Love-Special: Interview // Veit Lindau

Liebe deinen Nächsten – und dich selbst

Keine Wohlfühlmaßnahme, sondern radikale Lebenskunst: In seinem Buch „Heirate dich selbst“ beschreibt der Autor und Coach Veit Lindau die Selbstliebe als „aktiven Umweltschutz“ und Weg zu wahrer Größe. Denn wie können wir vom Partner etwas erwarten, das wir uns eventuell selbst nicht zugestehen?

Anderen Menschen zu dienen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Um dies erfolgreich tun zu können, muss man allerdings zuerst sich selbst Liebe, Zeit, Aufmerksamkeit und Mitgefühl schenken. Denn ist der eigene Akku leer, ist es kein Egoismus, sondern eine Handlung der Selbstliebe, erst einmal für sich selbst zu sorgen. Ein integraler Ansatz von Selbstliebe, wie ihn Veit Lindau in seinem Buch „Heirate dich selbst“ vertritt, schließt die Integration unserer Schattenseiten mit ein. Dazu gehört, Frieden mit den eigenen Schwächen zu schließen und mit dem Üben von Liebe und Mitgefühl zunächst bei uns selbst zu beginnen. Ansonsten wechseln wir lediglich das Schlachtfeld: An die Stelle des Kampfes um materielle Güter und den beruflichen Aufstieg in der Leistungsgesellschaft tritt ein spirituelles Ideal. Durch Yoga wollen wir immer liebevoller, freier und besser gelaunt werden. In solch einer Welt der Wohlfühl-Spiritualität haben negative Gefühle keinen Platz. Angst, Trauer, Ohnmacht und Schmerz, die uns mehr über uns selbst lehren können als manche angesagte Yogastunde, werden einfach verdrängt. Das kann auf Dauer nicht gutgehen. Die Unfähigkeit, einen authentischen Kontakt zu den eigenen Emotionen herzustellen, bringt uns dazu, unsere eigenen Schattenseiten auf andere zu projizieren. Und wir wundern uns darüber, warum es unserem Beziehungspartner, dem Arbeitskollegen oder Schüler immer wieder so gut gelingt, den Finger in unsere Wunden zu legen. Im Yoga heißt die Fähigkeit der Innenschau „Swadhyaya“. Sie ist die Voraussetzung für echte Selbstliebe. Sie bezeichnet die Fähigkeit, einen aufrichtigen Kontakt zu sich selbst herzustellen, in sich hineinzuspüren und sich zu fragen: Was will ich wirklich? Indem wir Dinge nicht automatisch tun, weil wir es so gewohnt sind, sondern uns bewusst für oder gegen etwas entscheiden, üben wir Selbstliebe. Durch die vielen kleinen Handlungen des Alltags erschaffen wir unser eigenes Leben. Je präsenter wir dabei sind, desto mehr wird dies unseren eigenen Werten und Vorstellungen entsprechen.

YOGA JOURNAL: Was hat dich inspiriert, das Buch „Heirate dich selbst“ zu schreiben?
VEIT LINDAU: Primär meine eigene Erfahrung. Ich habe irgendwann festgestellt, dass zu meinem Glück nichts fehlte. Alles war und ist da. Doch vor dieser Erkenntnis stand mir immer etwas im Weg: ein tiefer, raffiniert verborgener Selbsthass. Der hatte all die schönen Momente, Wege, Methoden vergiftet, die ich bis dahin erlebt habe – Sex, Meditation oder auch Yoga. Ich erfuhr einfach alles, was ich tat, mit einer unglaublichen Härte. Selbst das Backen eines Kuchens wurde zur Bewährungsprobe. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen – das habe ich nie infrage gestellt. Erst das Leid, dann die Erlösung … Bis ich irgendwann feststellte, dass diese Härte im Grunde genommen nichts weiter war als die Abwesenheit von Liebe. Dadurch habe ich es auch meinen Mitmenschen sehr schwer mit mir gemacht, insbesondere denen, mit denen ich nah zusammen war.

