Interview: Lalleshvari & Vilas Turske

In Unterschieden vereint

Das bekannte Lehrerpaar Lalleshvari und Vilas Turske unterrichtet mit Leidenschaft lebensbejahendes Anusara Yoga, welches tief in der tantrischen Philosophie verwurzelt ist. Diese geht davon aus, dass all es, was uns in der Welt begegnet, eine Verkörperung des höchsten Bewusstseins ist.

All es im Universum ist intrinsisch gut, sagt Anusara Yoga. Im Interview offenbaren Lalleshvari und Vilas einen positiven, wenngleich durchaus kritischen Blick auf Tantra im Westen. Sie bezeichnen den sogenannten „Neo-Tantrismus“ als neue Version tantrischer Philosophie – mit indischen Wurzeln, aber von einem westlichen Geist durchdacht.

YOGA JOURNAL: Im Anusara Yoga geht es spürbar um die tantrische Philosophie. Was am Yoga ist tantrisch?
L.T .: Zunächst geht man im Tantra davon aus, dass keinerlei Unterschiede existieren. Das ist gerade im indischen Kontext, wo das komplexe Kastensystem das soziale Gefüge bestimmt, sehr provokant. Außerdem existiert dort bis heute ein großer Unterschied zwischen Mann und Frau, wie man der Presse kürzlich wieder entnehmen konnte. Das kann man mit unserer Soziokultur absolut nicht vergleichen. Da ist der tantrische Ansatz in seiner Historie natürlich extrem: Alles hat seine Güte, alles ist ursprünglich gut – auch wir Menschen, so unterschiedlich wir durch unsere Herkunft oder Erziehung sein mögen. Im Yoga gibt es einfach keinen Unterschied. Und das war evolutionär; ich möchte es nicht „revolutionär“ nennen, weil die Tantriker nicht gekämpft haben. Sie waren vielmehr davon überzeugt, dass ihr Ansatz aus dem Vedanta kommt und sich ganz natürlich daraus entwickelt hat.

Ist der tantrische Ansatz auch für uns Westler eine natürliche Entwicklung?
L.T .: Für uns im Westen ist die gesamte indische Denkweise erst einmal nur schwer nachvollziehbar, weil wir einen großen Demokratieanspruch besitzen. Deshalb ist ein Guru für uns auch nicht mehr einfach ein Guru. Das ist allerdings kein Tantra, denn Tantra hat immer den Guru als denjenigen anerkannt, der Erleuchtung erfahren hat und in ihr verweilt, um anderen zu helfen. Die immer wiederkehrende Lebensaufgabe des Gurus ist es, zu helfen. Damit die Menschheit frei wird, braucht es einen Guru. Vilas und ich denken, dass die tantrische Philosophie hier vielleicht am besten vermittelt wird, wenn wir zunächst zeigen, dass wir in Unterschieden vereint sind. Vilas und ich sagen auch im Unterricht ab und an Dinge, die nicht unbedingt kongruent sind. Wir haben beide das Recht, uns zu exponieren. Wir zeigen auch im Unterricht: Ich habe deine Energie verstanden, aber ich habe meine Energie. Vilas schaut mich an, versteht meine Energie – und das ist dieses „ParApara“, das Vereint-Sein in Unterschieden. Das ist etwas ganz Tantrisches und so möchten wir das umsetzen.

Vilas, was ist für dich der bedeutendste Aspekt am Tantra?
V.T.: Was für mich so wichtig ist, ist die Vorstellung, dass das Universum erst einmal intrinsisch gut ist. Natürlich gibt es Saukerle und natürlich haben wir alle schlechte Erfahrungen gemacht; das ändert aber nichts an dem großen Bild des Guten. Selbst eine Zeitspanne von 20 Jahren und schlimmste Diktaturen sind historisch gesehen nicht mehr als ein Wimpernschlag. Seitdem ich das so sehen kann, habe ich nicht mehr die Idee von Unter- oder Überlegenheit. Ich muss den Schülern nichts beibringen, weil ich der Lehrer bin. Eigentlich brauche ich kein Lehrer zu sein. Ich möchte einfach Dinge mit den Schülern teilen, von denen ich glaube, dass sie für sie interessant sind. Aber ich muss mich nicht mehr abgrenzen. Das leben Lalla und ich. Das bestimmt unseren Alltag – mit seinen Krisen und allem, was zum Leben dazugehört. Ich habe stark den Eindruck, dass der Umgang mit der tantrischen Philosophie viel verändert – und das ist wirklich das Grundbewusstsein von einem durchtränkten Gutsein. Wenn ich erwache, lasse ich zunächst alles geschehen, indem ich mir sage: Ich bin eingebettet in ein System, das für mich sehr bedeutend ist, das will, dass ich lebe. Es beatmet mich, ich werde beatmet, ich bin da. Aber ich hab es nicht unter Kontrolle.

Ist es auf dem tantrischen Weg wichtig, diese Demut und Hingabe alltäglich zu erfahren und sich eben nicht aus dem Leben in die Einsamkeit der Höhle zurückzuziehen?
L.T.: Ja, unbedingt. Man spürt es an den ganz kleinen Beispielen, die einen viel lehren. Wenn ich etwa im Bus angerempelt oder beschimpft werde, was in einer harten Stadt wie Berlin oft passiert, ist bei mir heute der Impuls, irgendetwas zurückzuschnauzen, total weg. Ich erkenne eher, dass der andere gerade jetzt auch sein Bestes gibt. Er kann nicht anders. Das ist okay. Und das ist schon sehr tantrisch. Ich muss mich hierbei auch gar nicht zurücknehmen; versteht mich richtig, ich denke mir nicht, ich müsste hier die Gute sein. Gar nicht, ich schau’ einfach nur gut hin. Und das lehrt ganz viel.

