Fern jeder Idylle widmet sich Oscar-Preisträgerin Caroline Link („Nirgendwo in Afrika“) auch in ihrem aktuellen Film einem faszinierenden Land auf dem afrikanischen Kontinent: „Exit Marrakech“ entstand in Marokko. Im YOGA JOURNAL – Interview spricht die Regisseurin über Authentizität in der Kunst und im Leben.
In „Exit Marrakech“ müssen der Theaterregisseur Heinrich und sein 17-jähriger Sohn Ben vor der Kulisse Marokkos eine neue Beziehung zueinander finden. Welche Dynamik entsteht, wenn ein erfahrener Schauspieler wie Ulrich Tukur auf einen Newcomer wie Samuel Schneider trifft?
Die Energie zwischen den Darstellern passt zum Vater-Sohn- Konflikt in der Geschichte: Der Junge reagiert impulsiv und intuitiv auf die fremde Umgebung, in die die beiden regelrecht geworfen werden. Sein Vater gibt sich souverän. Er reflektiert, analysiert und meint, die Dinge verstanden zu haben, bevor er sie erlebt hat. Was sie beide brauchen, ist Offenheit für die Welt des anderen.
Wann empfinden Sie Ihre Darsteller generell am authentischsten?
Es wird immer interessant, wenn Schauspieler ihr eigenes Ich in eine Figur einfließen lassen. Ich meine damit nicht das Klischee, dass jemand immer nur „sich selbst spielt“. Es ist auch für Profis schwer, frei von der Kamera sie selbst zu sein und sich wirklich zu spüren. Am schlimmsten finde ich Künstlichkeit und eine erkennbare Absicht, wie man gerne gesehen werden möchte. Zu Beginn des Films schickt Samuels Schulleiter, gespielt von Josef Bierbichler, den Jungen mit folgendem Auftrag in die Ferien: Erlebe endlich etwas! Er möchte ihm helfen, etwas zu wagen, und will unbedingt, dass er sich ehrlich für etwas interessiert. Ich persönlich finde es langweilig, wenn sich Menschen für nichts interessieren. Begeistern kann ich mich für Menschen, die sich mit Leidenschaft etwas zuwenden, egal was es ist.
Für Bens Vater Heinrich ist das die Kunst. Klingt da auch die Regisseurin Caroline Link durch?
Heinrich empfindet „die Fantasie spannender als die Realität“. Dieser Satz stammt von meinem Mann (Anm. d. Red.: dem Regisseur Dominik Graf). Klar liebe ich es, die Welt durch die Perspektive begabter Autoren zu betrachten und mich dadurch im besten Fall den Dingen noch mehr zu nähern. Aber gerade auf Reisen lasse ich mich gerne von der unmittelbaren Umgebung inspirieren. Ich stürze mich auf Märkten in die Menge, während mein Mann die passende Literatur aus dem Rucksack zieht.
Warum spielt Ihr aktueller Film nach „Nirgendwo in Afrika“ erneut an einem fremden, exotischen Ort?
Ich bin wahnsinnig gerne unterwegs und sehe es als Privileg des Filmemachens, an Orte kommen zu können, die mir sonst verschlossen bleiben würden. Ich komme aus der Provinz und habe als Kind nicht so viel gesehen. Den Entdeckergeist habe ich von meinem Vater, der als junger Mann in die Welt aufgebrochen ist und als Tellerwäscher in den besten Hotels gearbeitet hat. Angeblich hat er einmal in Monte Carlo Brigitte Bardot das Frühstück serviert – aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Hier haben wir vielleicht wieder ein Beispiel für das Spannungsfeld Fantasie und Realität … Auch mir haben meine Eltern immer erlaubt, hinauszugehen und etwas zu wagen. Sie haben mir die Welt als bunten Spielplatz vermittelt.
Welchen Einfluss nahm der Drehort auf die Erzählung?