Was genau verbirgt sich hinter dem Titel?
Dazu muss ich sagen, dass ich mit Heirat etwas stark Positives assoziiere, weil ich durch die Ehe mit meiner Frau sehr viel Heilung und paradoxerweise auch Freiheit gefunden habe. Heiraten ist für mich nicht an den staatlichen Akt gebunden. Es ist eine Form von heiligem Commitment. Ich finde es unfair, wenn wir mit der Erwartung in eine Beziehung gehen, vom Partner etwas zu bekommen, was wir uns selbst oft nicht geben. Wir lehnen beispielsweise bestimmte Aspekte an uns ab, erwarten aber, dass der andere sie annimmt. Wir verraten uns selbst, lassen uns im Stich und fordern vom anderen ewige Treue. Das ist absurd. Fairer ist es, sich selbst zuerst aufrichtig und bedingungslos zu heiraten – zuerst diese tiefe Verbindung mit sich selbst einzugehen, bevor man sich jemand anderem zumutet.

Welche Missverständnisse treten beim Thema Selbstliebe häufig auf?
Eines der häufigsten Missverständnisse ist, dass Selbstliebe mit Sich-gut-Fühlen gleichgesetzt wird. Dafür werden auch viele spirituelle Konzepte missbraucht. Selbstliebe geht über Wohlfühlambitionen hinaus. Es ist eine radikale Lebenskunst, sich wirklich zu verstehen, sich optimal zu entfalten und der Welt konkret zu schenken. Manche Menschen in der spirituellen Szene werfen gerne mit Plattitüden um sich wie „Alles ist Liebe“, „Alles ist im Fluss“ oder „Alles ist eine Illusion“. Oft haben sie sich jedoch nicht die Zeit genommen, sich intensiv und genau mit bestimmten Kernfragen auseinanderzusetzen: Was ist denn dieses Ego wirklich, auf dem alle so gerne herumhauen und versuchen, es loszuwerden? Oder was sind denn meine genauen Werte – was verstehe ich unter Freiheit, was verstehe ich unter Erleuchtung und praktiziere ich das tatsächlich?

Nehmen wir mal das Ego: Was unterscheidet Egoismus von Selbstliebe?
Ich würde sagen, es ist der Grad der Bewusstheit. Ich halte Egoismus für eine völlig gesunde Phase in unserer Entwicklung. Ich bin überzeugt davon, dass ein Kind, das ungestört die Phase des Egoismus durchleben kann, irgendwann die Phasen der Ethnozentrik, der Weltzentrik und sogar der Transzendenz entwickelt. Gibt es hier Störungen, kann jedoch das passieren, was Ken Wilber als die Prä-/Trans-Verwechslung beschreibt: Wir versuchen etwas zu transzendieren, was wir noch nie hatten. Wenn ich beispielsweise in den frühen Phasen meines Lebens den Wert von Regeln nicht erkannt habe, weil ich nicht natürlich und angemessen an sie herangeführt wurde, kann es sein, dass ich später spirituelle Konzepte benutze, um zu begründen, dass Regeln nichts wert sind. Doch letzten Endes bin ich nichts anderes als ein unreifes Kind in einem erwachsenen Körper, das schlaue Floskeln benutzt, um zu tun, was es will. In dem ich mir vormache, reifer zu sein, als ich bin, blockiere ich meine Entwicklung. Bildhaft gesprochen: Der Erstklässler, der der Meinung ist, er gehöre in die Abiturklasse, schafft jede Menge Konfusion für sich und sein Umfeld. Integrität des Bewusstseins bedeutet für mich, die Schulklasse der Evolution, in die ich wirklich gehöre, in Frieden annehmen zu können. So bedeutet radikale Selbstliebe eben nicht, immer das zu tun, was ich tun will oder was sich gut anfühlt, sondern das Angemessenste.

