Tantra und Yoga – von Anna Trökes

Das Image von Tantra ist einseitig (irgendwas mit Sex und Massage?), die philosophische Tradition dagegen reicht tief in die Wurzeln des Yoga hinein – und kann uns zu einem besseren Verständnis der Praxis verhelfen. Wir werfen ein paar Schlaglichter auf die Frage, wie wir Tantra heute leben können.

Texte: Anna Trökes / Titelbild: Dmitry Rukhlenko via Canva

Was Tantra ausmacht – und warum er so wichtig für unser Verständnis von Yoga ist

Egal ob du Sivananda-Yoga übst, Iyengar, Ashtanga, Vinyasa, Yin Yoga oder einen der unzähligen anderen Stile und Schulen, die wir modernen Yogi*is kennen: Sobald du Asana übst und Yoga über deinen Körper erfährst, praktizierst du eine Form von Hatha-Yoga. Und sobald du Hatha-Yoga übst, stehst du in der Tradition von Tantra. Auch wenn es dir bisher vielleicht nicht bewusst war: Ohne die revolutionären Ideen, die wir unter dem Namen Tantra zusammenfassen und die ab etwa 600 nach Christus die indische Philosophie und Spiritualität buchstäblich vom Kopf auf die Füße stellten, ist Yoga, wie wir es heute kennen, eigentlich undenkbar.

Bislang lagen diese Zusammenhänge und überhaupt die Ursprünge von Hatha-Yoga weitgehend im Dunkeln. Erst in den letzten drei Jahrzehnten haben die Forschungen zu diesem Thema in bisher ungekanntem Maß zugenommen. Maßgeblich für viele neue Erkenntnisse waren die Recherchen des 2015 an der University of London (SOAS) gegründeten “Hatha Yoga Project”. Es hat sich zur Aufgabe gemacht, viele noch unbekannte Quellentexte zu sichten, zu übersetzen und zu veröffentlichen. Das dabei gesammelte Wissen kann uns nun helfen, einen neuen Blick auf Tantra und Hatha-Yoga zu werfen und besser zu verstehen, worin Hatha-Yoga gründet und worum es bei seinen traditionellen Konzepten und Übungswegen eigentlich geht. Mir selbst jedenfalls hat es noch einmal einen völlig neuen Blick auf Yoga eröffnet.

Was bedeutet Tantra?

Wie viele Begriffe der indischen Spiritualität entzieht sich auch dieser einer exakten Übersetzung und bleibt vieldeutig:

• Zunächst ist Tantra ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Schriften (die ebenfalls Tantra genannt werden). Gleichzeitig werden aber auch die Konzepte und Methoden als Tantra bezeichnet, die sich ab 600 n. Chr. entwickelten und die in diesen Schriften festgehalten wurden.

• Der Begriff selbst wird meist als “Mittel” (tra) zur “Ausdehnung” (tan) des Bewusstseins übersetzt. Damit ist gemeint, dass mithilfe seiner Methoden all das, wodurch wir unser Bewusstsein einengen und begrenzen, nach und nach aufgelöst wird.

• Noch eine zweite Übersetzung hat sich durchsetzen können: Demnach bedeutet Tantra “Netz” oder “Gewebe”. Das gibt einen Grundgedanken tantrischen Denkens wieder: dass im Universum vom Makro- bis in den Mikrokosmos alles mit allem zusammenhängt.

Tantrische Strömungen

Shiva Shakti Tantra Statue
“Ich bin Körper – nur durch ihn erfahre ich das Absolute”, das ist die vielleicht revolutionärste Idee des Tantra. In dieser mittelalterlichen indischen Skulptur eines Liebespaares aus dem Museum Rietberg (Zürich) wird sie sichtbar. Foto: Stephanie Schauenburg

Shivaismus

Eine der wichtigen Erkenntnisse ist dabei die Bedeutung des Shivaismus: In den Anfängen der tantrischen Bewegung war die Verbindung von Yoga und Asketismus von zentraler Bedeutung – und der Gott Shiva galt als Prototyp eines Yogis und Asketen. Er soll nach indischer Überlieferung den Menschen den Weg des Yoga offenbart und sie in seinen Methoden unterwiesen haben. So sollte Yoga es dem Menschen ermöglichen, das in ihm ruhende Bewusstsein in seinem tiefsten Wesenskern zu erfahren.

