Embodiment: Ich fühle, also bin ich

Die Seele ist der Spiegel des Körpers. Na, über diesen Satz gestolpert? Normalerweise kennen wir ihn ja eher umgekehrt. Das Konzept Embodiment macht Schluss mit dem Einbahnstraßen-Denken und zeigt, wie eng und nicht- hierarchisch körperliches und seelisches Erleben miteinander verbunden sind. Plus: 5 Embodiment-Quick-Tipps für verschiedene Lebenslagen.

TEXT: CARMEN SCHNITZER

Embodiment ist ein interdisziplinär und deshalb nicht ganz einheitlich verwendeter Begriff aus der Kognitionsforschung, der das Zusammenspiel und die Wechselwirkung von Körper und Geist erforscht und damit einer uralten Frage auf den Grund geht, die man in der Philosophie als “Leib-Seele-Problem” beschreibt. Im Grunde ist der Ansatz ein zutiefst “yogischer”: Man geht beim Embodiment davon aus, dass alles mit allem verbunden ist und zwar gleichwertig, ohne eine Art oberste Schaltzentrale wie etwa das Hirn, die den Rest unseres Seins steuert. Die Embodiment-These lautet: Bewusstsein benötigt nicht nur einen Körper, der Körper ist Teil dieses Bewusstseins. Das, was wir Geist nennen, ist eingebettet in einen Körper, dieser Körper wiederum ist eingebettet in eine Umwelt, und zwischen allen dreien bestehen ein permanenter gegenseitiger Austausch und eine gegenseitige Beeinflussung: Nicht allein unser Fühlen und Denken bestimmen, was der Körper tut, sondern umgekehrt bestimmt auch der Körper, wie wir uns fühlen und was wir denken. Und damit ist nicht allein so etwas gemeint wie: Ich bin krank, das macht mich traurig, denn jetzt kann ich meine Freundin nicht besuchen. Nein, sogar Körperhaltung und Mimik haben ganz unmittelbar Einfluss auf unser Bewusstsein. Dazu gibt es mittlerweile zahlreiche Studien, zum Beispiel das berühmt gewordene, 1988 veröffentlichte “Bleistift-Experiment”, welches die sogenannte Facial-Feedback-Hypothese untermauern sollte, die besagt, dass Gesichtsmuskelbewegungen das eigene emotionale Erleben beeinflussen.

Der Psychologe Fritz Strack ließ gemeinsam mit Leonard Martin und Sabine Stepper Probandinnen einen Bleistift in den Mund nehmen und damit malen oder schreiben, unter dem Vorwand, man wolle die Motorik von Menschen mit körperlichen Einschränkungen untersuchen. Eine Gruppe sollte den Stift mit den Zähnen, eine mit den Lippen halten, eine mit der nichtdominanten Hand. Worum es dem Forscherinnenteam eigentlich ging: Wer den Stift mit den Zähnen hielt, zog dadurch die Mundwinkel automatisch nach oben, während das Halten mit den Lippen ein Lächeln eher verhinderte und das mit der Hand keinen Effekt hatte. Als man den Versuchspersonen im Anschluss an die Mal- und Schreibversuche Gary-Larson-Cartoons vorlegte, mit der Bitte, deren Lustigkeit einzuschätzen, amüsierten die Bilder die Zahn-Gruppe tatsächlich am meisten, die Lippen-Gruppe am wenigsten.

Was bedeutet Kognition, was Intelligenz?

Unter Kognition versteht man die Gesamtheit aller bewussten und unbewussten mentalen Prozesse, darunter Wahrnehmung, Erkennen, Schlussfolgern, Planen, Erinnern, Kreativität, Meinungsbildung, Lernen usw. Intelligenz wiederum bezeichnet eine Eigenschaft der Kognition: das Denkvermögen, die Fähigkeit, sich auf neue Begebenheiten kognitiv einstellen zu können und ausgehend von gemachten Erfahrungen neue Sinnzusammenhänge herstellen zu können. In der Embodiment-Forschung geht man davon aus, das auch der Körper eine eigene Form von Intelligenz, Erinnerungsvermögen usw. hat, weshalb Körperarbeit zum Beispiel auch bei der Bewältigung von psychischen Krisensituationen helfen kann.

