“Fass mich (nicht) an!” – Berührung: Sehnsucht vs. Angst

Das Berührungsverbot damals während Corona hat uns womöglich noch scheuer gemacht – dennoch sehnen wir uns nach Berührung. Sie ist im wahrsten Sinn des Wortes lebenswichtig. Wie können wir uns auf achtsame und heilsame Weise berühren, im Yoga und auch sonst im Leben?

Text: Stephanie Schauenburg, Titelbild: Dmitry Belyaev/Getty Images via Canva

Es gibt Berührungen, die vergisst man sein Leben lang nicht. Georg spricht noch mit über 50 davon, wie seine Oma ihm als kleiner Junge zärtlich den schmerzenden Bauch gerieben hat. Marie musste weinen, als ihre Yogalehrerin ihr nach einem langen Ausbildungstag einen Moment lang die Hand auf die Stirn legte. Nicht zu fest, nicht zu leicht, ganz ohne Ziel und Erwartung und dennoch sooo liebevoll. Genau so, dachte Marie damals, will ich berührt werden – in meinem Innersten angerührt.

Sicher erinnerst auch du dich an solche Momente: eine tröstliche Umarmung, eine ermutigende Hand auf deiner Schulter, der feste Griff einer kleinen Babyhand um deinen Finger, ein erster Kuss oder eine heilsame Massage. Aber natürlich sind da auch die anderen Erinnerungen: die unsympathische Frau, die sich Hüfte an Hüfte neben dich auf die Bank setzt, das als Versehen getarnte Grapschen eines Fremden im vollgestopften Bus, Momente, in denen deine Grenzen übertreten wurden, kleine und große Verletzungen.


Podcast #101 “Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt im Yoga” – mit Kristin Rübesamen, Carmen Schnitzer und Susanne Mors

Leider kann es auch im Yoga Berührungen geben, die unsere persönlichen Grenzen überschreiten. Ein ehrliches Gespräch zum Thema Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt im Yoga findest du in unserer Podcast-Folge #101:

Außerdem hat unsere Redakteurin Carmen Schnitzer einen ausführlichen Artikel zu diesem Thema für das YOGAWORLD JOURNAL 03/2024 geschrieben. Hier kannst du dir das Heft bestellen.


Ob eine Berührung als angenehm erlebt wird, als heilsam und beglückend oder aber als Übergriff und schlimmstenfalls sogar als Trauma – es hängt zuallererst davon ab, dass wir einverstanden mit ihr sind. Dass wir wissen: Hier bin ich sicher. Denn die Hand, die uns streichelt, der Arm, der uns hält, kann auch zuschlagen. Das ist unser Dilemma: Wenn wir die nährende, heilende Kraft von Berührungen erleben möchten, müssen wir uns für sie öffnen – und das macht uns immer auch verletzbar. Deswegen schützen wir instinktiv unseren Nahraum und lassen nur Menschen in ihn, denen wir vertrauen. Doch wem vertrauen wir und warum, beziehungsweise warum nicht?

Historisch gesehen waren wir noch nie so sicher vor Übergriffen und Gewalt wie hier und heute. Nicht nur werden die Gesetze immer umfassender, auch das gesellschaftliche Bewusstsein hat sich stark gewandelt: Wir reklamieren und genießen unser Recht auf Unversehrtheit und Selbstbestimmtheit, besonders auch als Frauen und mit Blick auf unsere Kinder. Zugleich sind wir aber offenbar scheuer und ängstlicher denn je, bleiben immer mehr auf Abstand. Nie gab es so viel Abgrenzung, so viele Singles, so viel Einsamkeit – und im Gegenzug auch nie so viele Angebote für Massagen, Kosmetik, Körpertherapie. Denn dass wir bei aller Scheu Berührung notwendig brauchen, das verstehen wir heute auch aus wissenschaftlicher Sicht sehr viel besser als noch vor 20 Jahren:

