Der Schein trügt: Yoga findet nicht im luftleeren Raum statt und es erschöpft sich nicht in einer privaten Nabelschau, meint unser Autor Michi Kern.
Ist Yoga Selbstzweck oder Werkzeug zum Erreichen persönlicher Ziele?
Geht es um die eigene Gesundheit und das große Glück oder stehen Erleuchtung und die Verbindung zu Gott am Ende des Weges? Oder ist Yoga gar ein holistischer Ansatz, der eine gesellschaftliche Dimension hat? Zehn Jahre nach seinem Durchbruch ist Yoga zwar in der Mitte der Gesellschaft angekommen, doch es scheint noch nicht klar zu sein, wohin die Reise geht.
Gesundheit und Glück als Selbstzweck
Nicht zu leugnen ist, dass die stetig wachsende Yogabewegung vom Überfluss und Überdruss in den westlichen Gesellschaften profitiert. Wohin mit unserer Zeit, mit dem Geld, dem Frust und uns selbst? Es droht ein Sinnvakuum. Dabei ist es natürlich und legitim, gewonnene Freiheiten und Freizeiten und auch den Wohlstand zu nutzen, um sich neu zu orientieren. Der verräterische Originalton von einer Münchener Cocktailparty dazu lautete: „Mein Yogalehrer ist mir inzwischen genauso wichtig wie mein Friseur.“ Wenn wir dann gesund und zufrieden, ruhig und ausgeglichen sind, unseren Körper, Geist und Atem unter Kontrolle haben, stellt sich die Frage erneut: Was soll ich tun? Man könnte auch provozierend fragen: Wozu die Gesundheit und das ganze Glück?
Yoga als Werkzeug
Es gibt Schüler, die kommen nur ins Studio, wenn es ihnen emotional oder körperlich schlecht geht. Sobald die Situation (mit oder ohne Yoga) bereinigt ist, verschwinden sie wieder für die nächsten
zwei Jahre. Eine Schülerin sagte zu uns: „Warum Yoga? Ich hab‘ doch jetzt einen Freund.“ Dieser Pragmatismus ist erfrischend. Hier ist Yoga also ganz klar ein Werkzeug. Auch viele traditionellere Yogis würden das unterschreiben. Ihre hehren Ziele sind zwar Selbsterkenntnis oder tiefe Gotteserfahrung; trotzdem bleibt Yoga in beiden Fällen Mittel zum Zweck.
Im besten Fall wird Yoga demnach die Kapazitäten und Fähigkeiten schaffen, um die Dinge zu tun, die man wirklich tun will. Zufriedenheit und Gesundheit versetzen uns in die Lage, besonders unbeschwert zu handeln. Das persönliche „Glück“ ist jedoch nicht der Endpunkt der Bemühungen, sondern der Ausgangspunkt, von dem aus wir durchstarten – nicht das Ende einer irgendwie verunglückten Vergangenheit, sondern der Beginn einer sinnerfüllten Zukunft. Nach allem, was wir über die Verbreitung des Yoga wissen, ging es den großen Lehrern der Neuzeit, die ihre Schüler in den Westen geschickt haben, nicht darum, uns eine weltentrückte Askese näherzubringen. Sie verstanden Yoga im Gegenteil als Möglichkeit, den Einzelnen zu „heilen“, um gesellschaftlich und gemeinschaftlich zu wirken – ja eigentlich um die Welt zu retten, die schon den Alten als extrem gefährdet galt. Nur deswegen hat man Yoga vom Status einer Geheimlehre befreit und wollte es allgemein zugänglich machen.
Dieses Yoga erschöpft sich bei weitem nicht in der privaten Nabelschau. Die Kritik an der eigenen Lebensführung ist hier die Voraussetzung einer neuen Autonomie, mit der der Yogi nicht isoliert
in einem heilen, esoterisch verbrämten Paralleluniversum leben möchte, sondern ganz ausdrücklich mit der Wirklichkeit in Berührung stehen will. Das führt fast zwangsläufig zu Einmischungen und Einsprüchen, zu einem irgendwie gearteten Engagement, egal ob das nun sehr öffentlich oder auf einen kleineren Kreis beschränkt ist. Dabei rückt vieles von dem, was bisher wichtig und dringend war, in den Hintergrund, die Prioritäten verschieben sich.
Empathisch Leben
Offenbar ist Yoga kein gänzlich neutrales Werkzeug, sondern es fördert eine bestimmte Lebensweise, unsere Empathie, das Interesse und die Behutsamkeit gegenüber anderen. Anders gesagt: Man kann Yoga nicht von seinen Grundideen, wie zum Beispiel einer gewaltfreien Lebensform, zurückhaltendem Konsum oder sozialem Interesse abkoppeln. Unsere Asana-Praxis hat sich jedoch verselbstständigt. Sie existiert immer stärker isoliert von einem weiteren Erkenntnisinteresse oder den gesellschaftlichen Zielen von Yoga. Gesundheit und persönliches Glück haben ihren Wert in sich. Aber wirklichen Sinn ergeben sie erst in einem weiteren Kontext, in dem auch andere vorkommen. Insofern besteht Yoga nicht nur aus unserem Yoga im engeren Sinn, sondern vor allem auch in seiner Anwendung und Wirkung auf die Mitwelt im allerweitesten Sinn, den wir uns nur vorstellen können.
Der Autor Michi Kern lebt und unterrichtet als Jivamukti-Yoga-Aktivist in München. Neben Yogastudios betreibt er diverse Clubs sowie Restaurants und studiert Philosophie.