“Fass mich (nicht) an!” – Berührung: Sehnsucht vs. Angst

Natürlich ist da einiges dran: Bei der ayurvedischen Massage, im Day Spa oder beim Tango-Kurs gibt es einen klar definierten Rahmen oder gar eine professionalisierte Art der wohltuenden Berührung, etwas, das wir selbst wählen, definieren und kontrollieren – und das uns gleichzeitig nichts abverlangt außer einer angemessenen Bezahlung. Maximale Sicherheit, minimale Verantwortung also. Ein ziemlich naheliegendes Konstrukt für unsere zugleich ängstliche und nutzenorientierte Gesellschaft. Gleichzeitig ist aber klar: Eigentlich wollen wir nicht behandelt werden, sondern berührt. Angerührt in unserem Innersten. Denn “Rührung” ist nicht umsonst der Kern des Wortes Berührung. Etwas in uns soll sich rühren, bewegen, aufeinander einschwingen. Oder mit anderen Worten: in Resonanz kommen.

Foto: Shvetsa via Pexels

Der Soziologe Hartmut Rosa hat mit seinem Buch über Resonanz einen wichtigen Nerv getroffen: Er beschreibt unsere Weltbeziehung unter dem Blickwinkel der vorhandenen beziehungsweise gestörten Resonanzen. Wie wir mit uns selbst, miteinander, mit der Natur und den Dingen umgehen, wie wir aufeinander zugehen und unser Leben gestalten, das hängt davon ab, in welcher Art von Beziehung und Verbindung wir sind. Wenn uns jemand oder etwas – im wörtlichen oder metaphorischen Sinn – berührt, werden wir nicht nur achtsamer damit sein, es wird uns auch mehr Freude und Erfüllung schenken. Was macht es also mit uns, dass sich unsere zwischenmenschlichen Beziehungen immer mehr auf virtuellen Plattformen abspielen? Dass wir unsere Handys an manchen Tagen mehr berühren als unsere Lieben? Dass so viele von uns alleine leben? Während der Corona-Pandemie sind wir noch mehr auf Abstand zueinander gegangen – und diese erzwungene Distanz wirkt auch jetzt noch gewaltig in uns weiter …

Sehnsucht nach Nähe

Wahr ist aber auch, dass viele von uns immer aufmerksamer hinschauen. Dass sich immer mehr Menschen fragen, wie wir einander wieder anders begegnen können. Achtsamer, wertfreier, solidarischer und vor allem vielleicht: näher. Viele von uns üben ganz bewusst – zum Beispiel im Yoga – sich zu öffnen. Nicht umsonst sind die Workshops zum Thema “Herzöffnung” meistens so schnell ausgebucht. Wir haben das Bedürfnis, uns wieder näher zu kommen, uns zu berühren und berührt zu werden – mit all unserer Individualität, Verletzbarkeit und Bedürftigkeit, aber auch mit all dem, was wir an Resonanzfähigkeit, Empathie, Liebe und Freude zu geben haben.

Die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme beschreibt in ihrem Buch “Human Touch” eindrücklich, wie ein Mangel an liebevoller Berührung und Beziehung uns krank macht. Den besonderen Wert von Yoga und Meditation sieht sie darin, dass wir durch die Praxis unsere Interozeption verbessern, also die Fähigkeit zur bewussten Wahrnehmung der inneren Prozesse. Denn nur wenn wir wahrnehmen, welche Bedürfnisse nach Nähe und Berührung, aber auch welche Widerstände und Ängste wir haben, können wir auch wieder mehr Berührung und Nahbarkeit wagen.

Berührung wagen – oder lieber nicht?

Gerade wenn man Yoga unterrichtet, weiß man, wie heikel körperliche Berührungen sind: Es gibt Menschen, die können nicht genug davon bekommen, und andere, die können sie schlicht nicht ertragen. Die einen lieben Partnerübungen, die anderen verdrücken sich sofort in die hinterste Ecke. Manche genießen Assists und Korrekturen, andere fühlen sich aus ihrer Yogapraxis gerissen, sobald sie bemerken, dass die Lehrerin oder der Lehrer in ihre Richtung kommt. Ganz klar: Menschen bringen verschiedene Geschichten und Konstitutionen mit – und das darf auch so sein!

Lies dazu auch: “Hilfestellungen im Yoga – hands on, hands off?