Im Vorgespräch meintet ihr, dass es so viele Missverständnisse in Bezug auf Anusara Yoga und Tantrismus gäbe, über die ihr gerne aufklären würdet. Könnt ihr Beispiele nennen?
V. T.: Also erst einmal ist Tantra ja schon in der indischen Kultur höchst umstritten. Es hat sich nie als philosophische Richtung etabliert, von der die Menschen glauben, dass sie wirklich einen wesentlichen Beitrag zu ihrer heutigen asiatischen Lebensweise leisten würde. Ich glaube, das liegt zum großen Teil daran, dass die Vorstellung vom Gleichsein sehr missverständlich ist. Da kommt dann plötzlich einer, der diese scheinbare Gleichheit für sich ausnutzt und wieder ein Nicht-Gleichsein daraus macht – vielleicht sogar, ohne es zu merken. Gelangt nun eine solch komplexe Philosophie in den Westen, wo ein völlig anderes Philosophieverständnis als in Indien herrscht, können wir vielleicht erahnen, keinesfalls aber begreifen, was sie bedeutet. Wir laufen meiner Meinung nach Gefahr, dass Pseudo-Tantriker anfangen, die einzelnen Bereiche von scheinbarer Freiheit für sich herauszupicken und daraus eine Kultur zu machen – und das hat absolut gar nichts mehr mit Tantra zu tun. Ich glaube wirklich, der tantrische Weg ist ein Weg, den man gehen muss. Auf diesem Weg braucht man seinen Lehrer und man muss Schüler sein. Man muss demütig sein und sich ständig hinterfragen. Und diese ganzen sexuellen Referenzen, die ins Kamasutra zurück entwickelt werden und überhaupt nichts mit Tantra zu tun haben, sind schlicht und ergreifend eine westliche Fehlinterpretation. Die werden von Millionen von Menschen – und ich glaube, das kann man in dieser Größenordnung sagen – ausgenutzt, um ihre eigene Philosophie daraus zu machen. Aber Tantra ist ein viel ernsthafterer, ein viel tieferer Weg, der wirklich ganz große Leistungen gebracht hat, indem er in Indien ein limitierendes Gesellschaftssystem in der praktischen Durchführung aufgelöst hat. Tantra ist ein befreiender Weg, wahrscheinlich aber auch der anspruchsvollste und anstrengendste, den man überhaupt gehen kann.

Wie zeigt sich das mitten im Leben?
V.T.: Wir erleben das regelmäßig in unserer Ausbildung, wo wir ja nichts vorgeben. Wir sagen einfach nur: Mach’ das, wie und wann du willst. Das geht fast nicht. Man kann sich nicht vorstellen, wie schlecht die Leute mit dieser Freiheit umgehen können. Nur weil jemand alles Mögliche getan hat, ist er noch lange kein Lehrer. Man merkt, wenn man Lehrer ist. Aber die Leute wollen Regeln, Limitierungen und Festlegungen. Aber dann ist der Unterricht keinesfalls tantrisch, weil er in einem scheinbaren Gefüge von Freiheit stattfindet, die gar nicht existiert. Tantra umarmt das Leben und der Tantriker schöpft aus der Fülle. Er hat Freude am Leben, weil er genau weiß, dass er alles genießen kann, aber nicht muss. Und da sind wir schon wieder bei den Freiräumen: Im Sinne des Ursprungsgedankens werden Freiräume zum Beispiel im Bereich der Sexualität auch ausgenutzt. Letztlich wird nur auf Frustrationen eingegangen, die die Menschen anderweitig befriedigen wollen – durch einen scheinbar freien Raum. Das ist wirklich ein Missbrauch von einem Freiheitsgefühl.

Was versteht ihr unter Neo-Tantrismus?
V. T .: Indem Tantra mehr und mehr im Westen ankommt, entsteht etwas Neues – eine neue Version. Zwar hat sie ihre Wurzeln dort, wo Tantra ursprünglich herkommt, ist jedoch trotzdem eine völlig neue Version. Die „neue“ tantrische Philosophie fängt bei Ken Wilber und anderen wunderbaren Denkern an, die weit ins Vedanta, aber auch ins Tantra hineingehen. Und man spürt bei manchen Aspekten einfach, dass teilweise so gedacht wird, wie nur ein westlicher Geist denken kann. Dennoch glaube ich, dass auch sie alle Tantriker sind. Ich empfinde es als positiv, dass etwas Neues entsteht, denn so, wie wir hier im Westen leben und wie wir unseren Unterricht gestalten, wäre es in Asien gar nicht möglich. Das ist dort vielerorts unvorstellbar. Und trotzdem bin ich davon überzeugt, dass wir unsere Verwurzelung in der tantrischen Philosophie haben – es ist das, was wir tun. Alles basiert darauf. Es entwickelt sich weiter, ja – und das ist gut so.

Lalleshvari und Vilas Turske haben maßgeblich dazu beigetragen, dass sich Anusara Yoga in Deutschland etabliert hat. Informationen zu Ihrem Unterrichts-, Ausbildungs- und Retreatangebot unter: www.para-apara.de

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