der Yogawelt dem Begriff “Traumasensibilität”. Wir haben mit zwei Expertinnen auf diesem Gebiet, Louisa Domhan und Loredana Di Filippo, gesprochen und nachgefragt, was genau es bedeutet, Yoga und Achtsamkeit traumasensibel – oder traumainformiert – zu unterrichten. Louisa und Loredana sind Yogalehrerinnen und bieten darüber hinaus körperorientierte Coachings auf Grundlage traumasensibler Achtsamkeit an. Denn viel mehr Menschen sind von einem Trauma betroffen, als uns vielleicht bewusst ist. Warum es so wichtig ist, auch im Yogaunterricht ein Bewusstsein dafür zu schaffen, erfährst du in diesem Interview.

Louisa Domhan und Loredana Di Filippo
Louisa Domhan (links) und Loredana Di Filippo (rechts)

YW: Zuallererst würde mich interessieren: Wie seid ihr selbst auf Traumasensibilität aufmerksam geworden? Wie kam es dazu, dass ihr heute Traumasensibilität in eure Arbeit integriert?

Louisa: 2017 bin ich eine längere Zeit nach Indien gereist, um in einem traditionellen indischen Ashram meine erste Yogaausbildung zu absolvieren. Diese Zeit war alles andere als (trauma)sensibel. In indischen Ashrams geht es sehr dogmatisch zu. Klare Regeln, wenig Raum für individuelles Empfinden und Herangehen an den Yogaunterricht. Es war eine sehr bereichernde und lehrreiche Zeit. Wenn ich aber aus meiner heutigen Sicht darauf schaue, hätte ich mir einige Dinge anders gewünscht – wie zum Beispiel den Umgang mit dem Ausführen von Yogaasanas im Hinblick auf körperliche Einschränkungen und emotionale Zustände.

Als ich dann 2017 meine ersten Yogaklassen unterrichtete und den ersten Job als Sozialarbeiterin mit geflüchteten Menschen begann, kam ich mit dem Thema Trauma in Kontakt. Ich habe verstanden, wie Trauma im Gehirn und unserem Nervensystem wirkt und was für extreme Auswirkungen Trauma auf das ganze Leben und Umfeld hat. Was als zwei Parallelstraßen begann, lief 2020 als große Hauptstraße mit einer ersten Weiterbildung zum traumasensiblen Yoga bei Eva Weinmann zusammen.

Loredana: Wenn ich mich zurück erinnere, dann bin ich durch Zufall auf eine Fortbildung zum traumasensiblen Yoga gestolpert. Rückblickend kann ich sagen, dass ich vermutlich aufgrund meiner eigenen Trauma-Geschichte tiefer in die Materie eingetaucht bin. So oft lernen und lehren wir doch gefühlt das, was wir am meisten brauchen. Ich habe sehr viele verschiedene Traumata erlebt, die mich als Mensch sehr geprägt haben. (Trauma)sensibles Yoga, Achtsamkeit und Körpertherapie haben mir gezeigt, dass ich viel mehr bin als die Summe meiner prägenden Erlebnisse. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich mein Wissen jetzt auf unterschiedliche Art und Weise weitergeben darf – zusammen mit Louisa in der Erwachsenenbildung, in den Yogastunden und Workshops, die ich unterrichte, und in der Arbeit mit meinen Klientinnen.

YW: Könnt ihr uns eine kurze Einführung geben, was Trauma bedeutet?

Loredana: Wenn Menschen an Trauma denken, denken sie meist an Schocktraumata. Sie denken an Krieg, Naturkatastrophen, Unfälle oder sexuelle Gewalt. Und es stimmt natürlich: Diese Ereignisse haben das Potenzial, traumatisch zu sein. Doch noch einmal von vorn: Trauma bedeutet erst einmal Wunde. Ein Trauma ist etwas, das unser Nervensystem überfordert und damit unsere Verarbeitungsmöglichkeiten übersteigt. Eine moderne Definition von Trauma ist also: Ein Trauma entsteht im Nervensystem, nicht im Ereignis selbst. Das bedeutet, was traumatisch ist, ist subjektiv. Anstelle von Trauma könnte man auch sagen: “Das Nervensystem überfordernde Erfahrungen”.

