“Yoga ist keine Blase außerhalb von Zeit, Raum und Gesellschaft” – Interview mit Politologin Zineb Fahsi

Die französische Politologin und Yogalehrerin Zineb Fahsi liebt Yoga – und plädiert zugleich für einen (selbst-)kritischen Blick: Sie hat erforscht, wie tief das moderne, westliche Yoga geprägt ist von den Strukturen und Denkweisen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.

Interview: Stephanie Schauenburg / Titelbild: Zineb Fahsi

Auf Deutsch würde der Titel deines Buches “Yoga, der neue Geist des Kapitalismus” heißen. Ganz schön provokant – aber genau das war ja vielleicht deine Absicht?

Für mich war das erst mal nur eine doppelte Referenz. Zum einen spielt es auf das Buch “Der neue Geist des Kapitalismus” der Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello an und zum anderen auf “L’Esprit du Yoga” von Ysé Tardan-Masquelier, die als Religionshistorikerin und Yogalehrende darüber nachdenkt, wie man als moderner westlicher Mensch authentisch Yoga üben kann.

Hast du keine pikierten Reaktionen aus der Yogaszene bekommen?

Doch! Und das hat mich im ersten Moment überrascht. Manche haben den Zusammenhang Yoga/Kapitalismus gar nicht gesehen, andere glaubten, es ginge um die Vermarktung von Yoga.

Du schreibst aber über etwas anderes: über die historische Entwicklung von Yoga und wie sich da dieselben Denkweisen eingeprägt haben, die auch unser kapitalistisches System ausmachen. Was meinst du genau?

Da spielen sehr viele Dinge hinein, aber ganz besonders hat mich die Beobachtung beschäftigt, dass es da die Tendenz gibt, uns als Individuen die alleinige Verantwortung für unser Schicksal und unsere gesellschaftliche Zukunft aufzubürden. In anderen Milieus ist das vielleicht weniger ausgeprägt als im Yoga, aber es schwingt schon überall mit: Um die Welt zu verändern, musst du vor allem an dir selbst arbeiten. Man sieht das Individuum wie ein kleines Unternehmen, das man nach der Logik von Leistung und Wettbewerb führen soll.

Eine Täuschung …

… und zwar nicht nur weil es unweigerlich mit Schuldgefühlen arbeitet, sondern auch weil es so nicht funktioniert. Es gibt ja mittlerweile viel Forschung dazu, dass beispielsweise alle individuellen Umwelt-Bemühungen den Planeten nicht retten können, solange es keine strukturellen Veränderungen gibt. Trotzdem stellt man das Individuum ins Zentrum, macht es für alles verantwortlich und verschleiert damit all das, was seine Lebensbedingungen erschafft.

Im Yoga geht es ja vordergründig weniger um die Gesellschaft, sondern erst mal um einen selbst. Du zeigst aber, dass Gesundheit und Glück nicht nur individuelle Versprechen sind, sondern dass auch eine Verpflichtung mitschwingt: Es wird erwartet, dass wir fit, entspannt und obendrein positiv eingestellt sind …

Ja und da sehe ich im Yoga etwas sehr Ambivalentes, sobald es um negative Gefühle, um Wut, Traurigkeit oder sogar um kritisches Denken geht. Es wird suggeriert: Wenn es dir schlecht geht, dann hast du nicht genug an dir gearbeitet, dann bist du kein guter Yogi, oder noch nicht weit genug auf deinem spirituellen Weg. Wenn man zum Beispiel der in der Yogawelt ziemlich beliebten Idee vom “Gesetz der Anziehung” Glauben schenkt, dann darfst du nichts Negatives denken, sonst ziehst du all das Negative in dein Leben. Ich habe mich gefragt: Wie soll sich überhaupt jemals etwas ändern, wenn wir aufgefordert sind, in einer Art yogischer Glückseligkeit in dieser sehr ungerechten, gewalttätigen Welt zu leben?

Dabei wird der Eindruck vermittelt, diese Vorstellungen seien Teil der Yogaphilosophie. Dein Buch zeichnet sehr beeindruckend nach, wie und was da miteinander vermischt wurde. Um was geht es hauptsächlich?

