Bedeutet Hingabe ans Leben, dass wir unseren Verpflichtungen nachkommen, alle Bälle in der Luft halten und vollen Einsatz bringen sollten? Unsere Expertin für Yogaphilosophie im Alltag hält das für ein grobes Missverständnis. Sie ermutigt zu täglichen kleinen Hingabe-Übungen, die vor allem eins bewirken: Erholung im Hier und Jetzt.
Text: Rina Deshpande / Titelbild: Elena Nikonova von Getty Images via Canva
In “surrender“, dem gebräuchlichsten englischen Wort für das, was wir im deutschen Yoga mit “Hingabe” beschreiben, schwang für mich lange Zeit eine Geste der Unterwerfung mit: die Schlachten sind gekämpft und nach großen Anstrengungen, Schmerzen und Verlusten bleibt nur noch eines: loslassen und sich ergeben. Auch die deutschen Begriffe “Ergebung” und “Hingabe” wurden historisch oft mit Niederlage oder Unterordnung gleichgesetzt. Diese westliche Prägung verfälscht die Bedeutung dessen, was wir im Yoga unter Hingabe verstehen, erheblich. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ich das Konzept “Hingabe” in meinem eigenen Leben und Üben eher in Form häufigerer, rhythmisch wiederkehrender Praktiken erforscht habe.
Im Hamsterrad
Engagierte, inspirierte Menschen sind es gewohnt, nach vorn zu schauen, immer neue Projekte anzustoßen und voranzutreiben, soziale Meilensteine zu setzen und sich Lob und Auszeichnungen zu erwerben. Körper und Geist entwickeln sich dabei weiter und gewinnen an Kraft, aber wenn wir uns nicht genügend Raum lassen, entstehen bei dieser Art von persönlicher Entwicklung oft auch Spannungen.
Ich habe das selbst so erlebt: Seit ich 18 Jahre alt war, habe ich selbst für meinen Lebensunterhalt gesorgt. Zwischen 9 Uhr abends und 1 Uhr früh arbeitete ich in einem Studenten-Zentrum, während ich tagsüber an der Uni Leistung bringen musste, um mein Stipendium nicht zu verlieren. Nach meinem Abschluss habe ich mich sogar noch mehr reingehängt. Ich bereue all das nicht, ich habe dabei viele sinnvolle Dinge gelernt und getan, aber es gab auch immer wieder Phasen,wo der Stress sehr ungute Formen annahm. Und obwohl ich willentlich nicht loslassen und mich ergeben wollte: Mein Körper forderte es ein und erzwang eine Art von Hingabe, mit der ich alles andere als einverstanden war – ich wurde immer wieder krank.
Warum läuft das so? Warum machen wir nicht ganz einfach öfter mal Pause? Soziale Normen, Erziehung und die moderne Technologie sind einige der Gründe dafür. Als Kind und Jugendliche habe ich in meinem Elternhaus und in der Schule gelernt, dass ich das Leben erst genießen darf, nachdem ich meine Hausaufgaben und andere Pflichten erledigt hatte. Das hat natürlich einen gewissen Wert, ich habe mir zum Beispiel nie angewöhnt zu prokrastinieren und dann in Last-Minute-Arbeiten zu versinken.
“Wenn wir uns hingeben, verlieren wir nicht die Kontrolle. Vielmehr geben wir die Illusion auf, das Leben kontrollieren zu können.”
Zugleich hat sich aber die Vorstellung bei mir eingebrannt, dass Ruhe und Entspannung nur dann stattfinden dürfen, wenn wirklich alle Arbeit getan ist. Das mag für kleinere Kinder, deren Pflichten in der Regel überschaubar sind, noch sinnvoll sein, aber schon als junge Erwachsene hatten sich bei mir eine Menge Verantwortungen angesammelt: Studium, Nebenjob, meine Wohnung mitsamt der zu bezahlenden Rechnungen und dem Haushalt … Die Momente, wo alle Pflichten erledigt sind, wurden schlicht immer seltener.
Ein weiterer Faktor ist die moderne Kommunikationstechnologie, die auf verschiedenen Ebenen Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit und -Performance einfordert. Sogar Freizeit und Urlaub sollen auf eine gewisse Art in den sozialen Medien “vorzeigbar” sein – und entwickeln sich dann häufig zum genauen Gegenteil von Rückzug und Erholung. Bei mir führte dieser Mix aus Erziehung und digitaler Vernetzung dazu, dass ich ständig am Rotieren war und meine gesamte Energie aufwenden musste, um in diesem Hamsterrad zu bestehen. Irgendwann wurde mir klar, dass das eine ziemlich verquere Form von Hingabe ist. Und je mehr ich unterrichte und forsche, desto deutlicher sehe ich diese erschöpfenden Muster auch bei meinen Mitmenschen.
Leben heißt: Rhythmus
Ein weiterer Grund, warum wir die Zügel des Lebens oft nicht loslassen können und uns dem, was ist, hingeben, liegt in der Furcht vor Kontrollverlust, vor allem dann, wenn wir so motiviert und engagiert sind, wie ich es beschrieben habe. Wenn wir täglich mit so vielen Bällen jonglieren – die Familie unterstützen, im Job vorankommen, die Rechnungen zahlen, ein Essen auf den Tisch bringen – was passiert dann, wenn wir auf einmal loslassen? Fallen uns all die Jonglierbälle dann nicht auf den Kopf? Genau aus diesem Grund empfehle ich, Hingabe weder als vollen Einsatz noch als Praxis des Loslassens zu sehen, sondern als eine fortwährende, rhythmische Praxis, die wir jeden Tag in vielen kleinen Momenten üben.