Frau mit mentaler Belastung
© Anthony Tran via Unsplash

Und wir dürfen den Trauma-Begriff achtsam verwenden. Ich höre in Gesprächen oft Dinge wie: “Und dann musste ich einfach zwei Stunden auf die Bahn warten. Das war richtig traumatizing.” Nur weil uns etwas emotional fordert, ist es nicht direkt traumatisierend. Hier dürfen wir, aus Respekt vor Menschen mit Trauma-Hintergrund, feinfühlig in unserer Sprache werden.

YW: Was bedeutet traumasensibles Unterrichten im Yoga?

Louisa: (Trauma)sensibel Yoga zu unterrichten bedeutet für mich, in erster Linie trauma-informiert zu sein und dadurch eine bewusste und achtsame Haltung einzunehmen. Menschen kommen meist zum Yoga oder fangen mit dem Meditieren an, um ihre Symptome wie zum Beispiel innere Unruhe, Verspannungen, Gedankenkreise und schlechten Schlaf zu lindern. Klassische Yogastunden können durch die Art und Weise des Unterrichtens, der Sprache, der Haltungen und durch das Nichtwissen über das Nervensystem dazu führen, dass sich diese Symptome tatsächlich verschlimmern. Viele Teilnehmende denken dann, dass sie alles falsch machen oder “nicht hinbekommen”, weil sie keine Entspannung oder Verbesserung der unerwünschten Symptome wahrnehmen können.

Menschen, die (trauma)sensibel achtsam Yoga unterrichten, wissen über das autonome Nervensystem Bescheid und verstehen, wie Trauma im Nervensystem wirkt. Mit dieser achtsamen Haltung können wir Menschen gezielter und wirksamer begleiten und sie da abholen, wo sie gerade stehen. Egal ob mit oder ohne Trauma-Hintergrund. Es ist nicht notwendig, Expert*in zum Thema Trauma zu sein. Denn in seriösen (trauma)sensiblen Angeboten geht es nicht darum, traumatherapeutisch zu arbeiten. Das ist – es steckt schon im Begriff – Sache einer traumatherapeutisch ausgebildeten Person.

YW: Könnt ihr dazu ein Beispiel geben? Was sind vielleicht No-Gos unter dem Aspekt der traumasensiblen Achtsamkeit im Yogaunterricht?

Loredana: Erstmal: Ich bin mir sicher, dass wir alle mit den besten Absichten unterrichten. Wir wollen Menschen auf dem Weg in die eigene Balance, Freiheit und Stärke unterstützen und inspirieren. Und wie Louisa schon angemerkt hat, finden ganz viele No-Gos eher aus Unwissenheit statt. Ich selbst liebe die Freiheit, die mir in (trauma)sensiblen Stunden geboten wird. Deswegen praktiziere ich selbst, soweit es geht, selbst nur (trauma)sensible Yogastunden. Da diese aber noch nicht weit verbreitet sind, bin ich immer mal wieder in klassischen Yogastunden. Und ich bin dann oft erstaunt, wie viel die kleinen Modifikationen in (trauma)sensiblen Stunden ausmachen.

Erst kürzlich war ich in einer Stunde, in der es um das Thema Herzöffnung und Emotionen ging. Ich vermute, dass einige das nicht hören wollen, aber: Wenn ich kein therapeutisches Hintergrundwissen habe, empfinde ich es als gewagt, ein so intensives Thema in einer offenen Klasse zu unterrichten. Denn besonders in großen und offenen Klassen wissen wir nie, wer den Weg zu uns findet. Wir können Menschen ihre inneren Wunden nicht ansehen. Deswegen schaffen wir am besten einen möglichst sicheren Rahmen. Und deswegen legen wir den Fokus in der (Trauma)Sensibilität auf Stabilität und Sicherheit.