Wie kann ich Klarheit erlangen, um nicht in diese Falle zu tappen?
Ich glaube, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss. Auch ich habe Phasen erlebt, in denen ich mich für erleuchtet gehalten habe, nur weil ich einige gnadenvolle Einblicke in die Vollkommenheit des Lebens geschenkt bekam. Irgendwann musste ich – widerwillig und peinlich berührt – realisieren, dass ich meine irdischen Hausaufgaben noch nicht erledigt hatte. Dieses Erwachen hat wehgetan, aber es hat mir auch Boden unter den geistigen Füßen gegeben. Es waren meine weltlichen Probleme, die mich gnadenlos darauf hinwiesen, dass etwas nicht stimmte: Beziehungsprobleme, finanzielle Schwierigkeiten – die üblichen Zen-Meister! Lange Zeit dachte ich, dass ich all diese Probleme habe, weil die Welt noch nicht so weit ist, wie ich mit meinen Idealen. Das war ein guter Witz. Irgendwann holt dich dein Schatten ein und dir dämmert: All diese nervenden Hindernisse wollen dir nichts Schlechtes. Sie weisen dich auf etwas hin.

Welche Rolle spielten dabei deine Beziehungen?
Eine sehr wichtige. Ich kann nur jedem Menschen empfehlen: Wenn du es ernst meinst mit spiritueller Transformation, mache deine engsten Beziehungen zu Prüfsteinen für deine wahre Reife. In alten Traditionen lief das deshalb so: Wenn du als 25-jähriger Mann zu einem spirituellen Meister kamst, hat er dich nicht unterrichtet, sondern abgewiesen – mit dem freundlichen Ratschlag, erst einen Job zu finden, eine Frau zu heiraten und Kinder großzuziehen. Das ist die Phase, in der wir das Ego klären, festigen, reinigen. Es ist die Phase der Verantwortung. Wenn wir versuchen, das zu überspringen, erinnert uns die Welt bis zu unserem Lebensende schmerzhaft daran, dass etwas nicht stimmt. Ich kenne 60-jährige Männer, die sich immer noch weigern, erwachsen zu werden. Das ist manchmal komisch, aber oft traurig anzusehen.

Was ist unter den praktischen Übungen, die du deinen Lesern in „Heirate dich selbst“ empfiehlst, deine Lieblingsübung zum Thema Selbstliebe?
Bei vielen Indianerstämmen in Nordamerika gab es die Tradition, sich vorzustellen, der Tod säße einem permanent auf der linken Schulter. In jedem Augenblick des Lebens kann man seinen Tod fragen: „Was ist jetzt die beste, kraftvollste Art, diesen Moment zu verbringen?“ Seit ich zwölf war, ist der Tod zu einem kostbaren und vitalen Lebensberater für mich geworden. Wenn ich mich dabei ertappe, dass ich verkrampfe – zum Beispiel, weil ich einen Fehler gemacht habe – dann erinnere ich mich an diese Übung. Ich frage meinen Tod: „Was ist die beste Art, damit umzugehen?“ Und sogleich sehe ich die Dinge aus einer nüchternen und übergeordneten Perspektive. Es wird sofort klar, wie absurd es ist, sich angesichts seines Todes damit zu stressen, nicht vollkommen zu sein, ein paar Pfund zu viel auf den Hüften zu haben oder gerade eine Niederlage eingefahren zu haben. Diese Perspektive führt mich automatisch in einen Zustand von Entspannung und Selbstfreundlichkeit. Das bedeutet nicht, dass angesichts des Todes alles egal wird. Doch es wird absolut klar, um was es wirklich, wirklich geht: auf eine entspannte und freundliche Weise deine beste Version in der Gegenwart zu leben.

Mehr Informationen zu Veit Lindau und seiner Arbeit gibt es unter www.veitlindau.com und
www.heirate-dich-selbst.de.
Sein Buch „Heirate dich selbst“ ist 2013 im Kailash Verlag erschienen.

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