Josh Summers ist Akupunkteur, Yin-Yoga- und Meditationslehrer in Boston. Im März unterrichtete er in dem Münchner Studio „Airyoga“ einen zweitägigen Workshop, der sich als inspirierende Mischung aus Yin-Yogahaltungen und praktischer Meditationsanleitung entpuppte. Sofern sie sich darauf einließen, konnten die Teilnehmer zahlreiche Anregungen für ein tiefes Eintauchen in ihr Innenleben mit nach Hause nehmen. Weshalb Yin Yoga und Meditation eine perfekte Einheit bilden, erzählt der sympathische Yogi im YOGA JOURNAL-Interview.
YOGA JOURNAL: Josh, wann und warum hast du mit Yin Yoga begonnen?
JOSH SUMMERS: Mit Yin Yoga begann ich etwa vor zwölf Jahren, nachdem ich bereits zehn Jahre lang Iyengar Yoga praktiziert hatte. Damals hatte ich begonnen, mich für Meditation zu interessieren, und nahm an einigen Retreats teil, bei denen ich viel saß. Dabei plagten mich Beschwerden, die typisch sind für jemanden, der meditiert: Schmerzen im Rücken, in den Hüften und Knien. Ich fühlte mich geradezu betrogen von meiner Iyengar-Praxis und suchte nach Möglichkeiten, bequemer in der Meditationshaltung sitzen zu können. Dabei stieß ich auf einen Artikel von Paul Grilley im amerikanischen YOGA JOURNAL und beschloss, meiner eigenen Praxis einige Yin-Elemente hinzuzufügen. Schon bald war ich begeistert, da nicht nur meine Schmerzen in der Meditation aufhörten, sondern sich zugleich mein Geist viel ausgeglichener und ruhiger anfühlte.
Auf welchen Prinzipien basiert Yin Yoga und wie wirkt es?
Erst einmal möchte ich betonen, dass Yin Yoga ein allgemeiner Ansatz ist, wie man Yoga praktizieren kann. Es handelt sich nicht um ein zusammenhängendes System oder eine geschützte Marke. An die Praxis trete ich auf die selbe Weise heran wie andere Lehrer auch – genau wie bei Paul Grilley oder Sarah Powers handelt es sich um lange und passiv gehaltene Asanas am Boden. In diesem Stil sind die Prinzipien relativ simpel: Der Yogi bringt seinen Körper in eine Haltung, die ihm ein sanftes und gut erträgliches Maß an körperlichen Empfindungen schenkt. An diesem Punkt entspannt er seine Muskeln und bleibt ohne Bewegung zwischen 3 und 10 Minuten oder sogar länger in der Position. Diese Art der Praxis wird allgemein den „Yin-Level“ im Leben heben. Beim Yang Yoga werden die Muskeln primär angeregt, gekräftigt und gedehnt. Beim Yin Yoga sind sie dagegen entspannt und der Körper ist ruhig, so dass die kompakteren Bindegewebsstrukturen um die Gelenke herum auf sichere Weise stimuliert werden können. Auch in unserem Geist lassen sich diese generellen Wirkungsweisen beobachten: Beim Yang Yoga zielt der Yogi darauf ab, Yang-Qualitäten wie Stärke, Selbstvertrauen oder Willenskraft zu kultivieren, während er beim Yin Yoga Yin-Qualitäten wie Stille, Empfänglichkeit und inneren Frieden erlangen möchte. Natürlich sind das jetzt Verallgemeinerungen … Yang wird immer auch Yin-Elemente enthalten und andersherum. Nichts kann ausschließlich Yin oder Yang sein.
Wie wird das Meridiansystem durch die Yin-Haltungen beeinflusst?
Die sogenannte moderne Meridiantheorie geht davon aus, dass die Meridiane im Bindegewebe des Körpers zu finden sind. Jedes Yoga, egal ob Yin oder Yang, stimuliert dieses Gewebe, doch Yin Yoga unterstützt nachhaltig die Gesunderhaltung des Bindegewebes an den Gelenken. Gerade dort sind energetische Blockaden oft am stärksten. Auf energetischer Ebene kann man also sagen, dass Yin Yoga hartnäckige Verstopfungen beseitigt und Yang Yoga frische Energie durch die Kanäle fließen lässt, sobald diese Blockaden verschwunden sind. Um besser verstehen zu können, wie diese Theorie funktioniert, ist es hilfreich, das Konzept der Piezoelektrizität näher zu betrachten. Einfach ausgedrückt, handelt es sich dabei um Elektrizität, die entsteht, wenn kristalline Strukturen zusammengedrückt werden. Im Körper kann das Netzwerk aus kollagenem Bindegewebe als „flüssiges Kristall“ verstanden werden, welches bei Kompression und Dehnung eine piezoelektrische Ladung erzeugt. Ein in Achtsamkeit geschulter Yogi wird diese elektrischen Ströme und Wellen von Energie spüren, ganz besonders nachdem er direkt aus einer Yin-Yogahaltung herauskommt. Genau das ist so interessant an Akupunktur und an Yoga: Man mag an einer Stelle mit einer Nadel oder einer bestimmten Yogahaltung ansetzen, aber die Wirkung ist im gesamten Körper spürbar – und zwar deshalb, weil das Bindegewebe den gesamten Organismus durchläuft.
