Die Essenz des Yoga – ein Interview mit Srivatsa Ramaswami

Srivatsa Ramaswami war über dreißig Jahre lang Schüler von Sri T. Krishnamacharya. Er ist im Westen nicht so berühmt wie Pattabhi Jois oder B. K. S. Iyengar, Doch er hat eine Botschaft, die man hören sollte. Ein Gespräch über den großen Krishnamacharya, Vinyasa und die Essenz des Yoga.

Indien mitten in London: In der Mahatma Hall des Indian YMCA findet ein Vinyasa Krama Teacher Training statt. Srivatsa Rama-swami sitzt auf einem Stuhl vor etwa vierzig Teilnehmern aus ganz Europa und erklärt, dass er uns in den folgenden Tagen ein Yogamenü aufzeigen wird, aus dem wir für unsere Schüler das jeweils Passende auswählen können.

Im Westen ist der weißhaarige indische Lehrer noch nicht überall bekannt, obwohl er mittlerweile einige Workshops in den USA und in England hält. Er hat mehrere Bücher geschrieben und bietet auf Youtube und seiner Homepage viele Tutorials zu Vinyasa Krama, Chanting und Philosophie an. Sein Stil ist anders als das Ashtanga Vinyasa von Pattabhi Jois: Er unterrichtet Teilserien mit verschiedenen Schwerpunkten – beispielsweise Bewegungen und Asanas rund um die Berghaltung oder um sitzende asymmetrische Positionen, die je nach Können zusammengestellt werden. Bewegungen werden mit der Atmung synchronisiert, der Atem fließt langsam. Warum sich sein Vinyasa von den anderen unterscheide, fragt ein Schüler. Die Antwort: Ich lehre, was mich mein Lehrer gelehrt hat.

Auch der Sonnengruß ist anders. Er schließt das Atemanhalten (Kumbhaka) und Mantras mit ein. Wir lernen, dass ohne den konzentrierten Gedanken an die Sonne ein Sonnengruß nur eine gymnastische Übung ist. Wir hören Geschichten aus den Puranas – während wir 7 Minuten lang im Baum stehen. Ramaswami erklärt das Yogasutra so einfach und praxisorientiert, wie man es selten hört. Nach fünf Tagen haben die meisten Schüler ihren yogischen Horizont maßgeblich erweitert. Wir wissen alle, dass wir noch mehr wissen möchten.

 

Mr. Ramaswami, wie alt waren Sie, als Sie Krishnamacharya trafen?

Etwa 15 Jahre.

 

Erinnern Sie sich noch daran, was er Sie als Erstes lehrte?

Ja. Es war, wie man in Samasthiti steht, einatmet und beide Arme dabei nach oben führt. Seine erste Anweisung bezog sich auf die Atmung, noch bevor er mir die Bewegung erklärte.

 

Viele seiner Schüler beschreiben Krishnamacharya als strengen Lehrer. Seine Kinder hingegen sprechen von ihm als sehr liebevollem Vater. Welchen Eindruck hat er bei Ihnen hinterlassen?  

Er blickte immer streng und war sehr strikt. Aber gleichzeitig hatte er immer das Wohlbefinden seiner Schüler im Sinn. Sein Hauptziel war, seinen Schülern dabei zu helfen, soviel zu lernen, wie sie konnten. Er war ein großartiger Lehrer!

 

Es kursieren heute viele Erklärungsansätze darüber, was Vinyasa sei. Wie verstehen Sie das, was Ihnen Ihr Lehrer beibrachte? 

Vinyasa ist ein Begriff, der in Indien sehr häufig in verschiedenen Künsten verwendet wird. Er bedeutet‚ etwas in Kunst umwandeln, in Musik, in Poesie oder in Drama. Im Yoga bedeutet Vinyasa, eine bestimmte Asana mit verschiedenen anderen Bewegungen zu verbinden und in sich zu vervollkommnen – anstatt einfach nur Asanas unabhängig voneinander einzunehmen. Durch Vinyasa steigt der Nutzen der Asanas. Außerdem, so rät mein Guru in einem seiner Bücher, hat Vinyasa mit richtiger Atmung zu tun. Ebenso steht es im Yogasutra. Das heißt, Vinyasas müssen mit der richtigen Atmung ausgeführt werden. Manchmal werden Vinyasas um eine bestimmte Position herum ausgeführt, manchmal führen sie zu einer bestimmten Haltung und dann gibt es Vinyasas, die in dieser bestimmten Stellung ausgeführt werden. Auf diese Weise entsteht ein ausgefeiltes System aus Bewegungen mit Atmung. Also kann man sagen, dass Vinyasa bedeutet, Bewegungen mit Atmung in einer klassischen Asana zu machen. Das ist dann Vinyasa Krama (Vinyasa-Schrittfolge).

