Wettbewerb um die Erleuchtung

Erlösung, Erleuchtung, Versenkung und Verrenkung

Auf der Suche nach dem wie auch immer gearteten „Selbst“ scheinen wir im modernen Wettbewerb um die Erleuchtung zuweilen durchaus käuflich zu sein. Aber halt: Welche Erleuchtung eigentlich? Nicht nur im Rahmen seiner Ashtanga-Praxis stellen sich dem Kölner Schriftsteller Selim Özdogan („Im Juli“, „Zwischen zwei Träumen“, „Mehr“) Fragen nach Wegen, Ziel und Substanz des Konzepts „Erleuchtung“.

Ihre Augen leuchten, als sie erzählt, dass sie gestern fast nicht in den Supermarkt ­gekommen sei. „Ich habe schon so einen Grad an Reinheit ­erreicht“, sagt sie, „dass die Sensoren für die ­Schiebetüren mich nicht mehr erkennen.“ Sie meditiert zwei bis drei Stunden am Tag und das schon seit fünf Jahren. Einer ihrer Bekannten steht jeden Morgen um 4:30 Uhr auf, um eine Stunde Atemübungen zu machen, denen jeweils eine Stunde Körperübungen und Meditation folgen, bevor er frühstückt und seiner Arbeit als Berufsberater nachgeht. Für vermeintlich höhere Zwecke verzichten Menschen auf Schlaf, auf Fleisch, auf Fisch, auf Tabak, Alkohol, Drogen, manche auch auf Zwiebeln und Knoblauch, auf Sex, auf Unterhaltung und in einigen Fällen auch auf ihr gesundes Urteilsvermögen.
Doch sie verzichten nicht nur, sie kaufen auch, Meditationskissen und -bänke, Räucherstäbchen, Bücher, CDs, DVDs, sie fahren zu Retreats in Südfrankreich oder auch zu Meistern oder vermeintlichen Meistern, die auf anderen Kontinenten ­leben.

Das alles im Namen der Erleuchtung. Esoterik ist keine Geheimlehre mehr, und es gibt zahlreiche Beispiele von Prominenten, die freudestrahlend über ihre spirituellen Praktiken berichten. Das Thema ist der Mehrheit zugänglich, und in vielen Kreisen wird man nicht schief angesehen, wenn man täglich medititiert, sondern eher leise ­bewundert. Aber was ist Erleuchtung? Was ist Samadhi, Nirvana, Verschmelzung mit dem Kosmischen, Selbstverwirklichung, Satori, Moksha, dieser Zustand, der den Menschen verschiedenster Kulturen quer durch die Geschichte bekannt ist, den meisten aber nur nach dem Hörensagen? Der Ashtanga-Yogi Rolf Naujokat beschreibt ihn so: „Die Stille basierte nicht mehr auf der Außenwelt, es war nur Sein. Es war nicht so, dass da ein Ich war, dass Stille erfährt. Es wurde einfach eins, und das war wirklich erstaunlich. Es ist schwer in Worten auszudrücken, viele Bücher schreiben schöner darüber.“