Ich spiele gerne mit Erwartungen. Wir haben den Film gedreht, als würden wir selbst auf diese Reise gehen. Auf gewisse Weise verschleiert Tourismus die Realität eines Landes, also wollten wir auch nicht so tun, als ob die Figuren komplett mit dieser Welt verschmelzen. Bens Moment der größten Freiheit kommt, als er in der Wüste auf Skiern eine Düne herunterfährt. Sicher nicht das, was man sich unter einem meditativen Wüstenerlebnis vorstellt, aber für ihn ein authentisches Gefühl des „So ist es“: Hierhin bin ich alleine, aus meiner eigenen Kraft gekommen.
Auch bei der Regie ist man letztlich auf sich allein gestellt. Wo liegt die Balance zwischen künstlerischer Vision und dem Ego, das man auslebt?
Zur Charakterbildung ist Regie sicher nicht sehr vorteilhaft (lacht). Am Set bist du die Autorität, du hast Zugang zu allen Orten, kannst deine Neugier ausleben und dir werden – sofern sie sich im Rahmen des Budgets befinden – alle Wünsche erfüllt. Sicher ist ein Filmset eher ungesund hierarchisch angelegt, und es ist schwierig, nach der Drehzeit zuhause wieder alleine den Müll hinunter zu bringen. Die Machtposition relativiert sich allerdings durch die hohe Verantwortung: Ob der Film gut oder schlecht wird, liegt alleine an dir und wird später auch nur dir zugeschrieben. Daran zu denken, überschattet bei mir jeden Anflug von Größenwahn.
Beim Schnitt entsteht aus dem gedrehten Material ein im idealen Fall emotional stimmiges Ganzes. Welche Energie bestimmt diesen faszinierenden Prozess?
Das Puzzle, aus dem sich jeder Film zusammensetzt, ist wirklich interessant und birgt auch für mich ein Restgeheimnis. Ich persönlich verzweifle jedes Mal am Rohschnitt und frage mich, ob der Film überhaupt gerettet werden kann. Doch je mehr ich mich mit meiner Cutterin herantaste und die einzelnen Ebenen – Bild, Ton, Musik – kombiniere, strukturiert sich das vermeintliche Chaos. Als wir bei „Exit Marrakech“ in der Schlussszene die Musik vom Anfang wiederholten, fuhr auf einmal die entscheidende Chemie in die Szene ein. Der Kreis der Geschichte hatte sich geschlossen. Gewisse Dinge kann man nicht planen, nur hoffen, dass sie sich im Schneideraum fügen. Man kann regelrecht nur beten, dass sich der Zauber einstellt! Beim Film kannst du nicht mit Worten arbeiten oder mit den Händen formen, sondern nur Bausteine bereitstellen und dann vertrauen. Entscheidend kann dann ein zufälliger Blick des Schauspieler sein und nicht das, was du wohlüberlegt inszenieren wolltest.
Wann macht Sie eine Szene oder ein ganzer Film wirklich glücklich?
Mich beglückt Kunst, wenn ich das Gefühl habe, dass ich nicht alleine auf diesem Planeten bin, sondern erkenne, dass andere Menschen ähnlich fühlen. Kunst kann vermitteln, von einem eigentlich fremden Menschen gesehen und verstanden zu werden.
Wird hier für Sie ein größerer Zusammenhang deutlich?
Auf jeden Fall eine universelle Melancholie und die Sehnsucht nach Verbindung mit anderen Menschen. Grundsätzlich glaube ich auf jeden Fall an einen größeren Zusammenhang und an den Sinn von Gemeinschaft. Letzteres habe ich in Marokko stark empfunden. Dort pochen die Menschen nicht so sehr auf ihren eigenen Individualismus, sondern pflegen mit großem persönlichen Einsatz eine starke Community. Dennoch idealisieren Sie das im Film nicht, was oft die Gefahr ist – Stichwort „arm, aber glücklich“. Allerdings sagten mir viele Menschen, die wir in Marokko getroffen haben, dass sie gerne in Deutschland arbeiten oder studieren würden, aber ungern hier leben oder gar alt werden wollen. Oft sieht unsere viel beschworene „Verwirklichung“ ja so aus, dass wir fünf Mal im Jahr mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen wollen, materielle Güter sammeln und besser dastehen wollen als der Nachbar. Das stellt sich oft als keineswegs attraktiver oder menschlich weiser heraus als die Verbundenheit in einer Gemeinschaft, die dafür geopfert wurde. Natürlich ist Selbstverwirklichung ein Wert, für den es sich zu kämpfen lohnt, seine Realisierung gerät aber oft sehr banal. Ein Blick auf andere Kulturen relativiert dies.
