Aufräumen und Aufatmen: In bewusster Absicht Ordnung meistern, kann eine befreiende Übung sein, bei der du inneren Frieden wiederfindest – und endlich auch deine Autoschlüssel.
Die Yogalehrerin Catherine Crocket war eine Staplerin. Wichtige Papiere legte sie zur Seite und ignorierte ungeöffnete Post. Obwohl sie dort jeden Morgen meditiert. Jahrelang gelang es ihr, das Durcheinander auszublenden. Doch als ihre Ehe zerbrach, geriet das Chaos außer Kontrolle. Sie fand nichts mehr, hielt Verabredungen nicht ein und konnte sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren. “Es war überwältigend und verwirrend”, sagt Crocket. “Ich stand morgens auf, wollte meine Yogaübungen machen und dann sah ich all die Sachen. Irgendwie hielten mich die vielen Stapel davon ab, die Zeit des Tages zu genießen, die ich eigentlich für mich selbst vorgesehen hatte.”
Nach einiger Zeit war auch ihr für Yoga und Meditation reservierter Raum von Papierbergen versperrt und es erschien ihr unmöglich, sich durch diese Stapel hindurchzuarbeiten. Wie sollte sie sich ihren Weg zurück auf die Matte bahnen? Die Antwort war eine spirituelle Erfahrung. Das erleichternde Gefühl, das mit Aufräumen, Rauswerfen und Ordnung meistern verbunden ist. Doch was hat Ordnung mit Spiritualität zu tun? Wie sich herausstellte, ziemlich viel.
Der Mehrwert von Ordnung
“Im Äußeren aufzuräumen, hilft dabei, auch innerlich Ordnung zu schaffen”, sagt Jeanne Deignan-Kosmides, Organisationsberaterin und Kripalu-Yogalehrerin aus Baltimore. Sie ist sich sicher: “Ordnung meistern, sorgt für einen klaren Kopf und schafft Platz”. Auf dem Yogaweg und für alle anderen Dinge, auf die man sich konzentrieren will. Im Grunde ist Ordnung ein essenzieller Teil der spirituellen Lebensweise. Ebenso wie Yoga den Geist zentriert, sorgt auch Ordnung in der Umgebung für eine neue Ebene an Klarheit, Bedeutung und Effektivität. Im gesamten Leben und nicht nur auf dem Schreibtisch.
Beim Ordnen geht es auf ganz praktischer Ebene darum, Platz im eigenen Kopf zu machen, so dass man wieder ganz bei der Sache sein kann. Wenn alles ordentlich und organisiert ist, fällt es leichter, sich in den eigenen vier Wänden wohl zu fühlen. Auf spiritueller Ebene bedeutet Ordnung aber auch, dass man nicht nur das äußere Chaos überwindet, sondern auch die Mechanismen erforscht, die für das selbst geschaffene Chaos verantwortlich sind. Dann realisiert man allmählich, wie viel Energie einen die Unordnung kostet. Das Prinzip ist ganz einfach: Beobachten wir die eigenen Gefühle, verändern das eigene Denken und eignen uns selbst neue Gewohnheiten an, beginnt sich auch die Welt um uns herum zu verändern.
Nun fragst du dich sicherlich: Ist das wirklich so? Vielleicht hast du dir schon einmal vorgenommen, dein Haus, dein Büro oder nur eine kleine Kommode aufzuräumen und haben einen langen Nachmittag damit verbracht, Dinge wegzuräumen. Nur um dann festzustellen, dass deine Ordnung gerade ein paar Tage hielt? Vielleicht hast du es sogar mit einem professionellen Organisationsberater versucht und musstest feststellen, wie das Ergebnis unter einem neuen Stapel verschwand?
“Ich habe alle diese Behälter gekauft, zum Teil sogar spezielle Schachteln für bestimmte Dinge, aber ich werde einfach nicht fertig”, sagt die Yogalehrerin Cynthia Mesh, die in ihrem Haus in Arlington, Massachusetts, ihr Studio und ihr Büro betreibt. “So oft habe ich mir vorgenommen, alle Dinge, die ich in die Hand nehme, wieder zurück an ihren Platz zu legen. Aber irgendwie gelingt mir das nie.” Sie und viele andere haben das gleiche Problem. Es bedarf nur weniger Stunden, gedankenlos aufzuräumen. Aber es kann es Wochen, ja sogar Monate dauern, bis man seine Gewohnheiten verändert und man in der Lage ist, das Chaos endgültig zu überwinden.
Intention finden
Sich geistig zu organisieren klingt nach viel Arbeit – und das ist es auch. Hierzu muss sich die Art und Weise, wie du Dinge erledigst, fundamental verändern. Der erste Schritt ist, dir über das Warum klar zu werden, wieso du Ordnung meistern willst. Im achtgliedrigen Pfad des Yoga legte Patanjali die Niyamas fest. Verhaltensregeln oder Einschränkungen, die Yogis auf ihrem Weg zum leidlosen Zustand pflegen sollten. Die erste dieser Verhaltensregeln nennt sich Saucha (Reinheit). Neben der Reinheit des Körpers und der Umgebung umfasst dieses Prinzip auch, zu reflektieren, warum wir unsere bisherigen Gewohnheiten in geordnetere Bahnen verändern wollen. “Ich begreife Saucha gerne als Klarheit der Intention”, so die Yogalehrerin und Autorin (“A Year Of Living Your Yoga”) Judith Hanson Lasater aus San Francisco. “Wenn wir uns über unsere Absichten im Klaren sind, wird jede Aufgabe leichter.”
