Die drei Gunas – Interview mit R. Sriram

Die drei Gunas gehören zu den wichtigsten philosophischen Grundlagen des Yoga: Richtig verstanden können wir diese drei natürlichen Eigenschaften wie einen Kompass benutzen, der uns den Weg zu mehr Balance weist. R. Sriram erklärt in diesem Interview, wie das geht.

Text: Stephanie Schauenburg, Titelbild: Mabel Amber/Pexels via Canva, Illustrationen: Andreas Peters

Sriram, wo begegnen uns die drei Gunas?

Sie begegnen uns überall in der Welt und in unserem Alltag – darin, wie der Körper funktioniert, wie der Geist funktioniert, aber auch in all den Dingen um uns herum. Es sind grundlegende Gesetze, die die Natur bestimmen und den Kosmos am Wirken halten.

Was sind das für Gesetze?

Da gibt es eine Kraft, die nach unten zieht oder rückwärts: Tamas. Dann eine Kraft, die nach vorne prescht oder aufwärts: Rajas. Und schließlich eine, die bemüht ist, ein Gleichgewicht herzustellen und den Status Quo zu wahren: Sattva. Alle drei sind immer in allem vorhanden, aber in unterschiedlicher Gewichtung.

Gunas Balance Illustration
  • SATTVA – “Güte”
    Bewusstsein, Reinheit, Balance, Licht, Inspiration, Geist
  • RAJAS – “Leidenschaft”
    Bewegung, Antrieb, Aktivität, Feuer, Erregung, Energie
  • TAMAS – “Trägheit”
    Ruhe, Verharren, Passivität, Unwissenheit, Dunkelheit, Materie

Wie kann man sich dieses Wechselspiel konkret vorstellen?

Wenn ich zum Beispiel aufwachen will, brauche ich die vorwärts preschende Kraft, und wenn ich einschlafen will, muss die rückwärts ziehende Kraft wirken. Um aber ganz ruhig bei etwas bleiben zu können, einer Tätigkeit, einer Meditation oder auch im tiefen Schlaf, ist die dritte, die bewahrende Kraft nötig.

Guna bedeutet ja wörtlich übersetzt Faden oder Strang. Könnte man sagen, dass die Gunas die Fäden sind, aus denen die Welt gewebt ist?

Nicht in dem Sinn, dass Gunas Substanzen wären, sondern in dem Sinn, dass ein Guna einen gewissen Aktivitätsstrang bewirkt. Es gibt nur eine Grundsubstanz, die man im Sanskrit Mulaprakriti nennt, also Urmaterie. Aber warum ist aus dieser Ursubstanz überhaupt etwas geworden? Weil in ihr die Dreierkraft der Gunas enthalten ist, die eine Spannung erzeugt und für Veränderung sorgt: Wenn die nach außen gehende Kraft explodiert, dann beginnt die Schöpfung. Die rückwärts ziehende Kraft erzeugt den Widerstand, der nötig ist, um Substanz zu formen. Die dritte Kraft ist dafür verantwortlich, dass dieses Entstandene als Einheit erhalten bleiben kann: Sie “will” weder die explosive Weiterentwicklung noch die Zurückbildung, sondern den Status Quo.

Dabei sind die Gunas aber immer wieder verschieden stark in ihrer Gewichtung?

Richtig. Und dadurch entsteht Unterschiedlichkeit in der Schöpfung.

Bezogen auf den Menschen: Ist das eine Typfrage? Wird ein Individuum dadurch geprägt, welches Guna in ihm vorherrscht?

Das kann man so nicht sagen. In jedem Menschen, in jedem Lebewesen, aber auch in jedem leblosen Gegenstand wirken immer alle drei Gunas zusammen. Allerdings können Rajas und Tamas zum Makel werden, wenn sie unentwegt vorherrschen: Wenn Rajas ständig nach vorne prescht, kann uns das in Gier, Rage oder Sucht treiben. Und wenn Tamas zu stark ausartet, dann führt das in Unwissen, Trägheit, Depression und so weiter.