Das große Verlangen
Erleuchtung wird häufig als Zustand definiert, in dem sich die großen Fragen nicht mehr stellen: Wer sind wir? Was machen wir hier? Was ist der der Sinn des Lebens? Und das offenbar nicht, weil die Fragen beantwortet wären, sondern weil man erkennt, dass sie irrelevant sind. Es scheint etwas im Menschen zu geben, dass unabhängig von seinem Körper, seinen Gedanken, Emotionen, Sehnsüchten und Sorgen existiert, frei von seinem Weltbild und seinen Selbstdefinitionen. Einen göttlichen Kern möglicherweise. Wenn man zu diesem vordringen kann, braucht man keine Antworten mehr. Man sieht die Einheit allen Seins, in der die Dualität aufgehoben ist. Es gibt kein Gut und Böse mehr und damit auch nicht mehr die Frage, warum Gott das Böse zulässt. Das Universum hat seine Richtigkeit, so wie es ist. Das, was wir als unsere Identität betrachten, was uns in unserem Verständnis zu dem macht, was wir sind, wird als Illusion angesehen, als bloßes Konstrukt. Wir sehen die Welt immer durch die Brille unserer Identität und unseres Weltbildes. Wenn wir das ablegen könnten, würden wir eine Realität erfahren, die sich grundsätzlich von unserer Alltagsrealität unterscheidet. Ähnliche Ebenen kennen wir aus der Traumwelt: Wenn man sich während eines nächtlichen Traums bewusst wird, dass man träumt, verliert das Erlebte die Realität. Man identifiziert sich nicht mehr damit und ist erleichtert, weil man weiß, daß man aufwachen wird. Genauso scheint das, was wir als Realität betrachten, auch nur ein Traum zu sein, aus dem man auftauchen kann. Eine Übersetzung von Buddha ist „Erwachter“.

Für viele Menschen klingt die Existenz einer unumstößlichen Wahrheit, die Möglichkeit eines Lebens ohne Sorgen, ein endgültiges Ankommen verlockend. Doch die Wege der verschiedenen spirituellen Disziplinen sind meist beschwerlich. Laut vieler Aussagen ist auch für einen Erwachten nicht alles nur leicht. Und woher soll man wissen, dass die versprochene Belohnung tatsächlich ­existiert? Selbst wenn sie existiert – wieso sollte ausgerechnet man selbst sie bekommen? Und wieso hat Gott einem Hände und Füße gegeben, wenn er wollte, dass man zehn Stunden am Tag meditiert, um ihn zu ­schauen? Wie weit will man gehen? Es gibt die Geschichte, in der ein angesehener tibetanischer Lama in einem Intensivseminar zahlreichen Erleuchtungwilligen eine Meditation über Mitgefühl lehrt. Die Anwesenden sollen die Krankheiten aller Menschen einatmen und in sich aufnehmen. Ein Teilnehmer fragt erschrocken: Und wenn es funktioniert? Der Mönch antwortet: Dann freuen Sie sich, dass es funktioniert.

Der Preis der Erkenntnis
Welchen Preis möchte man für Erkenntnis zahlen? Ist es nicht egoistisch, diese Erkenntnis für sich selbst zu wollen? Und zugleich unmöglich, da die verschiedenen spirituellen Disziplinen sich ja einig sind, dass dieses Selbst, das wünscht, denkt, handelt, fühlt und strebt, etwas ist, mit dem wir uns nur fälschlicherweise identifizieren? Und was hat Mitgefühl eigentlich mit Erleuchtung zu tun? In seinem Buch „Verflixte Erleuchtung“ stellt der spirituelle Autor Jed McKenna Fragen dieser Art häufiger. Wenn du Mitgefühl entwickeln möchtest, grenzenlose Liebe erfahren, Wonne spüren, Glückseligkeit, das Ende der Sorgen, die totale Verschmelzung, dann bemühe dich darum, sagt er. Aber Erleuchtung sei etwas anderes. Wenn du erleuchtet werden möchtest, strebe danach – und nur danach. Wenn du diesen Zustand erreicht hast, kannst du immer noch entscheiden, ob du Mitgefühl entwickeln möchtest. Für die Heerscharen spirituell Suchender, die sich in einem Wunschdenken von Erleuchtung verstricken und sich weiß Gott was davon versprechen, hat McKenna nur ein geringschätziges Lächeln übrig. Die Menschen rennen einem Phantom hinterher, sagt er. In diesem Zusammenhang macht es möglicherweise Sinn, dass „Jed McKenna“ ein Pseudonym ist, das Buch Fiktion und seine Identität unbekannt ist: Es gibt keinen Autoren, dem man nacheifern könnte. Es könnte aber auch bedeuten, dass man hier einem Blender ­aufsitzt.