Genau das gibt uns nämlich schon unser Herzrhythmus vor: Das Herz von Menschen und Tieren ist, einer wunderbaren, universellen Intelligenz folgend, so programmiert, dass es nach jeder Systole (Kontraktion und Pumpbewegung) eine Diastole (Entspannung und Rückfluss) erlaubt. Diese Begriffe aus der Herzmedizin beschreiben etwas, das in jedem von uns ein Leben lang, Tag und Nacht abläuft: Die Herzkammern müssen ebenso sehr erschlaffen und sich mit Blut anfüllen, wie sie sich zusammenziehen und das Blut weiterpumpen müssen. Folgen sie diesem Muster nicht, wird es schnell lebensbedrohlich. Eigentlich ist es überall so: Auch der Mond nimmt unaufhörlich zu und dann wieder ab, auf Flut folgt Ebbe, wir atmen ein und aus, wir treiben Dinge voran und lassen sie auch wieder los – es ist ganz einfach der Rhythmus der universellen Lebenskraft.
Und damit kommen wir zum Yoga. Ich habe es mir zu Aufgabe gemacht, eine Brücke zu bauen zwischen den alten Lehren des Yoga, mit denen ich als indischstämmige US-Amerikanerin aufgewachsen bin, und der modernen westlichen Kultur und Wissenschaft. Daher weiß ich: Es ist zwar schwierig, alte Gewohnheiten abzulegen und neue einzuüben, aber die modernen Erkenntnisse der Neuroplastizität beweisen, dass es alles andere als unmöglich ist: Wir können immer umlernen. Lasst uns also neu definieren, was es bedeutet, sich dem Leben hinzugeben, lasst uns erforschen, was wir dabei entdecken und gewinnen können, wenn wir Hingabe nicht als “vollen Einsatz” verstehen, sondern in kleinen, rhythmischen Übungen praktizieren, die uns durch unseren Alltag begleiten.
Yogische Hingabe
In der Philosophie des Yoga bedeutet Hingabe eine alte, sehr nützliche Praxis von Loslassen, Akzeptanz und Ruhe. Das kann zum Beispiel die Form eines Ruhens in friedlicher Präsenz annehmen, wie sie die Bhagavad Gita beschreibt:
“Gib dich Ihm mit deinem ganzen Sein hin, Arjuna, Sohn des Bharat.
(Bhagavad Gita, Kapitel 18 Vers 62, 62, übersetzt nach der englischen Übersetzung auf: holy-bhagavad-gita.org)
Dank Seiner Gnade wirst du reinen, ewigen Frieden erlangen.“
Nach hinduistischem Verständnis ist Yoga eine spirituelle Praxis. Das bedeutet: Wenn wir uns hingeben, verlieren wir nicht die Kontrolle. Vielmehr geben wir die Illusion auf, das Leben überhaupt kontrollieren zu können. Stattdessen üben wir uns darin, in Gott oder anders gesagt in eine universelle, höhere Kraft zu vertrauen. So wie das Herz darauf vertraut, dass auf jede Kontraktion eine Entspannung folgt, die es wieder mit frischem Blut füllen wird. Aufs Leben übertragen bedeutet das, dass wir uns zwar ernsthaft bemühen und unser Bestes geben, uns zugleich aber immer wieder daran erinnern, dass da noch eine viel größere Macht am Werk ist. Mit anderen Worten: Hingabe zu üben bedeutet, Bescheidenheit zu üben.
In dieser Zweiheit von Anstrengung und Loslassen liegen auch große Vorzüge für Körper und Geist. Denn auch wenn wir es uns oft nicht eingestehen wollen: Wir brauchen Phasen der Ruhe, des Loslassens und Abwartens. In Phasen des Stillhaltens können wir – zum Beispiel nach einem Knochenbruch – regenerieren und heilen. Nur so werden wir die Stabilität finden, die wir brauchen, um uns für neue Erfahrungen zu öffnen. Während ich diese letzten Sätze schreibe, wird mir klar, dass ich schon eine ziemlich lange Zeit an meinem Schreibtisch sitze und konzentriert arbeite. Bevor ich mir meinen Text noch einmal durchlese und an ihm feile, werde ich also meinen eigenen Ratschlägen folgen: Ich lasse erst mal wieder los, gebe mich ganz der Gegenwart hin und bin präsent. Nach dieser Pause geht es mit neuer Frische weiter …
Rina Deshpande lehrt, erforscht und schreibt seit über 15 Jahren über Yoga und Achtsamkeit. Ihre Artikel erschienen bei uns, Huffington Post, Self Magazine und vielen anderen. Außerdem hat sie 2022 ein Kinderbuch verfasst und selbst illustriert: “Yoga Nidra Lullaby“. Erfahre mehr über Rina und besuche sie auf ihrer Website oder ihrem Instagram-Account @rinathepoet
In diesem Artikel von Rina Deshpande erfährst du, warum es auch gut ist, ab und an seine Sinne zurückzuziehen:
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