Im modernen Alltag scheint es oft so zu sein, dass man zwischen Rajas und Tamas, zwischen Überaktivität und Erschöpfung, hin- und hergeworfen wird …

Das stimmt, das ist schon ziemlich charakteristisch für unser Leben heute – und so entsteht natürlich keine Balance. Wenn ich zum Beispiel abends ein Bier trinke, um ruhig zu werden und in den Schlaf zu finden, dann hieße das, Rajas mit Tamas zu kompensieren, Plus mit Minus. Umgekehrt wäre der Kaffee am Morgen der Versuch, Tamas mit Rajas zu kompensieren. Dabei entsteht nur ein sehr nervöser, instabiler Ausgleich, aber kein Gleichgewicht. Ganz anders wenn ich zum Einschlafen eine beruhigende, also tamasige Atemübung mache: Dabei kompensiere ich Rajas nicht einfach mit seinem Gegenteil, sondern mit einer Kombination aus Sattva und Tamas.

Illustration Gunas Balance Tablett mit Getränken

Warum funktioniert es nicht, Rajas direkt mit Tamas zu erwidern – aus Plus und Minus wird doch theoretisch Null?

Eine Null entsteht zwar aus Plus und Minus, aber die beiden ergänzen sich nicht, sondern widerstehen sich – dabei kommt nichts raus. Auch Rajas und Tamas sind keine komplementären Kräfte, die sich ergänzen. Sie sind konträre Kräfte, sie widersprechen sich. Das ist die Besonderheit der Gunas im Unterschied zu anderen Konzepten: Hier braucht es das Dritte, Sattva, eine ganz eigene Qualität – und wir müssen immer herausfinden, wo die liegt.

Manchmal liest man, man solle Rajas und Tamas unterdrücken und sich ganz auf Sattva ausrichten, um in die Balance zu finden?

Nein, das wäre falsch, denn wir brauchen ja alle drei. Ohne Tamas kannst du nie schlafen, ohne Rajas nie aufwachen. Das Sattvische wird immer unterstützt von Rajas und von Tamas. Wenn zum Beispiel ein Mensch extrem aufgeregt ist, dann braucht er die Hilfe von Tamas, um aus dem rajasigen Zustand herauszufinden. Aber egal welche Maßnahme er ergreift, es sollte keine rein tamasige sein, sondern eine sattvisch-tamasige – so wie in unserem Beispiel die Atemübung statt des Bieres.

Und wie bringe ich diese sattvischen Anteile hinein?

Das geschieht durch Aufmerksamkeit, das Dabeisein. Zum einen geht es dabei um Prem, also Liebe, Zugewandtsein, Anteilnahme – das ist die emotionale Qualität, die Sattva fördert. Wenn ich zum Beispiel in einem Streitgespräch nicht nur meinen eigenen Standpunkt sehe und dabei immer wütender und rajasiger werde, sondern Verständnis und Liebe hineinbringe, dann wird mich dieses Gespräch nicht so stark aufwühlen, sondern ich kann mehr im Sattvischen bleiben oder anders gesagt in der Balance. Die zweite wichtige Eigenschaft für das Fördern von Sattva ist Prakasha, das bedeutet Licht oder Erkenntnis. Wenn ich etwas tue, wofür Zuwendung von mir notwendig ist und wobei ich selbstständige Erkenntnisse mache, dann fördert das Sattva.

Das alles setzt aber voraus, dass mir meine Zustände und die Wirkweisen der Gunas bewusst sind. Ich muss also den Blick auf die Gunas erst mal schärfen?

Ja klar, das ist der erste Schritt. Und das ist gar nicht so einfach. Es geht ja nicht nur darum zu wissen, hier ist Tamas stärker, dort Rajas: Man muss auch erkennen, wie die Guna-Tätigkeiten in Konflikt miteinander stehen. Wir alle kennen solche Situationen, wo wir total müde sind und trotzdem zu aufgeregt zum Schlafen. Oder wo wir hellwach und konzentriert sind und dennoch null Antrieb haben. Nur wenn man all das wahrnimmt, kann man die jeweils richtige Lösung erkennen.

Und die heißt immer Sattva …?