Das vermeintliche Versprechen, dass alle Sorgen ein Ende haben, dass das Paradies auf Erden zum Greifen nahe ist, dass man alle menschlichen Unzulänglichkeiten hinter sich lassen kann, ist einfach zu verheißungsvoll. Es gibt genug Menschen, die bereit sind, ihre Ernährung radikal zu ändern, sogenannte weltliche Aktivitäten zu minimieren, auf vielerlei elektrische Geräte und Quartzarmbanduhren zu verzichten, vier Stunden täglich zu meditieren, zu singen, zu beten, sich zu verrenken oder was ihnen ihre jeweilige Schule sonst noch vorschreibt. Ohne Unterlass streben sie, und nicht alle sind sich des Paradoxons bewusst, dass dieses Streben und Begehren nur ein Ausdruck ihrer Identität ist, ihres Egos, das sie eigentlich überwinden möchten. Sie erfreuen sich an ihren Fortschritten, was durchaus menschlich ist, doch spiritueller Stolz gilt als eines der großen Hindernisse auf diesem Weg. Meine Freundin, die sich freut, weil die Schiebetür engelhafte Wesen wie sie nicht erkennt, purzelt in ihrer Freude offenbar wieder zurück in Verhaftungen, von ­denen sie sich eigentlich lösen wollte. Doch viele Menschen, die mehr oder weniger feste religöse oder quasireligiöse Überzeugungen haben, verfallen dem Irrglauben, dass sie den Weg ins Glück kennen. Wenn das eigene Leben ein wenig besser aussieht als das der anderen, tendiert man schnell zu Hochmut und Dünkel. Schon so mancher Bioprodukteverzehrer neigt zum Glauben, er würde etwas besser oder richtiger machen als die anderen. Weil alle dieses Gefühl haben wollen, gibt es jetzt Bio in Discountmärkten. Eine Anekdote am Rande: Der Krimiautor Janwillem van de Wetering, der in den 1950ern in Japan in einem Zenkloster meditiert hat, erzählte seinem Meister begeistert von den Visionen, die er während der Sitzungen ­hatte. Und der Meister winkte ab. Visionen ­hätten hier alle, das sei ganz normal und würde nichts bedeuten.

Das Ende des Leidens
Die Reichtümer am Ende des Regenbogens müssen unermesslich sein, wenn Schiebetüren und Visionen nichts bedeuten. Die Menschen stellen sich vor, sie würden 24 Stunden täglich in Wonne baden, ewig lächeln und Gückseligkeit als Dauerzustand erfahren. Alle Probleme würden mit einem Mal aufhören, man würde keinen Irrtümern erliegen und keine Dummheiten begehen. Sie glauben, sie würden befreit von dem Leid, ein Mensch zu sein. Aber das scheint nicht der Fall zu sein, wenn man Jed McKenna, Richard Sylvester, Hermann R. Lehner, Satyam Nadeen, Karl Renz, Tony Parsons, Ramesh Balsekar und einigen anderen Vertretern des Advaita glauben möchte, deren Stimmen im Supermarkt der Erleuchtung ­gerne überhört werden. Der amerikanische Bewusstseinsforscher Ken Wilber, der die Erfahrung der Nondualität nach eigener Aussage kennt, nennt sie den „Einen Geschmack“. Er sagt, dass es keinen, wie er es nennt, „spirituellen Bypass“ gibt. Das Erlangen des „Einen Geschmacks“ bedeutet nicht, dass sich alle Probleme von selbst lösen. Die Schwierigkeiten mit Arbeit, Familie, Gemeinschaft, Geld, Ernährung, Sex und Alltag bleiben. Allerdings verlieren sie ihre Wichtigkeit, weil man sich nicht mehr mit seinem Körper und seinem Geist identifiziert. „So mancher, der den ‚Einen Geschmack‘ einmal erreicht hat, verliert jegliche Motivation, die Schäden in seinem psychologischen Unterbau zu reparieren. (…) Man kann das Bewusstsein des ‚Einen Geschmacks‘ haben und trotzdem Krebs bekommen, in seiner Ehe scheitern, arbeitslos werden, ein Ekel bleiben.“ Man ändert sich nicht, es ändert sich nur die Perspektive.