Ganz kurz gefasst: Die Fragen nach dem Individuum und seinem Glück, nach Selbstverwirklichung, all das ist historisch gesehen sehr neu. Ich wollte herausfinden, wie das überhaupt mit Yoga zusammenhängt. Die alten Texte sprechen vom Leiden – und wir haben das in die Suche nach Glück übersetzt. Das fand ich interessant: Dahinter stecken ja dieselben großen, zeitlosen Fragen, aber im Lauf der Zeit wurden sie immer wieder neu formuliert und so hat sich der Sinn auf dem Weg von Indien nach Europa, von der prämodernen zur modernen zur heutigen Zeit immer wieder verschoben. Es gibt also eine universelle Dimension, aber eben auch sehr kontextuelle Dimensionen der Yogaphilosophie. Man könnte es auch so ausdrücken: Die wesentlichen Züge des heutigen Yoga sind alle in der überlieferten Lehre angelegt. Dennoch suchen wir heute zum Großteil etwas ganz anderes als die antiken Yogis.

Es wäre also wichtig zu begreifen, dass wir immer aus einem bestimmten, zeitlich und kulturell bedingten Blickwinkel auf Yoga schauen?

Genau. Dass das, was wir heute vermitteln, keine uralte traditionelle Lehre und Praxis ist, sondern etwas, das immer wieder neu interpretiert wurde, mag viele zunächst verunsichern, aber ich glaube, dass darin ein sehr viel gesünderer Zugang liegt: Man kann sehr ernsthaft üben und zugleich einen distanzierten Blick darauf haben.

Wie wurde denn aus einer antiken, asketischen Praxis ein modernes Tool der Selbstentfaltung oder sogar Selbstoptimierung?

Ich sehe drei wichtige historische Momente: Erstens die Kolonialzeit in Indien, als vor allem Vivekananda Yoga als Beleg dafür darstellte, dass Indien in moralischer, spiritueller und philosophischer Hinsicht dem Westen überlegen sei. Dabei hat er esoterische Ideen mit Yoga verknüpft und die Psychologisierung des Yoga eingeläutet: Die Yogapraxis sollte uns dabei helfen, in diesem Leben glücklich zu sein – wogegen der historische Yoga ja helfen sollte, sich aus dem Kreislauf der Wiedergeburten zu befreien. Dann zweitens die New-Age-Bewegung der 1960er- und 70er-Jahre: Man interessierte sich für Selbstverwirklichung, veränderte Bewusstseinszustände, andere Formen von Gemeinschaft, Spiritualität und Pazifismus und wandte sich – denselben Klischees wie schon im 19. Jahrhundert folgend – erneut nach Indien, um Antworten auf die Übel der westlichen Moderne zu finden. In den 1980er-/90er-Jahren machte man diese alternativen, antikonformistischen Praktiken dann in einem sozialen und ökonomischen Konformismus nutzbar, das ist der dritte Moment.

Was passierte da?

Man glaubte nicht mehr wie im 19. Jahrhundert, dass die Religion unser Leben besser machen kann, man glaubte auch nicht mehr wie im 20. Jahrhundert daran, dass Politik in der Lage sei, unsere Existenz zu transformieren, und dachte, das Einzige, was demnach bliebe, sei, sich selbst zu verändern. Die individuelle Veränderung sollte die kollektive Veränderung bewirken: “Der Frieden in der Welt wird von deinem inneren Frieden ausgehen …” Das ist alles sehr ehrenwert – aber es stimmt halt so nicht.

Du schreibst dazu in deinem Buch, dass man auf diese Weise jeden Impuls, das ökonomische System zu hinterfragen, neutralisiert …

Das heißt nicht, dass es auf individueller Ebene nichts zu tun gäbe, nur, dass das leider nicht reicht und ja auch nicht allen gleichermaßen möglich ist. Nicht jeder und jede kann es sich zum Beispiel leisten, bio zu essen und “ethisch” einzukaufen. Wenn man sich nur auf das individuelle Verhalten konzentriert, verdeckt man den Großteil des Problems: die Art, wie Wirtschaft, Politik und Gesellschaft organisiert sind. Das individuelle Verhalten müsste gestützt sein, getragen und ermöglicht werden von strukturellen Veränderungen – und die liegen in der Verantwortung von Politik und Unternehmen.

Bezogen auf Yoga wäre es demnach wichtig, es aus diesem unseligen Kontext von Selbstoptimierung zu lösen, mit dem wir ja letztlich – rundum entspannt und positiv eingestellt – dazu beitragen, dieses ungesunde System am Laufen zu halten?

Richtig, wobei das nicht dazu führen soll, dass sich Yogalehrende schuldig fühlen, weil sie sich sagen: Oh nein, ich trage mit meiner Arbeit zu einer furchtbaren Industrie bei! Auch da muss ich wieder sagen: Als Individuen sind wir unweigerlich Teil größerer Strukturen und wir tragen nicht die Verantwortung für diese Strukturen. Dennoch müssen wir unser Bestes tun: unsere Art, zu unterrichten, kritisch hinterfragen und uns überlegen, welche Vorstellungen wir freiwillig oder unfreiwillig vermitteln und wie es um unsere Ethik steht.