 

Sie sagen, dass die Yogapraxis aus Vinyasas, statischen Haltungen, Pranayama und Meditation besteht. Warum ist Vinyasa so ein essenzieller Teil? 

Zu einer täglichen Praxis gehört beides: Vinyasas und statische Haltungen. Die Vinyasas unterstützen den venösen Rückfluss und verbessern in Kombination mit der richtigen Atmung die Sauerstoffversorgung der Zellen. Auch kann man bestimmte Haltungen mit bewussten Vinyasa-Bewegungen erlernen. Statische Asanas haben aufgrund des längeren Haltens ihren eigenen Nutzen, zum Beispiel 5 bis 10 Minuten im Kopfstand, Schulterstand oder Pashchimottanasana.

Man profitiert am meisten, wenn man beides übt – Vinyasa und statische Haltungen. Anschließend muss man sich setzen und Pranayama mit den Bandhas üben: Pranayama unterstützt die Organe des Brustkorbs; die Bandhas die des Bauches. Asanas und Vinyasas dehnen die Skelettmuskeln. Alles zusammen bildet also eine sehr umfassende Praxis.

 

Was empfehlen Sie einer gesunden Person als tägliche Praxis?

Ich denke, man sollte mindestens 1 bis 1,5 Stunden üben, um eine wirkungsvolle Praxis zu haben. In dieser Zeit sollte man zwei Drittel Asanas üben – zur Hälfte mit dynamischen Bewegungen oder Vinyasas und zur Hälfte mit statischen Haltungen. Die verbleibende Zeit sollte man zwischen Pranayama und Meditation aufteilen. Auf diese Weise kümmert man sich um den Körper, die inneren Organe und den Geist. Asana-Praxis alleine ist nicht ausreichend.

 

In vielen westlichen Studios bekommt man den Eindruck, dass Schwitzen ein Ziel yogischer Praxis ist. Wie sehen Sie das? 

Ich würde sagen – mein Lehrer sagte es immer – dass der Herzschlag nicht belastet werden darf. Zuviel Schwitzen und zu schnelle Atmung gehören eher zu aeroben (sportlichen) Betätigungen. Im Yoga ist es komplett anders: Hier unterstützt man das Herz bei seiner Aufgabe, das venöse Blut zum Herzen zurückzuführen, sowie durch eine intensivere Versorgung von Sauerstoff durch Pranayama und so weiter. Yoga und Sport befolgen unterschiedliche Philosophien. Da die meisten Westler von klein auf mit Sport in Kontakt kommen, verstehen sie Yoga oft ebenfalls als Sport und praktizieren es auch so. Sie übersehen dabei den grundlegenden Unterschied zwischen beidem.

 

Also ist das Ziel, während Asana und Vinyasa ruhiger zu werden?

Ja. Yogapraxis ist eine sehr langsame Praxis. Nie schnell. Die Bewegungen sind langsam. Man versucht, die Bewegungen zu verlangsamen, indem man sie mit dem Atem synchronisiert. Wenn man langsamer wird, wird die Atmung stärker. Man sollte fünf bis sechs Mal in der Minute atmen, während man Yoga übt. Bei sportlichen Übungen atmet man viel häufiger. Fünfzehn oder sechzehn Mal pro Minute. Das ist ein immenser Unterschied.

 

Man braucht also eine langsame Atmung, um die Bewegung zu verlangsamen. Welche Techniken empfehlen Sie, um die Atmung herunterzufahren, obwohl man den Körper in Bewegung hält? 

Kapalabhati hilft. Und man kann seinen Geist benutzen, um die Praxis zu verlangsamen und dann versuchen, die Bewegungen dem Atem anzupassen und so ebenfalls zu verlangsamen. Es wird sehr einfach sein, die Ratio von sechs bis sieben Atemzügen pro Minute zu erreichen. Einfach, indem man sich darauf konzentriert, langsam zu atmen und sich dann langsam zu bewegen. Nach einer Weile schafft man es, noch langsamer zu werden, sagen wir, mit drei bis vier Atemzügen pro Minute.

