Samkhya Karika: Wer die Dinge kennt, kennt die Quelle des Seins

Diesmal nimmt unsere Autorin Sybille Schlegel die Samkhya Karika genauer unter die Lupe. Dies ist eigentlich kein Text aus der Yogaphilosophie, aber er legt ein wichtiges Fundament für das Verständnis von Texten wie dem Yogasutra. Was das mit Schneewittchen zu tun hat? Lies selbst …

Text: Sybille Schlegel / Titelbild: Cape_vein von Getty Images via Canva

Samkhya ist die Lehre von der Entstehung des Universums. Sie zählt insge­samt 25 Prinzipien der Schöpfung auf, mit dem Versprechen, dass man befreit wird, wenn man diese Prinzipien voll­kommen verstanden hat und unterschei­den kann. Diese Lehre gilt als das älteste der sechs im Hinduismus akzeptierten philosophischen Systeme. Die anderen fünf sind Mimamsa, Vedanta, Nyaya, Vaisheshika – und Yoga. Samkhya und Yoga werden dabei oft als zusammengehörig betrachtet, da Texte wie das Yoga­sutra auf der Weltsicht von Samkhya beruhen.

Aber gleich noch mal einen Schritt zu­rück: Wir müssen nämlich schon beim Begriff “Philosophie” vorsichtig sein. Im Sanskrit heißen die verschiedenen Rich­tungen, die ich eben aufgezählt habe, Darshans, also “Sichtweisen”, denn ihre Entstehung beruht nach traditioneller in­discher Vorstellung mehr auf einem visionären Sehen als auf einer intellektuellen Erkenntnis, wie wir sie von den abend­ländischen Philosophen kennen, zum Beispiel Platon oder Kant.

Erfahre hier mehr über die sechs Darshanas …

Genau wie bei der Wahrheit des Veda oder den Leh­ren der Upanishaden (die zum Vedanta gehören), geht man auch bei Samkhya davon aus, dass die Rishis (Sanskrit für Seher) ihre Lehren in meditativer Tiefe “erschaut” haben. Ein Weiser namens Ka­pila gilt als erster Lehrer des Samkhya. Auf ihn beruft sich Ishvarakrishna, der Verfasser der Samkhya Karika, die ver­mutlich im 4. oder 5. Jahrhundert nach Christus entstand:

“Verehrung sei Kapila. Aus tiefem Mit­gefühl für die Welt, die im Ozean der Unwissenheit zu versinken droht, hat er in Form des Samkhya ein Boot erschaffen, mit welchem dieser Ozean sicher durch­schifft werden kann.

Auf einen Blick

Mystischer Begründer der Samkhya-Philosophie: Kapila
Verfasser der Samkhya Karika: Ishvarakrishna
Umfang: 72 Verse
Inhalt in Stichpunkten:
– Aufzählung der Schöpfung von fein zu fest
– Erklärung über das Wirken der Natur
– Erläuterung des Wiedergeburtskreislaufs
– menschliches Leid als Motivation zur Befreiung
– Befreiung durch das Verstehen der einzelnen Elemente des Universums,
da hierdurch das wahre Selbst erkannt wird
– der Beweis der Ursache liegt bereits im Effekt

Woher kommt das, was ist?

Samkhya: Sinne, Wahrnehmung
Foto: KrisCole von Getty Images via Canva

Aber um was geht es in diesem Ozean, den wir uns mithilfe des Samkhya erschließen können? Kapila fragt nach der Ursache des Universums, wie es uns durch unsere Sinne bekannt ist: Es kommt und geht ohne Unterlass und besteht aus unendlich vielen Einzelteilen. Zugleich steht es aber spürbar in Verbin­dung mit einem unsterblichen Sein. Ka­pila sieht darin zwei voneinander völlig unabhängige Prinzipien am Werk. Beide ewig, ohne Anfang und absolut rein in ihrer Qualität. Damit steht Samkhya auf den ersten Blick im Gegensatz zur Lehre des Advaita Vedanta: Hier gibt es eine einzige Realität (Brahman), welche un­veränderlich und ewig ist, wohingegen alles, was temporär existiert, als nicht­ real, als Illusion bezeichnet wird (Maya).

Früher habe ich versucht, intellektuell zu entscheiden, welche der beiden Sichtweisen denn nun richtig ist: Wer hat recht? Was für eine Zeitverschwendung! Meine Lehrerin Manorama hat mich gelehrt, dass im Yoga die Sichtweise zusammen­führend sein muss, nicht trennend und dass wahre Weisheit nicht auf der Ebene des denkenden Geistes zu finden ist. Das erlaubt es uns, die Weisheit der verschie­denen Traditionen als einander ebenbür­tig anzunehmen und gleichermaßen zu respektieren: Wir müssen nicht entschei­den, was richtig ist und was falsch – es hängt von der Perspektive ab!