Die wenigsten von uns sind in der Lage, den Wahrheitsgehalt solcher Aussagen zu überprüfen, aber es ist kein Wunder, dass Statements dieser Art nicht so verbreitet sind. Das ist nicht das, wonach die meisten streben, sie wollen alle Unannehmlichkeiten mit einem Schlag loswerden. Als würde mit einem Mal Licht werden, wie bei der Erschaffung der Welt. Als würde man eine Droge nehmen, die einen für den Rest des Lebens high macht, inklusive Dauerlächeln und dem Gefühl eines nicht mehr endenden Orgasmus. Dabei übersieht man gerne, daß die Heiligen und Erleuchteten, denen man ja letztlich nacheifert, alle gelitten haben: Jesus, Buddha, Ramakrishna, Johannes vom Kreuz, Mevlana, Meister Eckehart und viele andere. Man ist durchaus bereit, für das Ziel zu ­zahlen: mit Disziplin, mit Meditation, mit Yoga-Praxis, mit Zeit, aber auch mit Geld, um verschiedene Erleuchtungsangebote anzunehmen. Doch man möchte nicht mit Leid und Aufgabe der angenommenen Identität zahlen. Würden die anderen Wege mehr oder weniger zuverlässig zum Erfolg führen, müssten die spirituellen Disziplinen Legionen von ­Erleuchteten entlassen. Sie tun es nicht. In der Regel wird das damit begründet, dass es mehrere Leben bis zur Erleuchtung braucht.

Doch gleichzeitig sind sich die meisten Schulen einig, dass man immer schon erleuchtet ist. Der göttliche Kern, das wahre Selbst, die Leere, der „Eine Geschmack“: Wie immer man es nennen möchte, existiert unabhängig davon, ob es im Moment erfahrbar ist oder nicht. So gesehen gibt es keine verschiedenen hierarchischen Stufen, und niemand ist weiter fortgeschritten auf dem Weg – weil es keinen Weg gibt. Wir sind wie Fische im Ozean, die nach Wasser suchen, heißt es. Erwachte betonen oft, wie einfach das Erlebnis des Einsseins ist. Zur Erleuchtung kommt man möglicherweise nicht über Schulen und Meister, Regeln und Dogmen, sondern über das eigene Innere, wo man Schicht für Schicht von seiner Identität ablegt, bis – und davor hat wohl jeder Mensch Angst – nichts mehr übrig bleibt. Oder wie der japanische Dichter Matsuo ­Basho sagt: „Versuch nicht, in die Fußstapfen des Weisen zu treten. Suche einfach nur, ­wonach er suchte.“ Erleuchtung passt, was das Marketing angeht, wundervoll in unsere Konsumwelt. Die Versprechungen, die die spirituelle Werbung macht, sind überlebensgroß und fast ausnahmslos jeder möchte das Produkt, jeder möchte seine Sorgen loswerden. Man kann die Katze im Sack verkaufen, aber weil kaum jemand weiß, wie diese Katze aussieht, können genausogut Mäuse oder Entendreck im Sack sein. Es ist wie so oft: Wenn Verpackung und Versprechung stimmen, dann wird gekauft. Wen scheren die Stimmen derer, die sagen, sie wüssten, daß keine Katze im Sack ist. Nicht mal ihr Grinsen. Der Sack ist leer.

Selim Özdogan, geboren 1971, ­studierte Völkerkunde, Anglistik und Philosophie. Seit 1995 hat er zahlreiche Romane veröffentlicht, darunter „Im Juli“, der auf Fatih Akins gleichnamigem Film von 2000 basiert. 

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