Lichtmomente – Yoga für Menschen mit Demenz

Natalie Stenzel unterrichtet Yoga für Menschen mit Demenz in Pflegeheimen, auf Geriatrie-Stationen, in Demenz-Wohngruppen und bildet Yogalehrende fort. Hier erzählt sie, was diese Arbeit so besonders macht.

Text: Stephanie Schauenburg, Titelbild: Fred Froese/Getty Images Signature via Canva

Wie kann ich mir eine Demenz-Yogastunde vorstellen?

Das Allerwichtigste ist, dass ich erst einmal alle einzeln begrüße.

Warum?

Menschen mit einer Demenzerkrankung verlieren oft nicht nur kognitive Fähigkeiten sondern auch Sprache, also Kommunikationsmöglichkeiten. Was bleibt, ist das Gefühl. Das ist mein Ansatz: Ich bin da. Und wo ich bin, da bin ich ganz. Ich bin in Verbindung. Ob ich dabei wirklich authentisch bin, merken diese Menschen sofort.

Du hast dazu ein Konzept entwickelt. Worin besteht es?

Es beinhaltet nicht nur risikofreie Übungen, sondern auch Themen wie Würde, Scham, Trauma, Körpersprache, Kommunikation – und sehr viel Wissen über Demenz: Ich muss verstehen, was da anatomisch und psychisch genau passiert. Das sind Grundvoraussetzungen.

Und wie setzt du das konkret in einer Yogastunde um?

Mit einem fertigen Stundenbild hinzukommen, funktioniert nicht. Ich muss mich voll und ganz einlassen und die Stunde immer wieder anpassen an das, was gerade da ist: Unruhe zum Beispiel oder Aufregung. Dann gehe ich vielleicht ins Tönen, wir machen eine ruhige Atemübung oder praktizieren einfach nur Stille. Das heißt: Man braucht ein Repertoire, aus dem man schöpfen und das man der jeweiligen Stimmung immer wieder neu anpassen kann, also ein gutes Fundament – und viel Kreativität.

„Da ist noch so viel Leben in diesem Menschen – und das möchte ich sehen!“

Gleichzeitig kann ich mir denken, dass Routinen wichtig sind?

Oh ja! Als Yogalehrerin für Menschen mit Demenz sollte man Wiederholungen lieben lernen – und dann kann man manchmal wundersame Dinge erleben: Ein Mensch erscheint nach außen hin müde oder lustlos und plötzlich kommt eine bekannte Übung einfach so aus ihm heraus. Das sind echte Lichtmomente!

Was kann Yoga bei Demenzpatient*innen bewirken?

Vor allem können wir eine Gemütsveränderung bewirken: von einer resignierenden, manchmal auch traurigen Haltung in eine aufgerichtete, wache, interessierte Haltung. Das andere ist die Einwirkung auf das vegetative Nervensystem, indem wir zum Beispiel bei Nervosität den Parasympathikus aktivieren, etwa über Atemübungen oder Mudras.

Yoga bei Demenz Titelbild
Foto: Danie Franco via Unsplash

Wir kennen das ja alle im Yoga: Die körperliche Aufrichtung bewirkt eine psychische Aufrichtung, ein ruhiger Atem einen ruhigen Geist …

Das stimmt. Und es ist essenziell, dass ich als Yogalehrerin nicht gleich meine zu wissen, was gut ist: Der Mensch zeigt mir, was gut für ihn ist. Darauf lasse ich mich ein und von da möchte ich ihn abholen.

Wie gut können sich denn umgekehrt die älteren Menschen einlassen auf dieses fremdartige, indische System: Yoga?

Die meisten können mit dem Wort zunächst so gar nichts anfangen: Da kommt eine Frau mit blonden Haaren und Brille und die macht “Yoga” – was ist das denn? Tatsächlich ist das aber vollkommen egal. Für mich ist wichtig, dass die Menschen sagen: “Zu der Frau will ich wieder hin. Das hat mir gut gefallen!” Mehr braucht es nicht.

Dein Konzept heißt: “Yoga kennt keine Demenz”. Was meinst du damit?