Foto: Comstock Images via Canva

Es gibt einen ganz natürlichen, je nach Erziehung und Gewohnheit mehr oder minder ausgeprägten “Hauthunger” (die Forschung spricht hier tatsächlich von “skin hunger”), aber es gibt eben auch individuelle Empfindlichkeiten, Hypersensibilität, Körperkontaktstörungen und Traumata. Erschwerend hinzu kommt, dass das Thema Berührung in unserer Gesellschaft oft stark sexualisiert wird. Dabei sind erotische Berührungen ja nur eine von unendlich vielen Facetten und Kontexten, in denen Menschen sich nahe kommen und anfassen. Wenn diese Grenzen verwischen, werden sie allzu schnell auch verletzt.

All das macht es uns schlicht unmöglich, uns so unverkrampft, frei und spielerisch zu berühren, wie es zum Beispiel Kindergartenkinder tun. Was wir brauchen, sind deshalb nicht nur klare Regeln und ein Bewusstsein der eigenen Bedürfnisse, Widerstände und Grenzen, sondern auch ein gutes Gespür für unser Gegenüber. Mit anderen Worten: Achtsamkeit, Einfühlung, Empathie. Ohne diese Bereitschaft zur Verantwortung für sich selbst und andere geht es nicht.

Verletzbarkeit und Resonanz

Die andere Grundvoraussetzung für heilsame, nährende Berührung ist ein gemeinsames Bewusstsein der menschlichen Verletzbarkeit. Die Journalistin Elisabeth von Thadden hat 2018, also noch zwei Jahre vor den Berührungsverboten der Pandemie, ein Buch über “Die berührungslose Gesellschaft” geschrieben. Darin macht sie deutlich, dass es ein Fehler wäre, im Zusammenhang von Berührung und Resonanz einem “Wohlfühl-Missverständnis” aufzusitzen.

Berührung ist nicht immer nur angenehm: “Die Angst, dass nichts mehr einen berührt, weil alles gleichgültig ist, hält sich die Waage mit der anderen Angst, dass die Berührung zu stark, gar gewalttätig ist. Während man sich öffnet, ist Verletzung zum Greifen nah.” Sie sieht eine große Chance darin, dass wir in den vergangenen Jahrzehnten als Gesellschaft diese Verletzbarkeit erkannt haben und eine selbstbestimmte Freiwilligkeit endlich zur Grundbedingung jeglicher Berührung machen – #Metoo, um nur ein Beispiel zu nennen. Ob wir diese Chance nutzen, mehr Nähe wagen und zu einer “angstlosen Zugewandtheit” finden oder ob sich im Gegenteil unser “misstrauisches Kontrollverlangen”, die Vereinzelung und Distanz noch verstärken? Da ist sie sich nicht sicher.

Resonanz entsteht nach der Definition von Hartmut Rosa immer in der “Berührung durch das unverfügbare Andere”. Hier ich, da du. Hier ich, da Welt. Eine Dualität, die sich, wenn Resonanz geschieht, gegenseitig sieht und würdigt, sich füreinander öffnet, sich annähert und begegnet. Aus der Yogaphilosophie und ganz besonders dem tantrischen Denken kennen wir aber auch die Idee, dass Dualität eigentlich aus einem gemeinsamen Urgrund entsteht. Dass die Pole von Shiva und Shakti, Purusha und Prakriti, die ganze unendliche Vielfalt der irdischen Erscheinungen nichts als Ausprägungen einer integralen Ganzheit sind, Brahman. Diesem Bewusstsein von Einheit nähern wir uns mit unserem Üben an. Und auch das kann Berührung sein: die paradoxe Erfahrung, dass du und ich getrennt sind und doch eigentlich eins.

Foto: Miriam Alonso via Pexels

“Hauthunger” ist einer der Aspekte, die Print-Chefredakteurin Stephanie Schauenburg bei ihrer Recherche zu diesem Thema tatsächlich berührt haben. Und dass auch Sprache diese Fähigkeit zur Berührung hat (genau wie Musik oder Kunst), liegt für sie auf der Hand.

Dieser Artikel stammt aus der YOGAWORLD JOURNAL-Ausgabe 02/2023 mit dem Titelthema “Berührung”. Hier kannst du dir das Heft nachbestellen, um noch mehr über die verschiedenen Facetten von Berührung zu lesen:

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