In meinem Verständnis gibt es nur eine Wahrheit, aber verschiedene Sichtweisen darauf. Oder einfach auch nur verschiedene Ar­ten, die Wahrheit in Worte, Kontext oder Metaphern zu kleiden. Anstatt sich in die Frage zu verstricken, welche der konkur­rierenden Sichtweisen, welches Konzept nun “gültig” ist, verbringe ich meine Zeit heute lieber damit, den Wahrheitskern zu finden. Denn auf meiner Suche haben mir alle irgendwie weitergeholfen. Aber schauen wir mal genau hin, was Samkhya eigentlich alles so definiert – ein philoso­phisches Mise en Place.

Komplexität in Form von Aufzählung

Samkhya bedeutet wörtlich übersetzt “Aufzählung”. Und genau das tut die Samkyha Karika: Sie strukturiert die un­endlich komplexe Entstehung der Welt in Form von Listen. Kapila sah zwei Ursa­chen, die zusammenwirkend uns und un­ser Universum erschaffen haben, immer weiter erschaffen und erschaffen werden. Wir stellen uns diese beiden wichtigsten Kräfte mal als zwei Boxer in einem Ring vor: In der einen Ecke steht bewegungs­los vor sich hinstrahlend Jna. Er trägt eine weiße Seidenhose, seine ganze Er­scheinung ist glänzend, hell, strotzend von reinem Bewusstsein, mit großen, wachen Augen.

In der anderen Ecke zappelt Prakriti in einer rot­schwarz­ weiß gemusterter Hose. Er hüpft auf und ab, lässt die Muskeln spielen und kann nicht stillstehen. Seine Augen sind ewig geschlossen, denn er ist in der eigenen Bewegung versunken. Jna und Prakriti sind die ersten Prinzipien, die Samkhya aufzählt. Sie sind erkennbar gleichwer­tig, gegensätzlich und unterschiedlich und wie schon erwähnt: nicht nur von­ einander getrennt, sondern auch ihrem Wesen nach unmischbar. Ihr Zusammen­spiel – oder, um im Bild zu bleiben: ihr Boxkampf – setzt den Schöpfungsprozess in Gang. Wir können ihn mit unseren Sinnen anhand seiner Ergebnisse erfah­ren und sind auch selbst ein Teil dieses Prozesses.

Dabei verläuft er nicht linear, wie wir das in unserem Verständnis von Biologie oder Physik kennen, sondern spontan und ständig. Prakriti ist dabei das wirkende Prinzip, Jna das Sehende. Aus der gleichzeitigen Präsenz von Sehen und Wirken entsteht Mahat (auch Bud­dhi), der Intellekt.

Glossar

Samkhya = Aufzählung
Jna = reines Bewusstsein
Purusha = Bewusstsein in einem Körper
Prakriti = Natur, Energie 
Mahat = Intellekt (auch Buddhi)
Guna = energetische Aspekte der Natur
Rajas = Aspekt der Bewegung
Tamas = Aspekt der Trägheit
Sattva = Aspekt der Reinheit, Leichtigkeit

Ab hier heißt Jna dann Purusha, weil er jetzt im Team der Verkörperung mit­spielt. Er ist nicht mehr formloses Sehen, sondern nimmt die Form einer geistigen Kraft an. Mahat, der Intellekt, ist ursäch­lich für die Entstehung von Ahamkara, dem Ich­-Bewusstsein. Aus diesem ent­stehen auf der nächsten Schöpfungs­ebene der denkende Geist (Manas), die Sinneseindrücke Klang, Berührung, Form, Geschmack und Geruch, die fünf Sinnesorgane Ohren, Haut, Auge, Zun­ge und Nase sowie die fünf sogenannten “Handlungsorgane”: Mund, Hände, Bei­ne, Geschlechtsorgan und Anus.

Aus den Sinneseindrücken wiederum entstehen auf der äußersten Ebene die fünf Ele­mente Äther, Luft, Feuer, Wasser und Erde. Jetzt beginnt das große Zählen der Prinzipien: ein Jna/Purusha, ein Prak­riti, ein Mahat, ein Ich­-Bewusstsein, ein denkender Geist, fünf Sinneseindrücke, fünf Sinnesorgane, fünf Handlungsorga­ne, fünf Elemente – das macht summa summarum 25 Prinzipien oder TattvasJna/Purusha und Prakriti sind Entste­hungsursachen, selbst aber nicht aus et­was entstanden. Alle anderen bis auf die fünf Elemente sind sowohl Produkt als auch Ursache anderer Produkte. Die fünf Elemente sind reine Produkte.