Empfiehlst du Yin Yoga als komplementäre Übungspraxis?
Ja, definitiv. Für die meisten Yogapraktizierenden, die einen Yang-Yogastil üben, ergänzt Yin Yoga die Praxis perfekt. Zum Beispiel ist es nicht ungewöhnlich, dass mir ein Ashtanga-Yogi nach einigen Yin-Yogaeinheiten erzählt, dass sich seine Ashtanga-Praxis plötzlich leichter und flüssiger anfühlt. Yin und Yang unterstützen einander, gleichen sich aus und bestärken sich. Nur eines von beiden zu betonen, fördert Ungleichgewicht. Die Leute fragen mich immer, wie viel Yin Yoga sie praktizieren sollen. Aber es gibt keine Formel. Ich rate immer, erst mit ein bisschen Yin Yoga zu beginnen, um zu sehen, wie es sich anfühlt. Dann kann man tief in sich gehen und selbst beurteilen, ob man etwas mehr Yin oder Yang in seinem Leben braucht. Eigentlich geht es grundsätzlich darum, sich selbst zu reflektieren und sich dann in Richtung Balance zu bewegen.
Wie sieht eine Klasse von Josh Summers aus?
Im Rahmen von eineinhalb Stunden betonen meine Klassen ein spezielles Meridiansystem oder eine bestimmte Körperregion, wie Hüften oder Rücken. Manche meiner Schüler bleiben 4 bis 5 Minuten lang in den Haltungen, daher unterrichte ich nicht mehr als zehn oder zwölf Asanas. Zu Beginn der Stunde erläutere ich meist die fundamentalen Elemente des Yin-Yoga-Ansatzes, damit die Schüler wissen, wie sie auf sich selbst achten können. Zudem biete ich meditative Reflexionen für die Zeit in den Haltungen an. Ich versuche immer, mindestens eine halbe Stunde am Ende für Stille übrig zu haben, damit die Schüler in ihre eigene Erfahrung und Praxis eintauchen können.
Wie stehen dein tiefes Interesse an Yin Yoga und Meditation miteinander in Verbindung?
Wie ich bereits erwähnte, kam ich zum Yin Yoga, weil ich mir erhoffte, dadurch komfortabler beim Meditieren sitzen zu können. Je mehr ich es praktizierte, desto klarer wurde mir, dass es tatsächlich ein großartiger Rahmen ist, um Meditation zu üben. Viele Anhänger der Yang- Stile würden vermutlich anmerken, dass ihr Stil ebenfalls eine meditative Komponente besitzt. Ich verneine das nicht, doch in der Stille des Yin Yoga kann man sich wirklich entspannen, loslassen und in einen Zustand eintauchen, den man nur schwer erreichen kann, wenn im Außen viel Bewegung herrscht. Häufig kommt es vor, dass spirituell Suchende eine ziemlich Yang-orientierte, kontrollfreudige Geisteshaltung mitbringen, und solche Gedanken haben wie: „Ich muss entspannter, ruhiger, mitfühlender werden. Ich muss ein besserer Mensch werden, ein weniger wütender Mensch. Ich muss das jetzt umsetzen, um in der Zukunft etwas Bestimmtes zu werden oder zu bekommen.“ Das Problematische an dieser Denkweise ist, dass sie der Ansicht vieler spiritueller Traditionen widerspricht, Frieden, Glück und Freiheit seien bereits vorhanden – genau in diesem Augenblick. Wenn man praktiziert, um diese Zustände irgendwann einmal in der Zukunft zu erfahren, ist das die Garantie dafür, dass man sie nie erreichen wird! Das ist ungefähr so, als würde man seine Autoschlüssel in der Wohnung suchen und vergessen, dass man sie schon längst in die Jackentasche gesteckt hat. Yin Yoga und sein Fokus auf empfängliche, innere Stille richten den Übenden auf den Moment aus, so dass er Frieden und Glück direkt erfahren kann. Eine solche Qualität des Seins stellt sich dann ein, wenn der Yogi damit aufhört, sie in irgendeinem anderen Moment zu suchen. Je mehr ich meditierte, desto stärker wollte ich als Lehrer einen Weg finden, diese Erfahrung mit meinen Schülern zu teilen. In einer sehr aktiven Stunde, die sich auf akkurate Ausrichtung und fließende Bewegungen konzentriert, hat man einfach nicht genügend Zeit, wirklich tief in meditative Themen einzutauchen. Im Yin Yoga kann man dagegen mehrere Minuten lang in einer Haltung über ein bestimmtes Thema sprechen und ermöglicht den Schülern dadurch, in der Asana Meditation zu praktizieren. Du bist Gründer eines Instituts, das vor allem in Unternehmen Achtsamkeitsmeditation anbietet und propagiert.