Die Forschungen der letzten Jahre machen deutlich, dass diese shivaitisch-tantrischen Traditionen nicht nur sehr weit verbreitet waren, sondern auch prägend für das indische Mittelalter, also vom 5. bis 13. Jahrhundert. David Gordon White, ein Religionswissenschaftler, der maßgeblich in das Hatha-Yoga Project eingebunden war, geht sogar davon aus, dass diese tantrischen Traditionen bis heute den Mainstream des indischen Denkens bilden. Wie auch die anderen Forscher des Projekts betont er, “dass der Yoga des mittelalterlichen Shivaismus vor allem ein tantrischer und esoterischer Yoga war, der heute unter dem Sammelbegriff Hatha-Yoga bekannt und verbreitet ist.”

Shaktismus

Es gab zu dieser Zeit aber noch eine zweite für die Entwicklung des Hatha-Yoga wichtige tantrische Strömung: die weibliche Linie des Shaktismus. Sie speist sich aus den uralten, auf der ganzen Welt zu findenden Kulten der Großen Mutter: Neuere Forschungen über die Göttinnentraditionen des Hinduismus zeigen, dass viele zentrale Elemente des Tantra in der Verehrung der Göttin Shakti wurzeln. Das gilt auch für den klassischen Hatha-Yoga, wie vor allem der Leiter des Forschungsprojekts, James Mallinson gezeigt hat. In der SOAS-Veröffentlichung “Übungswissen in Yoga, Tantra und Asketismus des frühen indischen Mittelalters” heißt es:

“Insbesondere Visualisierungen der esoterischen Anatomie (Kundalini- und Chakra-System) sowie die Meditation über den inneren Laut (Laya- und Nada-Yoga) entstammen mit großer Wahrscheinlichkeit dem Shakti-Milieu. (…) So entstand im Shaktismus des Shaiva-Zeitalters das yogische Übungswissen, das später in dem Werk Hathayogapradīpikā (ca. 1450 n. Chr.) mit traditionellen yogischen Übungen (Asana, Pranayama) und Techniken (Mudra) kombiniert wurde.”

Später wurde dieses Übungswissen “demokratisiert” – Hatha-Yoga war nun nicht länger den Asket*innen und religiösen Virtuos*innen vorbehalten, sondern wurde zunehmend auch von Laien praktiziert.

Die Entdeckung der Körperlichkeit

Eines der Konzepte des Tantra, das in der spirituellen Geschichte als wirklich revolutionär gilt und das ganz besonders für die Entwicklung von Yoga zentral wurde, ist das des Körpers. In allen früheren Yogatraditionen wurde der Körper ausschließlich oder zumindest überwiegend als etwas angesehen, was den Übenden in die Zerstreuung führt und ihn mit seinen Trieben und Begierden vom “wahren Weg” ablenkt – denn dieser “wahre Weg” war ein rein geistiger. Im Tantrismus nun werden Körper und Geist als voneinander abhängig gesehen: Sie durchdringen sich gegenseitig. Was das bedeutet, erläutert uns eine Stelle aus dem Hevajra Tantra, die Herbert Guenther in seinem Buch “Tantra als Lebensanschauung” zitiert:

“Wie gäbe es Seligkeit, wäre der Körper keine Wirklichkeit? Unmöglich von Glückseligkeit dann zu sprechen. Glückseligkeit umschließt die lebenden Wesen, sodass das Umschließende selbst das Umschlossene ist. Wie der Wohlgeruch einer Blume nicht duften würde ohne die Blume, so wäre nicht wirklich Glückseligkeit, wären Form und dergleichen nicht Wirklichkeit.”

