Was ist wichtig im Yoga?

Hand aufs Herz

Was ist wirklich wichtig im Yoga? Und was zählt während der Ausführung der Asanas? Vielleicht ist es im wahrsten Sinne des Wortes die „Haltung“?

In den indischen Puranas, den „alten Geschichten“ über die Götter, gibt es viele Variationen über dasselbe Thema: Was wiegt schwerer: Gold oder Liebe? Die materielle Welt oder die Hingabe an das Selbst? Der Götterbote Narada, Vermittler zwischen Himmel und Erde, spielte einst ein kleines Spiel mit Krishnas Frauen Satyabhama und Rukmini. Bei einem Besuch am Hofe Krishnas erzählte er Satyabhama, dass man im nächsten Leben das erhält, was man in diesem freiwillig gegeben hat. Satyabhama wollte dieser Tradition folgen. Um auch in kommenden Zeiten mit Krishna zusammen sein zu können, gab sie Narada Krishna. Als Narada jedoch tatsächlich mit Krishna aufbrechen wollte, durchfuhr Satyabhama der Trennungsschmerz. Sie fragte, was sie tun könne, um ihren Geliebten zu behalten, ohne ihr Versprechen brechen zu müssen. Narada schlug vor, Krishna mit Gold aufzuwiegen. Dann würde er ihr ihren Mann zurückgeben. Gesagt, getan. Eine große Waage wurde beschafft und Krishna in eine der beiden Waagschalen gelegt. Satyabhama brachte alles Gold, das sie besaß. Doch egal, wie hoch sie die Schätze auftürmte, die Waagschale mit Krishna bewegte sich nicht. Er ließ sich mit keiner noch so großen Menge an Materiellem aufwiegen. Satyabhama hatte Angst, ihren Geliebten nun doch zu verlieren. So wandte sie sich zerknirscht an Rukmini, eine von Krishnas anderen Frauen, nachdem sie schweren Herzens all ihren Stolz hinuntergeschluckt hatte. Rukmini legte ein schlichtes Blatt des Tulsi-Baumes, des indischen Basilikums, in die andere Schale. Im selben Moment schnellte sie nach unten und stellte das Gleichgewicht wieder her. Das Blatt von Krishnas Lieblingsbaum symbolisierte Rukminis Verehrung für ihn. Ihre Liebe wog mehr als alles Gold der Welt. Narada war zufrieden – und Krishna blieb seinen Frauen erhalten.

Was hält diese Geschichte für unsere Yogapraxis bereit? Es war eine ganz einfache Ansage in der Yogastunde einer Kollegin, die meine Asana-Praxis vor wenigen Wochen um 180 Grad drehte. Wir sollten in einer Vorwärtsbeuge „das Herz führen lassen“. Ich kannte eine solch stille Herangehensweise an die Bewegung bis dahin nicht. In Gesprächen unter Kollegen habe ich immer interessiert zugehört, wenn über Details diskutiert wurde: Ob der Rücken gerade zu halten sei, oder die Bewegung aus der Hüfte heraus ausgeführt werden soll. Und ich habe in unterschiedlichen Traditionen gesucht, was anatomisch „richtig“ ist, um meine eigene Beweglichkeit zu verbessern. Obwohl ich wusste, dass Hatha Yoga nur ein Mittel zum Ziel sein soll, Stille im Geist zu erreichen, wollte ich doch auch endlich meinen Körper meistern. Ein paar Tage später begann ich den ersten Surya Namaskar (Sonnengruß) nicht damit, wie gewohnt meine Hände vor der Brust zusammen zu pressen, sondern ich erinnerte mich an das Wort, welches die Richtung angibt, nach der wir uns alle sehnen. Ich sagte zu mir selbst: „Ich bringe meine Hände zum Herz“. Statt kraftvoll mit meiner Brustmuskulatur zu arbeiten, legte ich sanft meine Handflächen am Brustbein aneinander und war so berührt, dass ich zunächst gar keinen Impuls hatte, weiterzuüben, weil sich bereits alles richtig anfühlte. Es war schön, einfach genau das zu genießen. Die folgenden Sonnengrüße hatten eine ganz neue Qualität, und sie haben diese seitdem auch behalten. Ich übe nicht mehr, um äußeren Anforderungen zu genügen, sondern genieße die ständige Erinnerung an mein inneres Zuhause.

Im Englischen spricht man im Hatha Yoga oft von „Alignment“, der korrekten Ausrichtung. Die bezieht sich in manchen Yogastilen vor allem auf die Statik der Gelenke und der jeweils angesprochenen Muskeln, Bänder und Sehnen. So wichtig es ist, hier durch ständiges Üben fundiertes Wissen zu sammeln: An einem bestimmten Punkt unserer Praxis dürfen wir den Fokus von der Anatomie lösen und uns der Schönheit der Haltung übergeben. Haben Sie diesen Morgen mit dem Sonnengruß begonnen? Dann haben Sie den schönsten Moment des Tages vielleicht schon erlebt. Wenn nicht, dann los. Lassen Sie sich in Ihrer Praxis von Ihrem Herzen leiten. Viel Spaß dabei!

Der Autor Ralf Sturm ist Yoga-, Meditationslehrer und Beziehungscoach und lebt in Berlin.

100. Ausgabe YogaWorld Journal
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