In Liebe wachsen

Wenn Ihre Partnerschaft Teil Ihrer Übungspraxis wird, entsteht Verbundenheit, die weit über die Paarbeziehung hinausreicht.

Wenn Alejandra Sosa Siroka und Matthew Siroka zusammen im Yogaunterricht sind, gibt es immer einen Moment, in dem sie einander ansehen. „Manchmal dauert das nur den Bruchteil einer Sekunde, aber es fühlt sich an, als ob wir einander ganz neu erkennen würden: ‚Oh, du bist das neben mir, wie schön’“, erzählt Alejandra, eine 37-jährige Dolmetscherin, Übersetzerin und Kommunikationsberaterin. „Bei jedem nach unten schauenden Hund werfen wir uns einen kurzen Blick zu. Jeder ist mit seinem eigenen inneren Wachstumsprozess beschäftigt, aber dabei sind wir uns nah.“ Das Gefühl der Verbundenheit ist eins der vielen Geschenke, mit denen Yoga die beiden nicht nur im Übungsraum, sondern auch in ihrer Ehe bereichert. „Durch Yoga werden wir uns stärker bewusst, wie wir miteinander umgehen“, sagt Matthew, Anwalt und 36 Jahre alt. „Wir ärgern uns nicht mehr so oft und entwickeln dafür schneller Mitgefühl für den anderen.“

Yoga als Wunderwaffe im Beziehungstraining? Vielleicht etwas übertrieben formuliert, aber viele der Fähigkeiten und Prinzipien, die wir beim Yoga üben – darunter Achtsamkeit, gewaltfreie Ehrlichkeit und die Erfahrung von Einheit – können auch Bedeutung für Liebesbeziehungen erhalten. Sie können Ihnen und Ihrem Partner helfen, aus eingefahrenen Bahnen auszubrechen, Konflikte zu klären und ein stärkeres Gefühl der Verbundenheit zu erleben. Und weil Liebesbeziehungen nun einmal gleichzeitig den größten Schmerz und die größte Freude für uns bereithalten, kann eine yogische Struktur unsere Beziehungen radikal verändern. „In gewissem Sinne ist dein Partner dein Guru“, sagt die Paarberaterin Jett Psaris. In ihrem Ratgeber „Undefended Love“ beleuchtet sie die emotionalen Barrieren, die Nähe erschweren, und versucht, ihren Lesern mit Hilfe östlicher und westlicher Philosophie bei deren Überwindung zu helfen. „Ein Partner kann die besten und die schlechtesten Seiten in uns zum Vorschein bringen – mit allen Ecken und Kanten, aber auch mit allen Möglichkeiten“, sagt sie. Es kann Jahre dauern, diese Potenziale zu entdecken. Aber wie unsere Yogapraxis eine Methode ist, die Aufmerksamkeit, Neugier und Präsenz erfordert, so kann auch unsere Beziehung eine Praxis sein. Statt nach Perfektion zu streben, sollte eine Beziehung zu einem Prozess werden, der uns tiefer in uns selbst hineinführt und uns stärker an den Partner bindet. Erneut ist hier der Weg das Ziel: Yoga kann den Pfad unserer Beziehung zu einer freudvolleren, verbindlicheren und lebendigeren Reise machen.

Spiel mit den Grenzen
Als Wegbereiter des „Yoga der Beziehungen“ gelten die Amerikaner Diana Alstad und Joel Kramer. Die Verfasser des Buches „The Passionate Mind Revisited“ wenden seit fast 35 Jahren ihre eigene, ganz individuelle Perspektive des yogischen Wissens auf ihre Beziehung an. Eins der wichtigsten Prinzipien, mit dem sie arbeiten, stammt direkt aus Kramers inzwischen berühmtem Konzept „Playing the edge“ (Spiel mit den Grenzen), das auf jede Asana angewendet werden kann. Wahrscheinlich haben Sie das schon oft erlebt: Sie befinden sich beispielsweise tief in einer Vorbeuge und versuchen, Ihre persönliche Grenze zu finden – den Punkt, an dem Sie klar die Dehnung spüren. Dann halten Sie inne und beobachten, was in Körper und Geist passiert. Anstatt aus der Haltung herauszugehen, atmen Sie, und vielleicht löst sich mit der Zeit die Grenze auf und Sie sinken mühelos tiefer in die Haltung hinein, bis Sie an die nächste Grenze stoßen. Diese Praxis hilft Ihnen, Ihren Körper und Ihren Geist aufmerksamer wahrzunehmen. Mit der Zeit wurde das Prinzip der Grenze zum festen Bestandteil von Joel Kramers Yogastunden. Zugleich entdeckte seine Partnerin Diana Alstad, eine renommierte Autorin und Dozentin, die die ersten „Women’s Studies“-Seminare an den Universitäten Yale und Duke entwickelt hat, dass dasselbe Konzept auch auf Beziehungen übertragbar ist.