Weiblicher Körper Tantra Statue
Das Weibliche wird in der indischen Kultur nicht überall gewürdigt – im Tantra aber spielt es eine zentrale Rolle. So wie auf dieser Skulptur aus dem Musée Guimet in Paris. Foto: Stephanie Schauenburg

Man kann kaum unterschätzen, welche Wucht dieses neue Denken hatte – und bis heute hat: Im Tantra wandelt sich die Ansicht, dass ich einen Körper habe zu der, dass ich eben dieser Körper bin. Mein Körper ist meine Welt, und die ist – wie er auch – einzigartig. “Mein Körper ist der einzige, in dem ich völlig unmittelbar die Selbstverkörperung meines seelischen Lebens, das heißt ein Empfinden, Fühlen, Einordnen, usw. erfahre”, schreibt Herbert Guenther in dem oben genannten Buch. Der Körper wird also nicht nur als der Träger der Seele angesehen, sondern vielmehr als ihr Ausdruck. In ihm und mit ihm haben wir teil am Sein an sich, am Leben in all seiner Kraft. Die tantrische Praxis weist uns einen Weg, der uns hilft, zu erkennen, dass diese Lebenskraft, Prana, uns ausmacht, dass die damit einhergehende Bewusstseinsenergie einem strahlenden Licht gleicht – und dass dieses Licht nur darauf wartet, durch uns hindurch zu strahlen.

In dieser Podcast-Folge spricht Anna Trökes noch detaillierter über den Körper als Ort der Erfahrung:

Mikrokosmos und Makrokosmos

Die Wertschätzung des Körpers fällt im Tantrismus also zusammen mit der Wertschätzung der Schöpfung. Weil alles, was je erschaffen wurde, aus dem Absoluten entspringt, trägt es das Absolute eben immer auch in sich. Und da alles, was Teil der Schöpfung ist, ein Ausdruck dieser einen Bewusstseinsenergie ist, findet sich die tiefe Grundschwingung des Absoluten (Spanda) gleichermaßen im Kleinsten – in jedem Atom – und im Größten – dem Universum.

Mikrokosmos und Makrokosmos wurden nun lediglich als unterschiedlich erfahrbare Dimensionen der einen Bewusstseinsenergie angesehen und es wurde angenommen, dass in allem Erschaffenen, von Kleinsten zum Größten und von Gröbsten zum Feinsten dieselben ordnenden Strukturen wirken: sichtbar geworden gleichermaßen in den “Bauplänen” der Schöpfung wie auch in ihren Systemen, mit denen sie aus sich selbst immer wieder das Leben hervorbringt, es organisiert und reguliert.

Die Tantras sagen, dass unser Körper denselben Gesetzen folgt wie der Kosmos. Wer den inneren Kosmos des Körpers verstehen lernt, wird damit folglich auch die Gesetze des äußeren Kosmos verstehen lernen, denn “wie innen – so außen!” Das bedeutet, dass die Welt und Ich nicht als getrennt angesehen werden. Stattdessen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: “Ich bin die Welt!” und damit ein Bestandteil des großen Netzes (eine der Wortbedeutungen von Tantra), in dem alles zusammengewebt ist und alles in Beziehung aufeinander existiert.

Aufgehen in den 5 Sinnen

Ausgehend von diesen Gedanken ist es eigentlich naheliegend, dass im Tantra die Sinne geehrt werden – im Gegensatz zu vielen frühen Yogaformen, die den Menschen rieten, sich von ihren Sinneswahrnehmungen so vollständig wie möglich emotional zu lösen, da die Sinne immer die Neigung haben, den Geist abzulenken (man denke nur an den Duft von gutem Essen!). Das Vijnana Bhairava Tantra, eine Schrift aus dem Umfeld des kaschmirischen Shivaismus, rät uns sogar, uns ganz auf unsere Sinne einzulassen: Wir sollen ganz und gar im Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken aufgehen. Wenn wir das tun, werden wir erleben, dass unser Geist dann von dem Sinneseindruck absorbiert wird.

Shiva Nataraja Statue
Shiva spielt im Tantrismus eine zentrale Rolle. Hier siehst du ihn in der bekannten Form des Shiva Nataraja. Foto: Dmitry Rukhlenko via Canva

Und genau darum geht es: um die bewusste Erfahrung, dass wir uns von etwas vollkommen absorbieren lassen können. Und zwar nicht nur in irgendwelchen spirituellen Kontexten, sondern auch und vor allem im Alltag! Wenn wir rausgehen und bewusst kalte, klare Luft einatmen. Wenn wir in der Erfahrung aufgehen, dass uns die Sonne aufs Gesicht scheint, wenn die Sonnenstrahlen, das Licht und die Wärme die Haut berühren. Lassen wir uns ganz auf diese Erfahrung ein, dann wird der Geist mit allen seinem Denken dahinein absorbiert und geht in der Erfahrung des Spürens auf.