Das ist ein wichtiger Schritt, bevor du mit der physischen beginnst. Denn nur eine starke, bedeutungsvolle Intention wird zu einer wirklichen Veränderung führen. Sobald du deine Absicht definiert hast, kannst du dich auf einen bestimmten Bereich konzentrieren, in dem du dir mehr Ordnung wünschst. Das kann in deinem täglichen Tagesablauf sein, in deinem Buchhaltungssystem oder in einem bestimmten Zimmer deiner Wohnung. Nehmen wir an, du hast dich entschlossen, dein Büro in Ordnung zu bringen.
Stell dir nun vor, wie dieser Raum aussehen soll und was du dort erreichen möchtest. “Im Moment ist mein Büro ein einziges Chaos”, bedauert Cynthia Mesh. “Ich wünschte jedoch, es sähe darin aus wie in einem Yoga-Studio, dass auch ein kleines Büro enthält. Schon sehe ich einen geräumigen freien Boden vor mir, schönen Stoff an den Wänden und einen aufgeräumten Schreibtisch, auf dem eine Pflanze steht. Ich möchte, dass dieser Raum der Angelpunkt meiner täglichen Morgenroutine ist. Dort übe ich 15 Minuten Yoga, um mich selbst zu zentrieren, bevor ich mich anderen Aufgaben widme.”
Ob du dir nun ein gemütliches Zuhause vorstellst oder gar Seelenfrieden. Dein Vorsatz, dich selbst zu organisieren, muss stark genug sein, um die vor dir liegenden Herausforderungen zu bewältigen. Vergiss nicht: Hier geht es nicht um schnelle Hilfe. Und sicherlich wirst du irgendwann alles wieder sein lassen wollen. Sobald du frustriert bist und Widerstand spürst, kehrst du gedanklich zu deiner Intention zurück, um dich deiner Absicht zu versichern und dem Prozess des Aufräumens wieder Bedeutung zu verleihen.
Erforschen
Sobald du dir deine Absicht kennst, beginnst du damit, dein eigenes Verhalten mit Hilfe einer zweiten Niyama zu beobachten, der Svadhyaya (Selbstbeobachtung). Womit verursachst du Unordnung? Und warum machst du das? Indem du deine Handlungen und Gedanken in dem Bereich, den du gewählt hast, beobachten, kannst du die wahren Ursachen für Ihr Chaos erkennen. Sobald dir das gelungen ist, kannst du mit der physischen Arbeit des Ordnung Schaffens beginnen und neue, effektivere Gewohnheiten entwickeln. Indem du dein eigenes Verhalten studieren, erkennst du deine automatischen und unbewussten Verhaltensweisen. Stapelst du gedankenlos ungeöffnete Rechnungen auf einer Ablage, verlegst du deine Autoschlüssel oder lässt du einen Haufen Yogautensilien mitten im Wohnzimmer liegen, wenn du mit dem üben fertig bist? Viele solcher bekannten, tagtäglichen Angewohnheiten entwickeln wir schon in unserer Kindheit.
Indem wir diese Gewohnheiten jedoch mit Selbst-Mitgefühl beobachten, können wir sie rückgängig zu machen. Nehmen wir an, du bist gerade mitten in einer Tätigkeit. Vielleicht in einem Projekt, bei der Zubereitung einer Mahlzeit oder beim Spielen mit den Kindern. In solchen Momenten wird ein Zimmer, in dem viele Gebrauchsgegenstände verteilt sind, immer chaotisch aussehen. Das ist aber noch kein Chaos, sondern das natürliche Resultat dessen, was du gerade machst. Die entscheidende Frage ist vielmehr. Räumst du die Dinge wieder an ihren Platz, wenn du fertig bist? Selbstverständlich ist es oft einfacher, alles stehen und liegen zu lassen und sich der nächsten Aufgabe zuzuwenden. Wenn du zurückkehrst, stört dich aber der Anblick des Chaos, das du hinterlassen hast.
Widme dich einem Ort in deinem Zuhause, an dem du gerne mehr Ordnung halten würdest, wie zum Beispiel dem Schrank unter der Küchenspüle. Frage dich selbst: Wie kamen bloß all die Sachen dort hin? Die haben sich dort nicht selbst gestapelt, auch wenn es vielleicht so scheint. Du hast sie dort hin geräumt. Frage dich also noch mal: Was ist das alles? Wann räume ich mein Gerümpel dort hin? Und warum tue ich das? Diese letzte Frage ist der Beginn der tiefgehenden Seelenarbeit, die eigenen Gewohnheiten absichtsvoll zu verändern. Hast du Angst, dich mit dem Inhalt des Schränkchens auseinanderzusetzen? Welche anderen Gefühle kommen hoch, wenn du den Inhalt des Schrankes betrachtest? Fällt es dir schwer, zu entscheiden, was du behalten und was du wegwerfen willst, weil nicht weißt, was dir wirklich wichtig ist?