Von Sünde und Reinheit

Die Beweiskraft dieses Experiments ist mittlerweile umstritten, nichtsdestotrotz gilt es als Klassiker der Embodiment-Forschung und regte mit dazu an, unser klassisch westliches Körper-Geist-Verständnis, bei dem das eine vom anderen getrennt ist, zu überdenken. Leicht war das nicht, denn die christlich-abendländische Tradition und das Zeitalter der Aufklärung haben gründlich dafür gesorgt, dass dem “sündhaften” Körper im Vergleich zur “reinen” Seele aus philosophischer Sicht immer etwas Niederes, Schmutziges anhaftete und diese Assoziation tief in uns verwurzelt war: Ich denke, also bin ich. Der Geist allein bestimmt unser Sein, der Körper ist lediglich seine vergängliche Hülle, eine Art Reiz-Reaktions-Maschine. Gleichzeitig galt beinahe Umgekehrtes für die Schulmedizin: Körperliche Vorgänge waren nachweisbar, während die Psyche diffus blieb, wenig greifbar: Gängige Sätze wie “Vielleicht ist es auch nur (!) was Psychisches” zeugen davon, wie wenig ernst man den Anteil der Seele am körperlichen Leiden lange nahm. Doch die Zeiten ändern sich: Was in der Yogaphilosophie schon lange als gegeben angesehen wurde – die Einheit von Körper, Geist und Umwelt – findet mehr und mehr Anklang in der Wissenschaft. Einer der Gründe dafür: Endlich lässt sich vieles objektiv messen, was lange nur gefühlte Wahrheit zu sein schien – in der Neurobiologie etwa können Hirnströme nachweisen, dass die wohltuende Wirkung von Yoga mehr ist als pure Einbildung, dass sich beim Meditieren tatsächlich etwas verändert.

Spiritualität und Naturwissenschaft

An dieser Stelle ist der Meditationsforscher Ulrich Ott zu nennen, der seit mehr als zwei Jahrzehnten beweist, dass Spiritualität und Naturwissenschaft wunderbar miteinander harmonieren können. Daneben ist es Pionierinnen wie Maja Storch (Interview im Yoga Journal Print Ausgabe Nr. 77 05/21) zu verdanken, dass das Thema Embodiment mehr und mehr Raum bekommt. Gemeinsam mit Frank Krause entwickelte sie in den 1990er-Jahren für die Universität Zürich das Zürcher Ressourcen Modell (ZRM), ein psychoedukatives Selbstmanagement-Training, bei dem neben (Sprach-)Bildern auch Körperarbeit mit einbezogen wird, um festgefahrene Verhaltensmuster, Ängste und andere Blockaden zu lösen. Nix da also mit “sündhaft” oder “minderwertig”: Unser Körper ist ein mächtiges Werkzeug, das uns helfen kann, ein glückliches Leben zu führen – nicht nur dann, wenn wir uns verlieben und die Schmetterlinge in unserem Bauch Salsa tanzen …

Bild: Rodolfo Sanches Carvalho

5 Embodiment-Quick-Tipps für verschiedene Lebenslagen

Du wünschst dir mehr Selbstbewusst – sein.

Kopf hoch, im wahrsten Sinne: Richte dich auf, strecke die Brust leicht nach vorn und hebe dein Kinn. Sich in dieser Haltung klein und minderwertig zu fühlen, ist fast nicht möglich.

Du fühlst dich angespannt und gestresst.

Stell deine Füße etwas breiter als hüftbreit und federe mit den Knien, als stündest du auf einem Trampolin. Dann schüttelst du deine Hände, die Arme und schließlich den ganzen Körper, gerne mit geschlossenen Augen. So schüttelst du Stress buchstäblich von dir ab.

Du fühlst dich erschöpft und brauchst schnell neue Energie.

Auf geht‘s: eine Runde Schatten-Kickboxen gegen einen imaginären Sandsack! Kicke mit den Füßen kraftvoll nach vorn, lass deine Fäuste durch die Luft schießen – das gibt Power!

Du bist unzufrieden und genervt.

Ja, das darf auch mal sein. Wenn du aber etwas dagegen tun willst, hilft es zu lächeln oder auch laut zu lachen. Nicht selten wird aus dem zunächst künstlichen ein natürliches Lachen und deine Stimmung hellt sich auf.

Du kommst abends schwer zur Ruhe.

Denke an einen Ort, den du mit Entspannung verbindest – einen einsamen Strand vielleicht oder eine Waldlichtung. Du kannst dir auch ein Foto deines letzten Urlaubs heraussuchen und es betrachten, während du dich nun an diesen Ort träumst, dabei tief ein- und ausatmest und deinen Atem beobachtest.


Titelbild: Rodolfo Sanches Carvalho via Unsplash


Dieser Artikel ist aus der Yoga Journal Print Ausgabe Nr. 77 05/21

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