Ja, aber obwohl Sattva immer die Lösung ist, muss man wissen, dass es grundsätzlich im Tandem arbeitet. Man muss Sattva also immer gemeinsam mit Rajas oder mit Tamas einsetzen, je nachdem, was das Problem ist. Und bei all dem braucht es wie gesagt Zugewandtheit und Erkenntnis.

Warum?

Nehmen wir das Thema Vertrauen. Wenn ich sage: Ich vertraue dir total und gebe dir leichtgläubig alles, was ich habe, oder wenn ich vertraue, ohne zu überlegen, ob ich die Person damit vielleicht überfordere, dann wäre das ein tamasiges Vertrauen. Wenn ich mir dagegen – auf meinen Vorteil bedacht – sage “Vertrauen ist gut. Das bringt mich weiter”, dann ist das rajasig. Nur mit Zugewandtheit und Erkenntnis wird das Vertrauen sattvisch und führt in die Balance.

Illustration Gunas Balance Waagschalen

In manchen Schriften werden Rajas und Tamas sehr stark ethisch gedeutet: Rajas und Tamas sind schlecht, Sattva ist gut …

Das muss man im Kontext sehen. In den Samkhya-Schriften wird ganz klar gesagt: Die Gunas unterstützen sich gegenseitig, sie treiben sich an, hemmen sich und paaren sich. Das heißt: Sie wirken nicht einzeln, sondern immer im Zusammenhang. Ein reines Sattva ist nur denkbar in einem absolut erwachten Zustand. In unserem täglichen Leben sind Rajas und Tamas aber sehr, sehr notwendig. Wie gesagt: Kein Schlaf ohne Tamas, keine Aktivität ohne Rajas. Im besten Fall wirken sie im Tandem mit Sattva. Problematisch wird es nur, wenn sich Rajas und Tamas paaren.

Was passiert dann?

Ein extremes Bild wäre die manische Depression, wo man von einem Extrem ins andere fällt. Ganz alltäglich wäre wie gesagt: Für abends habe ich mein Bier und für morgens meinen Kaffee und so stemme ich mein Leben. Wenn Rajas und Tamas ein Team bilden, dann ist das sehr ungut. In die Balance kann man nur kommen, wenn man das Sattvische betont.

Wie kann man die Gunas ganz praktisch als Wegweiser zu mehr Balance benutzen?

Wenn ich merke, ich bin zu unruhig, ich brauche mehr Schwere und Halt, dann versuche ich, mit Hilfe von Tamas Sattva zu aktivieren. Das wäre die praktische Seite. Du kannst aber anhand der Gunas auch deine persönlichen Tendenzen beobachten und das Wirken der Kleshas.

Wie hängen die Gunas mit den Kleshas, den Hindernissen oder Ursachen von Leid, zusammen?

Auch in den Kleshas wirken zwei Kräfte: Die eine ist die tamasige Unwissenheit, die sich wie eine Hülle über die Dinge legt, durch die wir nicht hindurchkommen. Die andere ist Rajas, das Kleshas wie Angst oder Gier anfeuert, zu wachsen und immer mächtiger zu werden.

Ich nehme an, auch hier heißt die Lösung wieder: Sattva! Kann die Auseinandersetzung mit den Gunas letztlich auch dazu führen, dass man ihrem Kräftespiel nicht mehr so stark ausgeliefert ist?

Genau. Das geschieht zum Beispiel, wenn in der Meditation die Gedanken in mir spielen und ich in der Lage bin, mir zu sagen: Rajas bewegt die Gedanken, Tamas hält an den Gedanken fest, aber da ist auch ein sattvisches Stillhalten, das sich bemüht, Ruhe hineinzubringen. Ich spüre also dieses Pulsieren und ich weiß: Diese Kräfte wirken für sich, aber ich kann davon unbeeinflusst bleiben. Ich schwinge nicht mit, ich bleibe der Beobachter. Rajas, Tamas und Sattva wirken zusammen und verursachen Bewegung und Veränderung, doch wenn ich der Betrachter dieser Veränderung bin, stecke du nicht mehr in den Bewegungen drin und bin den Gunas nicht mehr ausgesetzt.