Samkhya: Schneewittchen als Weisheitsgeschichte
Foto: Cape_vein von Getty Images via Canva

Vom Feinen zum Groben – und zurück

Wir sehen: eine Schöpfung von fein zu grob. Im Yoga verfolgen wir diesen Weg umgekehrt zurück – von grob zu fein. Mit anderen Worten: Wir verfeinern unsere unterscheidende Wahrnehmung so weit, dass wir irgendwann die ultimativen Ursachen erkennen können. Der indische Yogaweise Brahmrishi Vishvatma Bawra beschreibt das so: “Was grob ist, können wir sehen; was subtil ist, wahrnehmen; das Ursächliche jedoch, liegt jenseits von Sicht und Wahrnehmung.” Im Samkhya gilt es, alle 25 Teile in ihrer Eigenart zu begreifen. Damit “endet das Leid des Missverstehens”, schreibt Ishvarakrishna in der Samkhya Karika.

Missverstehen entsteht, weil der Intel­lekt, Mahat, wie ein Kristall die umge­benden Farben annehmen kann. Solange er nicht das reine Bewusstsein widerspie­gelt, sondern vielmehr die Eindrücke der Sinne, wird er sich mit seinem (vergängli­chen) Körper identifizieren und verwirrt von Angst und Verlangen durchs Leben stolpern. Er wird an der aus Sicht des Samkhya falschen Idee festhalten, dass seine Handlungen allein durch seine ei­gene Person bestimmt werden.

Avidya nennt Patanjali im Yogasutra dieses ulti­mative Danebenliegen. Und in der Bha­gavad Gita erklärt Krishna, dass nicht wir Menschen Autor*innen unserer Handlun­gen sind, sondern das Zusammenspiel der dreifachen Aspekte von Energie na­mens Guna: Bewegung (Rajas), Trägheit (Tamas) und Leichtigkeit/Harmonie/ Balance (Sattva). Symbolisiert durch die Farben rot, schwarz und weiß. Du erin­nerst dich: die Boxer­-Shorts. Oder auch: Schneewittchen …

Schneewittchen: Der Samkhya-Code

Szenenwechsel. Da, wo ich wohne, herrscht ein November, wie er von Guns N‘ Roses besungen wurde: Fast täglich dunkle, schwere Wolken am Him­mel. Regentropfen, die an die Scheibe klopfen und sie manchmal fast einzu­schlagen drohen. Die Blätter unseres erhabenen Walnussbaumes fallen. Al­les, was noch vor kurzem munter blüh­te, fällt der Vergängnis anheim. Herbst und Winter. Tamas­-ZeitTamas ist die Form der Energie, die träge ist, schwer, düster, kalt, fest. Ich zähle schon wieder die Tage, bis wärmende Bewegung in die Natur kommt: Wie aus dem Nichts Früh­blüher emporwachsen, die Sonne wieder mehr Stunden am Tag scheint, ich mich aktiver fühle.

Wärme, Bewegung, Ge­schwindigkeit werden als energetischer Aspekt Rajas genannt. Das Gegenteil von Tamas. Tamas wird schwarz darge­stellt, Rajas rot. Es gibt aber noch einen dritten Aspekt neben Rajas und TamasSattva, weiß dargestellt, der Aspekt von Balance, Harmonie, Leichtigkeit, Prä­senz. Wer Schneewittchen kennt, weiß, dass die kleine Prinzessin geboren wur­de, weil sich ihre Mutter beim Nähen am schneebedeckten Fenster in den Finger gestochen hatte: Sie wünschte sich, fas­ziniert von den drei Farben, eine Tochter “so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz”.

3 Übungen zum Verständnis

1. Welches Guna (Aspekt von Energie) wirkt gerade auf dich?
Beobachte deinen Körper und deinen Geist:
Führe innerlich oder via Journaling ein Guna-Diary.
Bleib dabei neutral – es gibt hier kein richtig/falsch oder gut/schlecht.

2. Beobachte die Endlichkeit von allem, was “geboren” ist.
Wo (und wann) fällt es dir leicht, es zu akzeptieren, wo nicht?

3. Kultiviere Sattva. Entscheide dich, deine Nahrung,
deine Beziehungen, deine Arbeit, deine Gedanken mit mehr Reinheit zu erfüllen.
Tu das aus einem innerem Gefühl für Harmonie und Balance heraus und nicht,
um “besonders” zu sein (das wäre zu Rajas).