Hände auf dem Herzen
© Aghavni Shahinyan/Getty Images via Canva

Das Schöne am Yogaunterrichten, das kenne ich selbst, ist die Kreativität in der Gestaltung der Stunden. Ich kann also verstehen, dass Yogalehrende die Themen aufgreifen möchten, die sie selbst berühren. Eine einladende Sprache kann hier unterstützen. Anstatt “Lege dir eine Hand auf das Herz und spüre die Verbundenheit zu dir” könnte ich sagen: “Wenn du möchtest und es sich sicher anfühlt, kannst du dir eine Hand auf den Brustkorb legen.” So spreche ich nicht suggestiv, sondern einladend. Und ich ermächtige die praktizierende Person, selbst zu entscheiden, was sich gerade gut anfühlt.

Generell ist der Aspekt der Wahlfreiheit ganz typisch für (trauma)sensible und achtsamkeitsbasierte Angebote. Trauma, egal in welcher Form, beraubt uns unserer Wahlmöglichkeiten. Deswegen ist es schön, wenn unsere Angebote Menschen darin unterstützen, ihre Bedürfnisse zu spüren. In einer Yogastunde hatte ich zum Beispiel das Bedürfnis, meinen Kopf in der Sphinx auf einem Block abzulegen. Ich wollte nichts festhalten, sondern eher eine “yinnige” Qualität einladen. Die Lehrerin schwebte in meine Richtung und flüsterte: “Wir bleiben hier aktiv.” Dazu hat sie mir dann noch meine Schulterblätter ausgerichtet. Dabei wollte ich eigentlich nicht berührt werden und hätte mich gefreut, wenn sie vorher gefragt hätte, ob mir eine Berührung gut tun würde.

Ich mache der Yogalehrerin keinen Vorwurf, denn ich weiß, dass es teilweise noch so gelehrt wird: “Geh durch den Raum, zeig deine Präsenz, berühre die Menschen.” Die Lehrenden wollen es einfach gut und richtig machen. Doch damit ist Menschen mit Trauma-Hintergrund oder auch sehr feinfühligen Menschen nicht geholfen. Es gibt noch einige andere Aspekte, die ein (trauma)sensibles von einem nicht (trauma)sensiblen Setting unterscheiden. Doch ich belasse es erstmal hierbei.

YW: Würdet ihr sagen, Traumasensibilität ist in der Yogawelt ein zu vernachlässigtes oder zu unterschätztes Thema?

Loredana: Die Ereignisse unserer Zeit erzeugen auf den unterschiedlichsten Ebenen Stress. Individuell, gesellschaftlich, innerhalb der Familie, im Beruf. Permanenter Stress versetzt unser Nervensystem in den Überlebensmodus. Das führt dazu, dass nicht integriertes traumatisches Erleben an die Oberfläche kommt. Ich denke deswegen erleben die Themen Traumasensibilität und Nervensystem gerade einen richtigen Boom. Konkret auf Yoga bezogen: Nun ja, hier wäre spannend zu sehen, inwiefern Traumasensibilität schon in Yogaausbildungen integriert wird. Momentan ist das eher eine Ausnahme. Traumasensibilität wird noch oft als Nischenthema betrachtet. Dabei ist die Herausforderung: Wir sind in der Regel keine Therapeut*innen, werden aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit Menschen konfrontiert, die einen Trauma-Hintergrund haben. Deswegen fände ich es wunderbar, wenn Yogaausbildungen sich entsprechend aufstellen.