Was kann Yoga denn überhaupt gesellschaftlich oder politisch beitragen?

Ich glaube nicht, dass es die Welt verändern kann. Die großen Veränderungen müssen auf anderer Ebene stattfinden – vielleicht wird es ja mal sowas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen und kostenloses Yoga für alle geben. Bis dahin können wir aber kleine Räume des Widerstands schaffen.

Was meinst du damit?

Ich finde, da gibt es einiges im Yoga, das man als subversiv verstehen kann: Wir laden Menschen dazu ein, das Tempo rauszunehmen, auszuprobieren, wie es ihnen geht, wenn sie mal gar nichts tun, wenn sie still werden und in sich hineinlauschen, wir laden zum Experimentieren ein, zur Sanftheit, zur Neugier. Wir spüren und erforschen unseren Körper, ohne dass es ums Aussehen oder um Leistung geht.

Was wäre dafür wichtig?

Ich glaube, das hat viel mit der Pädagogik zu tun: Was vermittle ich als Yogalehrer*in jenseits der Haltungen, der Atemübungen oder der Meditation? Ich sehe zum Beispiel noch eine Menge Kurse, wo es sehr darum geht, den Körper der Teilnehmenden zu kontrollieren: Wir machen uns oft nicht bewusst, wo so etwas herkommt. Wir geben ja keine Yogazeugnisse zum Schuljahresende aus, es gibt keine ästhetischen Vorgaben und kein zu erreichendes Ziel. Als Lehrende sollten wir uns fragen: In welchem Rahmen bieten wir Yoga an? Welche Stellung geben wir den Teilnehmenden? Versuchen wir, sie in ihrer Autonomie zu stärken oder machen wir sie als Lehrende abhängig von unserem Rat, unserem aufmunternden Lächeln und so weiter?

Wobei es ja auch hier nicht darum geht, Yoga auf einen angeblichen authentischen Kern zurückzuführen, sondern eher darum, sich Bewusstsein zu schaffen, nicht wahr?

Ganz genau! Es geht um den Kontext und um mehr Bewusstheit in dem, was wir vermitteln und üben. Zu verstehen, dass das eine sehr komplexe und reiche Geschichte ist. Anzuschauen, wer heute Yoga übt, wer es nach außen vertritt, wer davon auf welche Weise profitiert, in welchen Zusammenhängen es angeboten oder auch vermarktet wird – mal als Wellnessprogramm, mal eher als spirituelle Praxis, aber doch meist an eine ziemlich wohlhabende Kundschaft. Zu erkennen, wie dabei zum Teil postkoloniale Dynamiken von Unterdrückung fortgeschrieben werden, die es zu hinterfragen gilt – wie aber auch umgekehrt die nationalistische indische Regierung Yoga für sich reklamiert und damit kritische Stimmen zum Schweigen bringen will.

… und währenddessen entwickelt sich Yoga immer weiter …

… und ohne diese fortwährende Entwicklung wäre es nie zu uns gekommen. Yoga war ja auch schon vor der Kolonialzeit keine seit Tausenden von Jahren unverändert bestehende Praxis, sondern es hat immer Veränderungen und verschiedene Traditionen gegeben. Es geht mir auf keinen Fall darum, das Rad zurückzudrehen, ich will die Dinge nur einordnen. Yoga ist eine wunderbare Praxis auf ganz verschiedenen Ebenen. Dabei sollten wir aber wachsam bleiben, wenn es dazu missbraucht wird, Menschen zu manipulieren oder ihre Verletzbarkeit auszunutzen. Da sehe ich Yogalehrende in einer großen Verantwortung: Es ist unsere Aufgabe, Menschen autonomer zu machen und ihr Unterscheidungsvermögen zu stärken.

Unterscheidungsvermögen ist, glaube ich, ein sehr wichtiges Wort an dieser Stelle …

… und wir verwenden es im Yoga viel zu selten! Wir sehen Yoga vor allem im Zusammenhang von Gefühlen, von Achtsamkeit, Entspannung und der Verbindung mit dem gegenwärtigen Moment. Wenn man sich aber mit der Philosophie beschäftigt, dann geht es da sehr viel um Analyse, um Unterscheidung und Erkenntnis.

Yoga-Gemeinschaft
Foto: StefaNikolic / Getty Images Signature via Canvas

In einem Artikel für die Zeitung “Le Monde diplomatique” schreibst du, man müsse das Wohlbefinden der Menschen wieder politisieren. Was meinst du damit?