“Als ich nach der Scheidung meine Papiere durchging, fühlte ich mich heimatlos”, sagt Catherine Crocket. “Meine Ehe war vorbei, aber ich besaß noch alle Beweise für ihre Existenz. Ich glaube, deshalb habe ich sie behalten. Diese Papiere standen für meine Geschichte. Es fiel mir schwer, sie loszulassen.” Aber sie tat es – mit Hilfe eines professionellen Organisationsberaters und der Verpflichtung, Ordnung als persönliches Wachstum zu begreifen.
Fortschritt als Prozess begreifen
Erkennen wir uns selbst als Ursache für die Unordnung um uns herum, kann dies durchaus deprimierend sein und Sorge bereiten. Kehre zu deiner zu Beginn gefassten Intention zurück, sobald das geschieht. Beobachte dich und deine Schwächen mit Mitgefühl und Liebe. Vielleicht hältst du dich selbst für eine “Chaotin” oder für “faul”. Diese negativen Begriffe halten dich jedoch davon ab, dir Strategien anzueignen, die dir das Leben leichter machen. Ordnung meistern ist vielmehr ein Prozess, bei dem man lernt, entspannter und im Hier und Jetzt zu existieren. Ohne Mitgefühl neigst du vielleicht dazu, dich selbst für das Wirrwarr zu verurteilen, dass du verursacht hast. Womöglich gelobst du, dass es nicht wieder vorkommt, nur um dann wieder in deine alten Verhaltensweisen zurück zufallen. Doch zu hoch angelegte Ziele sind kontraproduktiv. Vielleicht gelingt es dir, deine täglichen Gewohnheiten zu verändern. Aber du solltest dir im Klaren sein, dass es die Endhaltestelle “organisiert” nicht gibt.
Nun, da du jedoch eine Vorstellung davon hast, was du erreichen willst und verstehst, wie du an den Punkt gekommen bist, an dem du dich befindest, wird es Zeit, sich die Hände schmutzig zu machen. Listen schreiben, Putzen und das Erstellen der Steuererklärung machen dir vielleicht niemals Freude, aber müssen auch nicht unangenehm sein. Das geistige Wachstum beginnt, wenn du anerkennst, dass selbst die weltlichsten Dinge, wie das Aufräumen deiner Yogautensilien, Tätigkeiten sind, die es wert sind, mit Aufmerksamkeit und Sorgfalt erledigt zu werden. Solche Arbeiten sind beides: Der Prozess und der Schlüssel zu spirituellem Wachstum.
Vielleicht bittest du auch einen Freund um Hilfe, um einen Zeitplan erstellen, oder damit beginnen, einfach einige Dinge zu sortieren. Egal, was sich gut anfühlt. Mach es und du kommst dem Ordnung meistern näher!
Am Wichtigsten ist, dass du dabei ruhig und gleichmäßig atmest, um bei der Sache zu bleiben. Oftmals spüren wir Panik in uns aufsteigen, wenn wir eine neue Herausforderung angehen. Fang deshalb mit einer leicht zu bewältigenden Aufgabe an. Denke daran: Du wirst nicht an einem Wochenende Ordnung meistern. Aber du kannst zunächst einen bestimmten Raum aufräumen und lernen, diesen sauber zu halten. Bis du in der Lage bist, sich dem nächsten Ort zuzuwenden. In der Lehre des Zen-Buddhismus wird die Geschichte eines Schülers erzählt, der seinen Meister nach dem Weg zur Erleuchtung fragt. Der Meister antwortet: “Hast du deinen Reis gegessen?” “Ja”, sagt der Schüler. “Gut”, sagt der Meister. “Dann spüle deine Schüssel ab.”
Und tatsächlich ist es so, dass jede Aktivität, zum Beispiel Yoga, ein Meditation oder das Bezahlen der Rechnungen erst dann abgeschlossen ist, wenn man danach alle Utensilien wieder zurück an ihren Platz gelegt hat. Der Arbeitsplatz muss anschließend nicht perfekt aussehen, solange du deine Seelenruhe damit hast. Anstatt dir also vorzunehmen, alles auf einmal und in totaler Perfektion zu erledigen, erarbeite dir lieber langsam einfache organisierende Handgriffe, die du in deinen Alltag integrieren kannst. Dann musst du nur noch daran denken, deine Schüssel abzuspülen, nachdem du den Reis gegessen hast. Danach bist du bereit für alles, was kommt.
Marilyn Paul, Mitbegründerin der Organisationsberatungsfirma Bridgeway Partners, ist Autorin des Buches „It’s Hard to Make a Difference When You Can’t Find Your Keys: The Seven-Step Path to Becoming Truly Organized“ (Penguin Compass).