Shavasana Yogastunde
© Webphotographeer/Getty Images Signature via Canva

Louisa: Ich persönlich finde: absolut! Wenn ich aus meiner Brille, mit meiner Geschichte und dem jetzigen Wissen über das Nervensystem auf die Yogawelt schaue, darf sich hier noch viel verändern. Einige Yogalehrende sind meiner Meinung nach oft grenzüberschreitend: physisch und emotional. Oft wurde ich im Unterricht berührt und ausgerichtet ohne gefragt zu werden. Eine Situation ist mir sehr eindrücklich geblieben, als ein männlicher Yogalehrer mich in einer sitzenden Vorbeuge – ich konnte ihn weder sehen, noch hat er mich gefragt – tiefer in die Haltung bringen wollte. Ich weiß, dass hier ein wohlwollender Gedanke dahinter stand, dennoch war für mich an diesem Punkt die Stunde gelaufen. Es war einfach nur unangenehm.

Toxische Positivität wie “Good Vibes Only”-Mentalität oder Diskriminierung ist in der Yoga-Bubble oft zu spüren. Ich persönlich wünsche mir von der gesamten Yogawelt mehr Inklusivität, mehr Auseinandersetzung mit Trauma, dem Nervensystem und seinen Folgen, um Menschen sensibel da abholen zu können, wo sie stehen.

YW: Traumasensible Achtsamkeit ist ja ein relativ weiter Begriff. Gibt es neben Yoga noch andere Lebensbereiche, in die ihr traumasensible Achtsamkeit mit einbringt?

Louisa: Ich arbeite als körperorientierte Coachin und Reiki Practitioner. In diesen Bereichen ist traumasensible Achtsamkeit unumgänglich, wenn wir Menschen nachhaltig gezielt unterstützen möchten. Spannend ist, dass durch die Traumasensibilität meine gesamte Haltung als Mensch verändert wurde. Ich bin im Kontakt mit Menschen viel einfühlsamer, empathischer und sensibler geworden. Wenn ich an die Zeit als Sozialarbeiterin zurückdenke, würde ich mir heute wünschen, ich wäre früher mit dem Wissen in Kontakt gekommen.

Loredana: Ich arbeite ebenfalls als körperorientierte Begleiterin und Body Workerin und spüre, wie sehr die traumasensible Arbeit mir und meinen Klient*innen Sicherheit gibt. In unseren Workshops zu Traumasensibler Achtsamkeit waren aber auch schon Sozialarbeiter*innen und Lehrer*innen. Und kürzlich hatte ich auf einem meiner Retreats ein interessantes Gespräch mit einer Tätowiererin. Sie empfand es so, dass sie die traumasensible Praxis sehr gut für ihre eigene Selbstfürsorge nutzen kann, um in ihrem Beruf präsent und gut abgegrenzt zu bleiben. Trauma ist kein individuelles Randphänomen, sondern eine gesellschaftliche Tatsache. Deswegen darf das Wissen sich auch mehr und mehr gesamtgesellschaftlich abbilden. Traumasensibilität ist kein Yogastil, sondern eine Haltung. Und ich versuche, alles was ich tue, traumasensibel zu tun.


Louisa Domhan und Loredana Di Filippo
Louisa Domhan (links) und Loredana Di Filippo (rechts)

Louisa Domhan ist Yogalehrerin, körperorientierte und nervensystembasierte Coachin und Reiki Practitioner. Zudem leitet sie das Yogastudio “Fuß über Kopf” in Stuttgart und hostet den Podcast “Yoga Home”. Mehr zu Louisa und ihrer Arbeit unter www.yogamitlouisa.de und auf Insta @louisadomhan

Loredana Di Filippo arbeitet ebenso als Yogalehrerin, körperorientierte Begleiterin – sowohl im 1:1 als auch in Gruppen – und bietet (trauma)sensible Retreats an. Es ist ihr ein Anliegen, besonders in Bezug auf generalisierte Angst und innere Unruhe über das Potenzial von Körperarbeit aufzuklären. Mehr zu Loredana und ihrer Arbeit unter www.loredana-di-filippo.de und auf Insta @loredana_pina


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