Schneewittchen als Weisheitsgeschichte

Samkhya: Schneewittchen als Weisheitsgeschichte
Foto: anyka via Canva

Seit ich das erste Mal die Samkhya Karika gelesen habe und mit den eben beschriebenen Energie­-Aspekten in Kontakt kam, ver­stehe ich das Märchen von Schneewitt­chen als Weisheitsgeschichte: Samkhya lehrt, dass das Wirken dieser drei Energie­-Aspekte der Motor der Schöpfung ist. Alle sind immer da, in unterschiedlichem Mengenverhältnis, sodass jeder Aspekt die anderen bei­den dominieren kann. Diese sogenann­ten Gunas sind aber nicht die Ursache der Schöpfung.

Schließlich haben nicht Blutstropfen, Schnee und Holz zum Kind geführt, sondern Wunsch und Kör­per der Mutter. Die leibliche Mutter im Märchen entspricht Prakriti (Natur und Materie). Ihr Kinderwunsch stammt aus dem bewussten Geist, Jna beziehungs­ weise Purusha. Das Kind wird geboren, rein wie Sattva. Die böse Stiefmutter Avidya (Verwirrung, Unwissen) sieht in seiner Reinheit eine Bedrohung: Denn wo Klarheit lebt, kann Missverständnis nicht sein.

Deshalb will sie Schneewitt­chen töten lassen. Das Mädchen flieht in die elementaren Tiefen der sieben Berge zu sieben Weisen, die versuchen, es vor der zerstörerischen Macht zu beschützen. Beinahe kommt es zum Schlimmsten, als es Avidya doch noch gelingt, dem Mäd­chen Verlangen nach einem roten Apfel (Rajas) einzuflößen. Doch bekannterma­ßen rutscht das vergiftete Apfelstückchen ihr aus dem Mund, als sie im gläsernen Sarg getragen wird. So kann sie – im Angesicht der Liebe (Prinz) – zu ihrem wahren Selbst erwachen. Wozu Stolpern doch manchmal gut sein kann …

Yoga und Samkhya: Vorwärts zum Anfang

Samkhya: Meditation
Foto: VisualCommunications von Getty Images via Canva

Kapila lehrt, dass die Dinge, die mit den Sinnen wahrnehmbar sind, mit diesen auch erkannt werden können. “Subtile­res mit Schlussfolgerung, basierend auf Erinnerung“, könnte man diesen Prozess zusammenfassen. Die Erkenntnis des Seins erlangt man hingegen nur über die Meditation. So weit, so Yogasutra. Und auch im Weiteren sind die Zusam­menhänge zwischen Samkhya und der Yogaphilosophie nach Patanjali offen­sichtlich: Der denkende Geist muss still sein können, er muss auch manchmal aufhören, Sinneseindrücke in den se­henden Intellekt zu übermitteln. Denn erst dann kann die pure Strahlkraft des Purusha zum bleibenden Eindruck für den Intellekt werden.

Ansonsten do­miniert im Menschen der Einfluss der Rajas­-Energie. Das ist zwar einerseits Mitursache unseres Leids, weil wir von Wünschen und Ängsten hin und her getrieben werden, andererseits liegt darin auch die Chance auf Erlösung. Denn ohne diese feurig bewegte Ener­gie fehlen uns Motivation, Antrieb und Durchhaltevermögen – also alles, was wir für unsere Transformation dringend brauchen. Ähnlich verhält es sich mit Tamas: Wir brauchen eine gewisse beständige Beharrlichkeit, aber sie darf nicht in Trägheit und Unlust ausarten. Deshalb sollten wir vor allem den Aspekt Sattva auf allen Ebenen kultivieren – als Grundlage für richtige Wahrnehmung, für die Stärkung der Unterscheidungs­kraft.

All das ist natürlich erst mal reine Theo­rie. Du willst wissen, ob an Kapilas Sichtweise etwas dran ist? Finde es heraus! “Im Samkhya geht es nicht ums Glauben, sondern um Analyse und Beweis,” schreibt Brahmrishi Vishvatma Bawra, mit dessen Ausgabe der Samkhya Karika ich arbeite. Und auch das kennen wir ja aus dem Yoga: Wir müssen es üben und erfahren, um es zu verstehen.


Autorenfoto Sybille Schlegel

Sybille Schlegel schreibt regelmäßig für uns über Yogaphilosophie. Nach vielen Jahren als Yogalehrerin und -ausbilderin konzentriert sie sich jetzt ganz aufs Üben und Schreiben. Du findest sie auf Instagram unter: @sybi_bille


Lese gleich mehr von Sybille Schlegel und tauche tiefer in die Yogaphilosophie ein:

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