Für mich ist Yoga eine Schatztruhe – und die ist nicht den Schönen und Fitten vorbehalten! Ich praktiziere selber seit über 20 Jahren und ich weiß: Diese Schatztruhe Yoga kennt keine Krankheiten. Demenz, MS, Parkinson, Fibromyalgie (von der ich selbst betroffen bin): Es spielt alles keine Rolle! Ich darf mir aus der Schatztruhe herausnehmen, was wohltut.

Mittlerweile gibt es ja auch einiges an Forschung zu dem Thema Yoga und Alzheimer…

… und das fließt auch alles in mein Konzept mit ein. Ich bilde mich laufend zur Thematik weiter, lese Studien und nehme an internationalen Fortbildungen teil. Ich möchte up-to-date sein, da ich auch eine Verantwortung im Umgang mit diesen Menschen trage. Sie haben ja eine erhebliche Gehirnschädigung und bestimmte Übungen können durchaus kontraproduktiv sein.

Aber in deinem Fokus steht jetzt nicht die Verbesserung der Hirnstruktur? 

Nein, mein Fokus ist die Selbstwahrnehmung. Dieses Damoklesschwert Demenz würde ich wirklich mal gerne in die Besenkammer stellen und stattdessen den Mitmenschen sehen, mit seiner Biografie, seiner Würde. Da ist noch so viel Leben in diesem Menschen – das möchte ich sehen! Und ich möchte, dass er oder sie das auch selber wieder deutlicher wahrnimmt: diesen Körper, dieses Menschsein als Ganzes.

Wobei dieses Leben sich ja sehr stark unterscheidet von dem, das vorher war …

Es stimmt, Mitmenschen mit Demenz haben keine gesellschaftliche Rolle, keine Verpflichtungen mehr, das bricht dann alles weg. Sie leben in einer Art Urzustand, wo alles ungefiltert hochkommt. Aber ist das nicht auch faszinierend? Wir arbeiten uns auf der Yogamatte ab und wollen so schrecklich gerne loslassen, und den Menschen mit Demenz gelingt das völlig mühelos. Sie sind ganz im Hier und Jetzt – das nehme ich für mich selbst aus diesen Stunden mit. Und ich finde: Sie sind uns voraus.

Also genau das Gegenteil vom hohen Ross des Helfersyndroms.

Ich denke, das ist sehr wichtig: diese Demut. Ich habe einen Menschen vor mir, der ein ganzes Leben gelebt hat. Er verdient mein Mitgefühl – und das heißt: Ich gehe mit meinem Gefühl mit dem anderen Menschen mit. Das muss man kultivieren.

Genau wie den Humor!

Ja, unbedingt (lacht) – ohne den geht es überhaupt nicht! Mitgehen mit den Geschichten, die da erzählt werden. Es gibt ja überhaupt nur eine Wahrheit und das ist die Wahrheit des Mitmenschen mit Demenz – nicht meine eigene. Humor, Mitgefühl, Demut, mein eigenes Ego herunterfahren – dann funktioniert es!

Ein schönes Schlusswort, vielen Dank, liebe Natalie!


Natalie Stenz über Yoga und Demenz

Natalie Stenzel unterrichtet Yoga, wie sie es selbst ausdrückt, mit “Herz, Hirn und Humor”. Im Rahmen von “Yoga kennt keine Demenz” bietet sie Fortbildungen für Yogalehrende an und kooperiert mit Alzheimergesellschaften. Als passionierte Wissenssammlerin arbeitet sie zu Demenz, Fibromyalgie, Trauma und Palliativ. Mehr zu Natalie Stenz erfährst du auf ihrer Website kijanayoga.de.


Dieses Interview stammt aus dem YOGAWORLD JOURNAL 03/2023. Dort findest du auch unsere Reportage zu “OMY!” – ein Format des Vereins “Yoga für alle e.V.”,
das Yoga zu älteren Menschen bringt. Hier geht’s zur Ausgabe:

Yoga im Altersheim – noch mehr Einblicke gibt es hier:

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