Wenn Sie in einer Situation an der Grenze dessen sind, was Sie glauben ertragen zu können, beobachten Sie, atmen Sie und erlauben Sie der Situation, sich zu entfalten – ohne zu versuchen, sie zu verändern oder sich abzuwenden. Denn was zunächst wie eine Grenze wirken mag, kann sich in eine ganz neue Erfahrung verwandeln. Damit diese Methode funktioniert, müssen Paare gemeinsam ihre Grenzen erforschen und verstehen lernen – bei sich selbst und beim anderen. Wenn Partner in einem Therapieprozess an schwierige, schmerzhafte Punkte kommen, empfiehlt Jett Psaris, sich dem hinzugeben, sich zu öffnen und damit zu atmen, wie man es beim Yoga tut. „Sie werden spüren, wie ein tieferer Teil Ihres Selbst zum Vorschein kommt, der Sie unterstützt. Das kann Mitgefühl mit uns selbst sein, eine Form des Gegenwärtig- Seins, vielleicht Frieden oder Akzeptanz.“ Einer ihrer Klienten sprach kürzlich von einer „Welle der Ruhe“, die sich einstellte, nachdem er und seine Frau ihrer Unzufriedenheit mit der Kommunikation in der Beziehung Ausdruck verliehen hatten und Verständnis für den anderen aufbringen konnten. Was sie vorher als tiefe Unzufriedenheit zwischen sich wahrgenommen hatten, wich einem Gefühl von Klarheit und Weite. „Durch Achtsamkeit beginnt man, die emotionalen Minenfelder des anderen wahrzunehmen, die explodieren und Schmerzen verursachen können. Anschließend kann man lernen, sie ganz behutsam zu umgehen.“ So beschreibt es Diana Alstad. Schließlich können beide Partner diese Grenzen geduldig erforschen, in dem Bewusstsein, zusammen auf der Suche nach Wahrheit und einer gemeinsamen Richtung zu sein. Wenn unser Partner dennoch etwas tut, das uns über unsere Schmerzgrenze hinaus belastet, können wir wertvolle Erkenntnisse aus diesem emotionalen Schmerz ziehen. Er macht uns schlicht und ergreifend darauf aufmerksam, dass etwas in der Beziehung falsch läuft. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir Veränderungen in Betracht ziehen sollten – besonders, wenn die Beziehung in einer Sackgasse steckt. Darunter versteht Diana Alstad die mangelnde Übereinstimmung bei entscheidenden Themen, beispielsweise Zugang zu den Gefühlen finden, die diese Vorwürfe ausgelöst haben: „Ich bin verletzt, weil das für mich bedeutet, dass du mich nicht respektierst.“ Das kann wiederum Erinnerungen an vergangene Erlebnisse auslösen: „Das erinnert mich daran, wie gedemütigt ich mich gefühlt habe, wenn mein Vater mich kritisiert hat.“ Der zuhörende Partner sagt meist nichts und reflektiert von Zeit zu Zeit aktiv, was der sprechende Partner gesagt hat – aber ohne zu reagieren oder zu urteilen. Beispielsweise: „Du empfindest mich also als respektlos dir gegenüber und vermisst Anerkennung von mir.“ Dann tauschen die Partner die Rollen.

Auch Joel Kramer und Diana Alstad empfehlen, sich Zeit zu nehmen, um schwierige Themen zu besprechen und die angesammelten emotionalen „Rückstände“ aufzuräumen. Wie die Feldmans vergleichen auch sie diesen Vorgang mit der Yogapraxis. Man übe auch dann, wenn man gerade nicht in der Stimmung ist, weil man weiß, dass man sonst schlechte Laune bekommt. Diana fügt hinzu, dass mit dem Festlegen regelmäßiger Gesprächstermine das Reden einfacher wird: „Manchmal kann man in 45 Minuten etwas klären, das einen ein Jahr lang blockiert und entzweit hat.“ Klar und ehrlich über heikle Gefühle zu sprechen, ist eine große Herausforderung – und manchmal werden sogar geübte Sprecher aggressiv. Jett Psaris betont, dass es völlig in Ordnung ist, ab und zu wütend oder verletzt zu reagieren. „Manchmal werden festsitzende Dinge aufgewühlt, wenn wir unsere Wut oder unseren Schmerz herauslassen. Danach können wir uns dann näher mit unseren Reaktionen beschäftigen“, sagt sie.