Wie sorgen Sie als Kopf eines starken Filmteams und darüber hinaus im Alltag für sich selbst?
Tatsächlich übe ich Yoga, allerdings seit Jahr und Tag im Basic-Kurs (lacht). Nicht nur, aber vor allem in Phasen großer Erschöpfung hilft mir Yoga sehr, meine Gedanken zu leiten und nicht wild im Kopf herumspuken zu lassen. Die bewusste Atmung und die Verbindung zwischen Strecken, Öffnen und Entspannen ist sehr heilsam für meine Art zu sein. Mir gefällt Yoga als freies System: Ich kann es mir leicht machen und mich durch die Stunde mogeln, kann aber auch alles hineingeben. Es liegt an mir. Letztlich ist die Praxis meine Rettung, wenn mir mein Körper wieder einmal signalisiert: „Caroline, du bist nicht lieb zu mir, du machst mich wahnsinnig.“ In unwirklichen, von anderen organisierten Zeiten wie Promotion-Touren bleibt dadurch, dass ich beim Üben auf mich selbst schaue, der Blick auf dem Wesentlichen.
Was gehört für Sie zum Wesentlichen?
Mir hilft bei Stress der Gedanke: „Sei doch mal gnädig mit der kleinen Caroline von früher.“ Durch Yoga gelingt mir der Kontakt mit dem Kind in mir, also nicht immer ehrgeizig und fordernd zu sein. Vielmehr kann ich mich dann selbst einmal in den Arm nehmen und Zeit mit mir selbst verbringen. Ich brauche und liebe meinen Körper. Dass ich mich so hektisch und grenzenlos in der Welt bewegen kann und mir der Körper immer wieder verzeiht, schafft bei mir Demut. Es ist so sinnvoll, ihm zu geben, was er braucht.
Damit auch für Andere gut gesorgt werden kann?
Vor allem, um mit den Anderen im Reinen zu sein. Ich habe gelernt, zu meinen eigenen Verwundungen und allem, was mich als Kind geprägt oder auch verletzt hat, liebevoll zu sein. Die kleine Caroline hatte es schwer: Jetzt kann die große Caroline ihr über den Rücken streichen und sagen, dass alles besser wird. Ich muss niemanden Vorwürfe machen, sondern kann alles früher Belastende in meiner aktuellen Welt anerkennen, ohne Bedürfnis, eine Rechnung zu begleichen.
Hat das auch die Vater-Sohn-Geschichte in „Exit Marrakesh“ geprägt?
Für jede neue Erfahrung verlieren wir im Leben etwas anderes. Mit der Erfahrung kommen Bedenken und Sorgen. Jugend bedeutet Mut zur Unvernunft. Das ist ein kostbares Gut und hat für mich eine große erzählerische Kraft. Da gibt es noch nicht so viel Meinung und Bewertung – etwas, was mich an vielen Erwachsenen stört.
„Die Seele ist ein weites Land“, zitiert Ihr Protagonist Heinrich den Autor Arthur Schnitzler im Gespräch mit seinem Sohn. Eine Rechtfertigung für die Kompliziertheit des erwachsenen Denkens?
Eher ein schöne Zusammenfassung davon, dass so vieles Raum in uns hat: Liebe und Trug, Wahrheit und Lüge. Und dafür, dass die Dinge oft nicht so einfach sind, wie sie scheinen.
Die im hessischen Bad Nauheim geborene Autorin und Regisseurin Caroline Link studierte an der Hochschule für Fernsehen und Film München und wurde 1998 mit „Jenseits der Stille“ erstmals für den Oscar nominiert, den sie schließlich 2001 für „Nirgendwo in Afrika“ gewann.