Noch mehr praktische Impulse dazu findest du in dieser Podcast-Folge mit Tantrika Sandra von Zabiensky:

Dabei unterziehen wir unseren Geist einem Training: Er wird trainiert, sich kontinuierlich – für eine kurze Dauer – von alltäglichen Sinneseindrücken absorbieren zu lassen und entwickelt damit Fähigkeiten, die uns sehr zugute kommen auf der Yogamatte, beim Erkunden unserer inneren Räume und Welten und vor allem in der Meditation. Umgekehrt nehmen wir damit eine entscheidende Qualität der Yogapraxis aber auch mit in unser alltägliches Leben: die Achtsamkeit. Dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen dem alltäglichen Erleben und dem (scheinbar besonderen) Yoga-Erleben – und auch das ist eines der Anliegen des Tantra: Alltägliche Praxis und spirituelle Praxis sollen miteinander in Beziehung treten, sollen sich mehr und mehr verschränken.

Teil des “Großen Ganzen” sein

Wenn alles, was ist, der einen göttlichen Quelle entspringt, die durch Shiva (Bewusstsein / Ruhe) und Shakti (Energie / Dynamik) symbolisiert sind, bricht jeder Versuch in sich zusammen, Hierarchien zu erschaffen, in denen das eine besser oder höherwertiger ist als das andere. Wenn alles der einen Quelle entspringt, ist alles gleichwertig und von gleicher Bedeutung für die Gesamtheit der Schöpfung. Das bedeutet, wenn ich mich darum kümmere, dass es mir in körperlicher, geistiger und seelischer Hinsicht gut geht, tue ich gleichzeitig der Schöpfung etwas Gutes. Wenn ich in dem, was ich esse, womit ich mich kleide, wohin ich mich bewege und wie ich mich verhalte, achtsam und fürsorglich bin, dann profitiert nicht nur mein näheres Umfeld davon, sondern – wenn auch vielleicht in einer kaum vorstellbaren Dimension – die ganze Welt.

Wenn ich achtsam und fürsorglich mit mir umgehen und dieselbe Bewusstheit und Energie meinem Wirkungskreis zugutekommen lasse, dann werde ich zur Shakti, die die Schöpfung schützt, nährt und in ihrer Entwicklung unterstützt. Wird ein solches Verhalten zu meiner Devise, wird mich das respektvoll, wertschätzend, dankbar und dadurch friedvoll machen. Im Tantra geht es nie darum, etwas aus sich zu machen (denn man ist ja schon alles). Es geht vielmehr darum, das, was ist, als Teil des “Großen Ganzen” anzuerkennen und zu würdigen.

Tantra: Ein Weg in die Freude

Ich gehe auf die Yogamatte, übe Asana und würdige, dass ich diesen Körper bekommen habe, der es mir ermöglicht, Erfahrungen zu machen. Ich erfahre mein Atemgeschehen als Ausdruck meiner Teilhabe am Lebendigen und meine Sinne als wertvolle Mittel, die Welt zu erkunden. Wenn ich mit dieser inneren Einstellung übe, muss ich nichts erreichen, muss nichts darstellen und niemanden (auch nicht mir) etwas beweisen. Ich übe, atme, entspanne mich und meditiere, weil es gut ist für mich und meine Welt. Ich bin dankbar für alles, was mir schon an Fähigkeiten und Einsichten gegeben ist und erfreue mich daran.

Tantra ist ein Weg in die Freude. Eine Freude, die aus Wertschätzung und Dankbarkeit entspringt.


Foto: Nela König

Anna Trökes ist als Ausbilderin, Lehrerin und Autorin sicher eine der prominentesten Yoginis hierzulande. Mehr Info unter prana-yogaschule.de

Einige Passagen dieses Artikels stammen aus ihrem Buch “Die kleine Yogaphilosophie” (O.W. Barth Verlag).

Auch im YogaWorld Podcast haben wir mit Anna Trökes über die Magie des Tantra gesprochen. Hier kannst du dir die Folge anhören:

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