Foto: Olga Drach via Unsplash

Berührung – ein Lebensmittel

In seinem Buch “Homo hapticus” erklärt der Psychologe und Haptik-Forscher Martin Grunwald faktenreich, dass angemessene Berührungsreize “nicht nur metaphorische Lebensmittel sind, sondern der zentrale Motor für Wachstums- und Entwicklungsprozesse”. Ohne Körperkontakt kann ein Neugeborenes nicht gedeihen, Berührung ist in dieser Lebensphase sogar wichtiger als Nahrung – und das gilt nicht nur für uns Menschen, sondern für alle Säugetiere. Nur durch Berührung können wir ein Gefühl der eigenen Körperlichkeit entwickeln: ein Körperschema, das uns sagt, wie wir beschaffen sind, einen Tastsinn, der uns hilft, unsere Position im Raum zu bestimmen und uns sicher zu bewegen. Die durch Berührung vermittelte Wahrnehmung der eigenen Grenzen ist überhaupt der Grundstein unseres Ich-Bewusstseins: Hier ende ich, dort beginnt das, was nicht ich bin. Berührungsreize aktivieren aber auch das Zellwachstum, sie sind notwendig für die Reifung des Nerven- und Immunsystems, können Blutdruck und Emotionen regulieren, sie helfen zu entspannen und zu regenerieren, sie motivieren und fördern Leistung.

Nicht ohne Grund gibt es in fast allen Kulturen Traditionen des Heilens durch Berührung, vom schlichten Handauflegen über diverse Massagen bis hin zu Reiki und Akupressur. Wie genau die Kraft der Berührung hier Heilung bewirkt, ist oft nicht ganz klar, aber dennoch wird immer deutlicher, dass selbst kleinste Berührungen bedeutsame zelluläre, neurologische und biochemische Prozesse anstoßen – von den psychischen und sozialen ganz zu schweigen. Angenehme, erwünschte und adäquate Berührungen können nach den Worten von Martin Grunewald “in jedem Menschen eine körpereigene Apotheke öffnen”. Zu den bekannteren Wirkstoffen dieser Apotheke gehören zum Beispiel das Bindungshormon Oxytocin und das Glückshormon Serotonin.

Kommt immer darauf an

Foto: Joshua Reddekopp via Unsplash

Aber welche Berührungen empfinden wir als angenehm und warum? Die Forscher*innen nennen dafür zwei ausschlaggebende Kriterien: Wärme und sanfter Druck – also genau das, was wir aus dem Mutterleib und unserer frühesten Babyzeit kennen. Aber natürlich kann auch eine sanfte, warme Berührung hochgradig unangenehm sein. Experimente im Labor zeigen, dass wir den exakt gleichen Reiz auf unserer Haut völlig unterschiedlich wahrnehmen, je nachdem welche Person uns in welcher Situation an welcher Körperregion berührt. Entsprechend unterschiedlich reagieren wir auch: Wenn beispielsweise die Kellnerin im Café kurz und freundlich ihre Hand an deinen Oberarm legt, bekommt sie laut einer US-amerikanischen Studie mehr Trinkgeld. Würde sie dir aber (so wie der Friseur oder die Kosmetikerin) ungefragt den Kopf kraulen oder die Wange streicheln, ließen viele von uns vermutlich den Manager oder die Managerin rufen.

Bis auf die Hände, Arme und Schultern sind in unserem Kulturkreis eigentlich alle Körperregionen für Fremde erst mal tabu. Dabei gibt es gewaltige Unterschiede – und die ungeschriebenen Gesetze ändern sich manchmal rasend schnell. Noch in den späten 1980er-Jahren wäre in Deutschland zum Beispiel niemand auf die Idee gekommen, seine Bekannten wie in Frankreich mit Küsschen links und rechts zu begrüßen, dann taten es plötzlich alle. Genau wie es vor 2020 viele Menschen als Affront gewertet hätten, nur mit einem freundlichen Nicken statt per Handschlag gegrüßt zu werden, doch während der Pandemie war diese seit Jahrhunderten ritualisierte Form von Körperkontakt völlig verpönt.

Eine berührungslose Gesellschaft?

Schon 2008 konstatierte der Journalist Tobias Haberl in einem SZ-Artikel: “Der moderne Mensch hat ein ziemlich gestörtes Verhältnis zur Nähe.” Familien und Partnerschaften seien überfordert, der Alltag der Menschen “entkörperlicht und entsinnlicht”. Und während alles, “immer visueller und virtueller” würde, entstünde parallel eine “Berührungsindustrie” – und die sei “der geheime Akku einer berührungslosen, aseptischen Gesellschaft”.

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