Tipp: Kennst du die R.A.I.N.-Methode? Mit dieser Meditationstechnik bekommst du das Gedankenkarussell in den Griff.

Illustration Gunas Balance

Der Idealzustand liegt also jenseits der Gunas?

Ja, aber um dahin zu kommen, brauchst du Sattva. Ich kann dieses Bewusstsein in mir nur entfalten und in diese Beobachterhaltung nur hineinkommen, wenn ich sattvische Gedanken pflege und sattvische Stimmungen in mir wecke. Mit anderen Worten: Ich muss einen sattvischen Zustand kreieren, um auch Abstand zu Sattva zu finden.

Könnte man diesen Weg in die Balance vielleicht in drei Schritten fassen: Zunächst das Beobachten der Gunas und das praktische Gegensteuern, dann die Selbsterforschung und schließlich den Versuch, jenseits der Gunas zu kommen?

Ja, denn wenn ich anfange, die Welt als ein Spiel der Gunas zu verstehen und dieses Spiel zum Gegenstand meiner Beobachtung mache, dann erhebe ich mich über die Gunas. Und weil die Erkenntnisfähigkeit fest im Menschen verankert ist, wird man kein träger Beobachter bleiben, sondern zu einem wachen Erkenner werden – und das wäre das Ziel im Yoga. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir Balance nicht als einen Ausgleich von Plus und Minus verstehen.

Und genau das lehrt uns ja auch die Dreiheit der Gunas, dass es mehr gibt als Plus und Minus, Schwarz und Weiß …

Nämlich Schwarz (Tamas) und Rot (Rajas) auf einem weißen Hintergrund (Sattva). Ohne diesen erkenntnisspendenden weißen Hintergrund könnten Schwarz und Rot nicht sichtbar werden.

Atemübung: Sattvisches Rajas und Tamas

  1. Schließe die Augen und beobachte eine Weile still deine Atmung.
  2. Dann richte die Aufmerksamkeit auf die Ausatmung. Beobachte die in ihr enthaltene Aktivität. Beginne, diese Aktivität sanft zu kontrollieren, sodass die Ausatmung mit der Zeit sehr gleichmäßig und ruhig wird. Du lernst: Ruhe in der Aktivität – sattvisches Rajas.
  3. In der gleichen Weise beobachtest und führst du nun die Einatmung: Lasse die Atemluft ganz passiv, zurückgezogen und still in den Körper einströmen. Dabei bleibe (oder werde) aber sehr konzentriert und bewusst. Du lernst: Bewusstsein in der Passivität – sattvisches Tamas.

Tipp: Sattvische Ernährung

In der indischen Heilkunde werden auch alle Nahrungsmittel den Gunas zugeordnet. Eine rein sattvische Ernährung kann es nicht geben, der Körper braucht immer auch Tamas und Rajas. Dennoch kann eine Nahrung, die Sattva betont, auf allen Ebenen Balance und Wohlbefinden fördern.

Die wichtigsten Prinzipien der sattvischen Ernährung:

  • möglichst naturbelassene, vollwertige Zutaten
  • frisch und mit Liebe zubereitet
  • warm, aber nicht zu heiß essen
  • süßlicher Geschmack, wenig Würze
  • nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig essen

Die traditionell wichtigsten Nahrungsmittel:

  • Getreide
  • Mungbohnen
  • reines Wasser
  • Ghee und Milch
  • Honig oder Rohrzucker

Hier gibt’s noch mehr Tipps: “Sattvische Ernährung plus Rezept-Tipps”


R. Sriram

R. SRIRAM stammt aus Chennai in Südindien. Viele Jahre lang war er Schüler und Mitarbeiter von T.K.V. Desikachar, bevor er 1988 begann, Yoga in Deutschland zu unterrichten. Als Experte für Yogaphilosophie hat er unzählige Yogalehrer*innen ausgebildet und geprägt. Seine Bücher (u.a. “Das Yogasutra” oder “Yoga für Kinder und Jugendliche”) gelten als Standardwerke. Mehr unter www.yogaweg.de


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