Judith Hanson Lasater hingegen – Yogalehrerin aus San Francisco und Co-Autorin des Buches „Weil Worte wirken“ (Verlag Junfermann, ca. 13 Euro), das sie mit ihrem Mann Ike Lasater verfasst hat – schwört auf das Schweigen, denn wie alles im Leben können Gefühle unbeständig sein. Je mehr man sich in dem üben kann, was sie „die heilige Pause“ nennt, desto besser. „Asanas und andere Übungen lehren uns, uns selbst zu reflektieren, sodass wir eben nicht reflexartig auf Ereignisse reagieren. In Bezug auf Beziehungen empfehle ich das das ,Ehe-Mudra’: Öffnen Sie den Mund legen Sie die Zunge zwischen die Zähne und beißen sie fest zu“, rät sie lachend. Die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, die wir durch unsere Asana- und Meditationspraxis entwickelt haben, hilft uns, unsere Gedanken zu beobachten, ohne an ihnen zu hängen oder sie zu vertiefen, indem wir sie aussprechen. „Manchmal ist es einfach am besten, gar nichts zu sagen – nicht aus Trotz, sondern weil man sich dafür entschieden hat“, sagt Lasater. „Denn wir wissen, dass alles vorübergeht.“

Verbindung aufnehmen
Wie beim Yoga kann man auch bei der viel beschworenen „Beziehungsarbeit“ ein entspanntes Gleichgewicht zwischen Anstrengung und Leichtigkeit finden, wenn man achtsam ist. „Viele Menschen empfinden so: ‚Wenn du mich lieben würdest, müssten wir nicht daran arbeiten.’ Ich empfinde das als unrealistisch“, sagt Joel Feldman. Um Paaren dabei zu helfen, unterstützen Joel Feldman und seine Frau ihre Klienten bei der Entwicklung von „Liebesritualen“ – kleinen Gesten, die man bis zu dreimal täglich zwei oder drei Minuten lang praktiziert, damit man sich dem Partner wieder nahe fühlt. Dies können Formeln bei Begrüßung und Abschied sein oder auch Unterstützung bei der Organisation des Alltags. Diese scheinbar kleinen Dinge sind so wichtig, weil sie ausdrücken, dass einem der Partner wichtig ist. Und manchmal können diese relativ leichten und kleinen Aufmerksamkeiten neben den schwierigen, großen Themen, die gelöst werden müssen, sogar dazu beitragen, einer bröckelnden Beziehung wieder ein Fundament zu geben. Mit solchen Ritualen können wir „Liebesreserven“ aufbauen, genau wie wir mithilfe unserer Yogapraxis unseren Vorrat an Dankbarkeit und Mitgefühl aufüllen können. Laut den Feldmans ein schlüssiger Vergleich: „Wenn Sie fünf Minuten am Tag meditieren, können Sie Ihr ,Friedenskonto’ aufladen. Wenn Sie als Paar Liebesrituale ausüben, laden Sie Ihr , Verbindungskonto’ und Ihr ,Liebeskonto’ auf.“ Die meisten Menschen werden erleichtert sein, wenn sie merken, dass es meist keiner stundenlangen Gespräche bedarf, um eine Beziehung lebendig und leicht zu halten – jedenfalls nicht immer. „Wenn Sie eine Verbindung herstellen, ist weniger Arbeit erforderlich“, sagt Joel Feldman. „Man beginnt, den anderen als Quelle der Freude und nicht als Quelle der Frustration zu sehen; als jemanden, der einem zur Seite steht und nicht jemanden, gegen den man kämpfen muss.“

Bei sich selbst anfangen
Yoga hilft uns dabei, mit dem Partner zu kommunizieren und eine tiefere Bindung einzugehen, aber es ist genauso wichtig, dass Yoga uns mehr mit uns selbst in Verbindung bringt. „Dadurch, dass die Übungen uns helfen, ganz präsent in unserem Körper zu sein, ist es viel einfacher, ganz präsent bei unserem Partner zu sein, wenn Probleme auftauchen“, sagt Alejandra Siroka. Ihr Mann Matthew fügt hinzu: „Wenn Sie verständnisvoll sind und sich selbst Liebe und Mitgefühl entgegenbringen – und dabei kann Ihre Übungspraxis Ihnen helfen – können Sie die tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen spüren.“ Diese Art des Herzöffnens und der Liebe, wie es die Sirokas in den kurzen gemeinsamen Momenten in ihren Yogastunden wahrnehmen, kann von einem Paar in die Welt ausstrahlen. Joel Kramer betont, dass die tiefe Verbindung mit einem Partner uns über die Paarbeziehung hinaus tiefer an das Göttliche, an unser inneres Selbst und an unsere Mitmenschen binden kann. „Diese Verbindung ist die Basis, von der aus wir uns bewegen, uns gegenseitig verändern und uns unserer eigenen Rolle im Lauf der Dinge stärker bewusst werden“, sagt Kramer. ✤

Valerie Reiss ist Redakteurin für ganzheitliches Leben bei beliefnet.com. Sie lebt
in New York.

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