Was für Programme sind das?
Mit dem metaMind-Institut möchte ich Individuen und Organisationen die zahlreichen Vorteile von Achtsamkeitsübungen in Berufsleben und Alltag nahe bringen. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen zunehmend und sehr viele Menschen empfinden es als große Herausforderung, mit der Komplexität und Unsicherheit unseres modernen Lebens zurechtzukommen. Achtsamkeit als Übung, in jedem Moment vollkommen präsent zu sein, kann als Gegengift bei diesen Problemen wirken. Indem man einfach nur die Aufmerksamkeit immer wieder in den gegenwärtigen Moment bringt, wird man ruhiger und bekommt einen objektiveren Blick auf das Leben. Aus dieser ruhigen Klarheit entspringen fähigere, innovativere und vorteilhaftere Reaktionen in den unterschiedlichen Arbeits- und Lebenssituationen. Mich persönlich interessiert vor allem der Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und Führungspositionen, da die Entscheidungen von Personen auf Führungsebene das Leben vieler direkt beeinflussen. Zum Einen wirkt sich das Maß an Bewusstheit einer Führungsperson auf die Wahrnehmung der Welt und die Handlungen ihrer Mitarbeiter aus. Zum Anderen erkennen mehr und mehr Führungskräfte selbst, dass sie durch das Achtsamkeitstraining genau die kognitiven Fähigkeiten erhalten, die sie benötigen, um den Herausforderungen unserer Zeit mit größerer Belastbarkeit, mehr Gleichmut und angepasster Flexibilität zu begegnen.
Geht eine regelmäßige Meditationspraxis automatisch in den Alltag über oder benötigt man bestimmte Strategien, um die oftmals wahrgenommene Trennung zwischen Meditation und
alltäglichem Leben zu überwinden?
Ich empfinde das Verhältnis zwischen Achtsamkeitspraxis und Achtsamkeit im täglichen Leben als ähnlich wie das zwischen einem Fitnesstraining und dem Kraft- und Energielevel, das einem jeden Tag zur Verfügung steht. Während der Dauer eines Fitnesstrainings stärkt und dehnt man Muskulatur und Gewebe, sodass die vielen kleinen Aufgaben im Alltag wie das Tragen von Einkaufstaschen, das Hochheben der Kinder oder das Überziehen der Betten leichter werden. Im Rahmen der Achtsamkeitspraxis betont man für eine gewisse Zeitspanne das aufmerksame Verweilen im gegenwärtigen Moment. Im Lauf der Zeit und mit regelmäßiger Praxis taucht diese Achtsamkeit überall auf – ganz egal, wo man ist oder was man tut: bei einem Meeting oder Vortrag, im Gespräch mit dem Partner. Das gesamte Leben wird nach und nach von größerer Präsenz und Klarheit durchdrungen. Manchmal, wenn ich mit Gruppen arbeite, frage ich zu Beginn, wer am Morgen geduscht und Zähne geputzt hat. Alle melden sich. Aber wenn ich dann frage, wer sich am Morgen um seinen Geist gekümmert hat, sehen mich, bis auf ganz wenige Ausnahmen, nur erstaunte Gesichter an. Ist das nicht seltsam? Wir kümmern uns meist gar nicht um genau den Teil, der das ganze Schiff steuert – unseren Geist. Indem wir jedoch beginnen, unseren Geist ernst zu nehmen, werden wir weniger reaktiv und können uns selbst und der Welt besser dienen.
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Weitere Informationen zu Josh Summers, seinen Workshops und seinem Buch „The Buddha’s Playbook“ mit praktischen Meditationsanleitungen.