Bist du bereit, in deinem Gegenüber sein ganzes Potenzial zu sehen? Oder denkst du dir immer wieder, du bräuchtest vielleicht doch jemand anderen an deiner Seite? Unser Kolumnist Ralf Sturm fragt: Was kann passieren, wenn wir an die Liebe glauben und uns wirklich entscheiden, zu bleiben?
Es ist zur Zeit überall zu lesen, dass eine ganze Generation “beziehungsunfähig” geworden sei. Ich glaube das nicht. Uns Menschen ist das Potenzial zu lieben in die Wiege gelegt. Leider unterbrechen wir den Weg oft, bevor wir dort ankommen, wo wir gemeinsam hin wollen. Wenn wir aber immer nur den Zustand der Verliebtheit genießen wollen und irgendwann doch meinen, der Partner sei nicht mehr gut genug, könnte es dann doch sein, dass uns etwas fehlt?
Die Liebe von Bhavaji zu Vishnus
Es gab einen Wanderer namens Bhavaji, der ein großer Verehrer Vishnus war. In Tirumalai ging er jeden Tag mehrmals in den Tempel und verbrachte dort Stunden, entzückt, das mit einer schönen Diamantenkette geschmückte Bildnis Vishnus anzusehen. Den Rest des Tages lebte er in einer kleinen Hütte nahe des Tempels. Nach einiger Zeit reagierten die Tempelwachen argwöhnisch auf den immer wiederkehrenden Mann und verdächtigten ihn, etwas stehlen zu wollen. Sie verboten ihm den Zutritt zum Tempel. Bhavaji weinte in seiner Hütte und rief: “Herr, wie gerne würde ich Dich sehen. Ich möchte so gerne mit Dir zusammen sein.” Um sich die Zeit zu vertreiben, nahm er ein Würfelspiel, und obwohl er allein war, tat er so, als ob er mit Vishnu spielen würde.
“Dass du bei mir bist, genügt”
Als es Abend wurde, schlief er ein. Doch in der Nacht wurde er geweckt: “Bhavaji, ich bin es, Vishnu. Komm, spiel mit mir!” Tatsächlich saß der von ihm verehrte Gott in seiner Hütte und lud ihn ein, gemeinsam mit ihm Würfel zu spielen. Bhavaji jubelte vor Freude, und als er sogar ein Spiel gewann und Vishnu ihm anbot, ihm einen Wunsch zu erfüllen, da sagte er nur: “Herr, ich habe keine Wünsche mehr. Dass Du bei mir bist ist schon alles, was ich will.” Vishnu freute sich und als er sich verabschiedete, versprach er, am nächsten Tag wiederzukommen. So ging es viele Tage. Immer wieder besuchte Vishnu seinen treuen Anhänger. Eines Nachmittags, als er gegangen war, fand Bhavaji auf dem Würfelbrett die schöne Diamantenkette aus dem Tempel. “Mein Herr wird sie wohl vergessen haben”, dachte er sich.
Ehrliche Hingabe wird belohnt
Als Minuten später die Tempelwachen bei ihm klopften, erzählte er ihnen seine Geschichte, doch statt ihm zu glauben, verdächtigte man ihn nur umso mehr des Diebstahls. Bhavaji war aber nicht bereit, sich schuldig zu bekennen. Der König sagte: “Uns ist Gott nie erschienen. Und du sagst, dir zeigt er sich? Für diese Anmaßung wirst du morgen früh sterben. Es sei denn, es gelingt dir mit seiner Hilfe, in der Nacht den Berg Zuckerrohr aufzuessen, den du in deine Zelle bekommst.” Damit wurde er ins Gefängnis geworfen. Nur wenige Stunden später hörten die Wachen lautes Trompeten und das Bersten der Türen. Das Letzte, was sie sahen, war, dass ein Elefant alles aufgegessen hatte und aus den Resten von Bhavajis Zelle fortrannte. Nun glaubte selbst der König, dass Bhavajis Hingabe ehrlich gewesen und Vishnu selbst – in Form des Elefanten – zu seiner Hilfe gekommen war.
Die Liebe als Geschenk
Bhavaji hatte Vishnu das größte Geschenk gemacht, das er geben konnte: seine Liebe. Und Vishnu – den er nur in Form einer schönen Statue im Tempel kennengelernt hatte – hatte für ihn alle Formen angenommen, die er sich wünschte und die er brauchte. Wie oft suchen wir Menschen nach etwas in bestimmten Formen? Und wie oft sind wir überzeugt, wir bräuchten das, wonach wir uns sehnen, auf eine ganz bestimmte Weise, auf “unsere” Weise? Wie oft sind wir überzeugt, nicht das zu bekommen, was wir brauchen, und machen uns auf die Suche nach etwas oder jemand anderem?
Die Kraft der Liebe macht uns beziehungsfähig
Genau so ging es Bhajavis Mitmenschen: Sie gingen mal in diesen Tempel und mal in jenen, mal mit etwas mehr Hingabe, mal mit etwas weniger. Sie blieben argwöhnisch – und ihr Leben veränderte sich nicht wesentlich. Bhavaji hatte sich für etwas anderes entschieden. Er sah in Vishnu alles, was er wollte, und bekam dadurch immer wieder das, was er brauchte. Die Liebe kam sogar mit der Kraft eines Elefanten zu ihm zurück. Auch wir können – nicht immer, aber doch in viel mehr Fällen, als wir glauben – wirklich die Kraft der Liebe erfahren, die unsere ganze Sicht auf unser Gegenüber verändern kann. Dann erfahren wir uns selbst als viel beziehungsfähiger, als wir dachten.