Für mich sind Glück und Wohlbefinden auf jeden Fall etwas Politisches! Diese Begriffe wieder zu politisieren bedeutet auch, sie aus den kommerziellen Bilder- und Vorstellungswelten herauszulösen, die die Industrie geschaffen hat. Sie machen uns weis, dass Glück eine Ware sei, die wir im Spa, mithilfe einer bestimmten Ernährung oder auch durch Yoga erwerben könnten.

Vielleicht wäre das eher eine politische Dimension von Yoga: Bereit sein für Veränderungen zum Wohle aller, anstatt sich komfortabel in der eigenen kleinen Wohlfühlblase, dem eigenen Weltbild einzurichten?

Das stimmt. Yoga ist keine Blase, die außerhalb von Zeit, Raum und Gesellschaft schwebt. Im Yoga kristallisieren sich dieselben Problemfelder heraus, die uns auch als Gesellschaft beschäftigen: Welches Verhältnis haben wir zu unserem Körper, zum eigenen Geschlecht, zur Gesundheit, zur psychischen Gesundheit? Was macht die Arbeitswelt mit uns, das hohe Tempo, in dem wir leben? Was bedeutet uns Leistung? Was bedeutet es, für sich zu sorgen? Worin besteht Glück? Wie wollen wir leben? Wie wollen wir Gemeinschaft organisieren? All das sollten wir ins Bewusstsein holen und diskutieren.

Auch im Rahmen des Yogaunterrichts?

Warum nicht? Zumindest in Retreats und Workshops haben wir Raum, uns diese Fragen zu stellen und miteinander ins Gespräch zu kommen, finde ich. Wir sollten jedenfalls nicht so tun, als sei alles prima und als sei es unyogisch, negative Gedanken zu haben oder die Verhältnisse infrage zu stellen. Auch wenn wir einen kritischen Geist haben und zu den alternativen Milieus gehören, sind wir doch alle bis zu einem gewissen Grad im neoliberalen System gefangen. Diese ganzen Widersprüche, die eigenen Grenzen, aber auch ein Nachdenken über Geschichte, über Kapitalismus, über die Instrumentalisierung des Sports … das alles scheint auf den ersten Blick sehr weit weg von Yoga. Aber in der Art, wie ich Yoga vermittle, wie wir uns miteinander verbinden, spielt es immer hinein – und all das ist letztlich: Politik.


Interview: Zinab Fahsi

Die Politologin und Yogalehrerin Zineb Fahsi lebt und unterrichtet in Lyon. Ihr Ende 2023 bei Éditions Textuel erschienenes Buch “Le Yoga. Nouvel esprit du capitalisme” gibt es bisher leider nur auf Französisch. Mehr Infos erhält du auf ihrer Website yogaaveczineb.com


Lies hier unser Interview mit Anna Trökes zum Thema Yoga und Politik:

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Das Neueste

Psychologisches Yoga-Coaching: So hebst du deine Praxis auf ein neues Level

Haben wir den Kontakt zu uns verloren, das Spüren, die Selbstfürsorge? Yoga bietet viele Möglichkeiten, diese Entwicklung aufzuhalten. Wie...

Die besten Yoga Festivals 2025

Auch in diesem Jahr stehen wieder zahlreiche Yoga-Events an. Hier haben wir dir unsere persönlichen Highlights des Jahres zusammengestellt,...

Resonanz – Mit sich selbst und der Welt ins Schwingen kommen

Resonanz ist ein energetisches Phänomen: Die Art und Weise, wie Energie schwingt, erschafft Atmosphäre und diese energetische Schwingung ist...

Fasten mit der Kraft des Wassers: Reinige deinen Körper und Geist

Du fühlst dich unruhig, unausgeglichen oder nicht wohl in deiner Haut? Du möchtest deinem Körper etwas Gutes tun und...

Gesund üben mit Kristin Rübesamen: Das Knie

In der Yogapraxis auf Gelenkgesundheit zu achten, ist nicht dasselbewie Yogatherapie. Mit den hier gezeigten Übungen und den schonenden...

Rezept für Veggie-Ramen & Tipps zum selbst fermentieren

Dieses Veggie-Ramen Rezept von Mara King steckt voller fermentierter Nahrungsmittel, die sich positiv auf unsere Darmgesundheit auswirken. Foto: Aaron...

Pflichtlektüre

Die besten Yoga Festivals 2025

Auch in diesem Jahr stehen wieder zahlreiche Yoga-Events an. Hier haben wir dir unsere persönlichen Highlights des Jahres zusammengestellt,...

Das könnte dir auch gefallen
Unsere Tipps