Beginnen wir mit einem Experiment: Sehen Sie sich bitte den Film „Earthlings“ über die Methoden moderner Tierhaltung und Fleischproduktion an. Sie brauchen gar nicht den ganzen Film anzusehen. Schauen Sie nur den dreiminütigen Trailer auf der Startseite an. Was haben Sie jetzt als erstes gedacht? Ich vermute folgendes: „Oh je, das wird schlimm.“ oder „Nicht jetzt, später“. Sie wissen also genau, dass Sie ein Horrorfilm erwartet. Warum wissen Sie das? Weil Sie schon jetzt sehr gut Bescheid wissen über das, was Massentierhaltung und industrielles Schlachten bedeuten. Eigentlich brauchen weder Sie noch ich „Earthlings“ ansehen noch Jonathan Safran Foers neues Buch „Tiere Essen“ lesen. Wir wissen alles, was wir wissen müssen. Warum werden Sie dann kein Vegetarier? Oder als Vegetarier kein Aktivist für Tierschutz oder Tierrechte? Warum handeln Sie nicht? Ich glaube zu wissen, was Sie denken. Ich mache nämlich dasselbe: Wir haben die Tiere vergessen. Genau deswegen sollten wir den kurzen Film vielleicht doch sehen und vor allem Foers Buch lesen. Die Antwort auf die Frage „Tiere essen?“ führt bei Foer konsequent zu einer Selbstbefragung: „Wie lebe ich?“, „Wie möchte ich eigentlich leben?“, „Wie kann ich leben?“, weit weg von sich treiben lassen, vom Mitmachen und sich Einlullen (lassen).
Auf eine ziemlich anstrengende und ermutigende Art geht es um Ehrlichkeit gegenüber sich selbst. Dieser Stresstest ist es wert, sich ihm auszusetzen, weil er so wahnsinnig wichtig ist für unser eigenes Leben, für das der Tiere, für alles, was wir über uns selbst denken, und deswegen auch für die Zukunft auf diesem Planeten. Das wird einem natürlich leicht zuviel. Von seiner ersten vegetarischen Aufklärung erzählt Foer: „An diesem Punkt musste ich mein Leben ändern. Absatz Und änderte es nicht.“ 25 Jahre hat er gebraucht, um Vegetarier zu werden. Deshalb kann Foer höchst einleuchtend erklären, wie das Ignorieren der schlichten Wahrheit über die Fleischindustrie und unser Essen funktioniert. Seine Erkenntnis: Grausam zu sein ist viel leichter, als man sich vorstellen kann.
Mit seinem Buch hat er das Unsichtbare wieder sichtbar gemacht: Er ist nachts in riesige Geflügelfarmen eingestiegen, er hat mit Schlachthof-Arbeitern gesprochen, mit Farmern, er liefert die aktuellen, unfassbaren Zahlen aus den USA und erklärt den Zusammenhang von unseren Krankheiten und Massentierhaltung. Er zeigt die Umweltzerstörung und argumentiert klar, dass die Hunger- und rinkwasserprobleme in der Welt nicht unabhängig vom Fleischkonsum existieren. Alle seine Aussagen kann er belegen und tut es im ausführlichen Anhang. 21.000 Tiere sterben, um einen durchschnittlichen Amerikaner sein Leben lang zu ernähren. Dabei ist es nicht nur wichtig zu wissen, dass diese Tiere geschlachtet werden,sondern auch wie sie geschlachtet werden. Ich habe die Seiten gezählt bis zum Ende des Kapitels – es geht hier um die Scham, ein Mensch zu sein: „Wir haben das Schlachten, wir haben den Krieg gewählt. Das ist die wahrste Version unserer Geschichte des Essens von Tieren! (…) Normalerweise läuft es so: Wenn die Innereien der Kuh auf den Untersuchungstisch fallen, gehen die Arbeiter hin, reißen die Gebärmutter auf und holen das Kalb raus. Es ist ganz normal, so eine Kuh vor sich hängen zu haben und das Kalb drinnen treten zu sehen, weil es rauswill. Diese Kälber werden ‘Glitscher’ genannt“.
Wie viel Leiden akzeptieren wir für unser Essen? Es geht nicht vor allem um unsere Unwissenheit, sondern um unsere Gleichgültigkeit. Wir sind verantwortlich. Das Buch ist deswegen so verstörend, weil es nicht bei der Entscheidung haltmacht, eventuell persönlich kein Fleisch mehr zu essen. „Die wichtigere Seite einer moralischen Erkenntnis ist das Handeln“. Foer macht uns zu Aktivisten. Im guten wie im schlechten Sinne. Wir kommen nicht aus. Was essen wir, wem geben wir das Geld für unser Essen, wer ist dafür verantwortlich, dass 99% des Fleisches aus der Massentierhaltung stammen (USA), warum kauft Kentucky Fried Chicken 850 Millionen Hühner im Jahr, mit wem teilen wir unser Wissen, über was reden wir beim Essen? Essen ist nicht rational. Essen sei Kultur, Gewohnheit und dentität, schreibt Foer am Ende. Doch welche Identität wollen wir haben? Das „Iss nicht unbesorgt“ von Foer ist keine Drohung, sondern die Befreiung von einem täglichen Albtraum. Auf dem Weg in die Redaktion kam ich gerade an einer Metzgerei vorbei. Im Fenster steht: Münchener Weisswürste – vorwiegend aus Kalbsfleisch(sic!) hergestellt, Berliner Zungenwurst – schlachtfrisch verarbeitet. Ich weiß genau, was das bedeutet. Was mache ich jetzt?
„Tiere essen“ von Jonathan Safran Foer (Kiepenheuer & Witsch, 19,95 Euro)