 

Wie sehen Sie die Entwicklungen von Yoga im Westen – den Yoga-Boom – während der letzten Dekade?

Mein Kontakt zu westlichem Yoga ist sehr eingeschränkt, da ich in Indien gelernt habe und lehre. Aber natürlich bin ich sehr überrascht, wie Yoga im Westen praktiziert wird. Ich denke, dass die Essenz fehlt. Man sollte endlich beginnen, den Atem richtig zu führen und konzentrierter zu üben und dann langsam zu werden. Wenn man langsamer wird, kann man besser dehnen. Und dann ist die Yoga-praxis ja nicht nur für die Skelettmuskeln da: Man muss gut atmen, damit die Organe des Brustkorbs mit einbezogen werden und die Bandhas für die Organe der Bauchregion. Erst dann ist es eine vollständige Praxis. Atmung und Bandhas müssen beachtet werden!

 

Weil es essenziell ist?

Ja, weil es essenziell ist. Man sieht es auch an der Hatha Yoga Pradipika: Sie endet nicht nach dem Kapitel über Asana. Es folgt Pranayama und dann der Abschnitt über Mudra. Es gibt einen Grund, warum das so ist. Also beginnen Sie, es in die Yogapraxis zu integrieren!

 

Lassen Sie uns an diesem Punkt noch einmal auf Ihre eigenen Studien mit Sri Krishnamacharya zurückkommen. Sie haben über 30 Jahre mit ihm verbracht. Hat sich die Praxis in dieser Zeit verändert und wenn ja, auf welche Weise?  

Er hat mir nicht nur Asana beigebracht. Er lehrte Pranayama und viel Chanten. Wir haben zahlreiche Texte mit ihm gelesen. Es war also ein sehr umfassender Unterricht. Am Anfang war ich etwa 15 Jahre alt, da lag der Schwerpunkt auf Asana und Pranayama. Dann wechselte er nach und nach zu Meditation, zum Chanten und zu den vedischen Texten sowie den Yoga-Upanischaden, dem Yogasutra, Samkhya Karika und so weiter. Ich denke, selbst im Westen muss man nach einigen Jahren der Asana-Praxis weitergehen und studieren, was Yoga noch bietet. Vielleicht beginnt man mit dem Yoga-sutra, vielleicht mit der Hatha Yoga Pradipika. Man muss versuchen, sein Wissen zu erweitern, damit man die Tiefe und die Feinheiten schätzen lernt.

 

Empfehlen Sie ernsthaften Schülern, Sanskrit zu lernen, um die Texte selbstständig zu erfassen?

Ja, ein wenig Sanskrit ist gut. Sehen Sie, in jedem Bereich, in den Sie tiefer eintauchen möchten, müssen Sie die Fachsprache erlernen. Wenn man sich also sein Leben lang mit Yoga beschäftigt und sogar unterrichtet, sollte man sich vollständig darauf einlassen und das Thema studieren. Ich stelle fest, dass viele Leute 8 oder 10 Jahre praktizieren, aber immer nur Asana. Ein paar Asanas, immer und immer wieder. Und das unterrichten sie. Es gibt da keine persönliche Entwicklung. Yoga ist so ein vielschichtiges Thema. Perfekt, um sich weiterzuentwickeln. Es ist wichtig, mehr als nur einen Aspekt zu erlernen. Aber die Leute lernen nicht viel … Das ist meine Meinung.

 

Welche Botschaft haben Sie für Yogis und Yoginis im Westen?

Ich würde sagen, jeder, der sich dem Yoga zuwendet, hat die richtige Entscheidung getroffen. Er gibt einem so viel. Wichtig ist: Üben Sie bewusst und versuchen Sie Ihr Verständnis von Yoga zu vertiefen. //

 

SybilleSchlegel
Die Autorin Sybille Schlegel ist studierte Historikerin und unterrichtet Yoga im Rhein-Main-Gebiet. Außerdem gibt sie deutschlandweit Workshops mit Schwerpunkt Yogaphilosophie und leitet mit Andras Ruhula Hatha Vinyasa Yoga Teacher Trainings in Mainz, Bochum und am BodDie Autorin Sybille Schlegel ist studierte Historikerin und unterrichtet Yoga im Rhein-Main-Gebiet. Außerdem gibt sie deutschlandweit Workshops mit Schwerpunkt Yogaphilosophie und leitet mit Andreas Ruhula Hatha Vinyasa Yoga Teacher Trainings in Mainz, Bochum und am Bodensee.

 

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