Seit jeher stehen beim Rolfing die Faszien im Mittelpunkt. Ziel ist es, Verklebungen und Verspannungen im Gewebe zu lösen, dem Körper zu mehr Beweglichkeit zu verhelfen und ihn von innen aufzurichten. Zudem wird die Körper-Innenwahrnehmung, die so genannte Propriozeption, verfeinert.
Entwickelt wurde diese Therapie von Dr. Ida P. Rolf in den 1940er-Jahren in den USA. Neben der Osteopathie hatte dabei auch Yoga großen Einfluss, die Philosophie des Yoga prägte gewissermaßen die Grundlagen der Methode. Schon in den 1920er-Jahren praktizierte Ida Rolf als junge Frau in New York Hatha Yoga. Für diese Zeit war das sehr außergewöhnlich. Sie nahm Unterricht bei Pierre Bernard, einer ziemlich schillernden Figur, später unterrichtete sie auch selbst. Yoga entsprach ihrem ganzheitlichen Denken und ihrer Überzeugung, dass über den Körper auch die geistige Entwicklung des Menschen gefördert werden kann. Ida Rolf hatte als eine der ersten Frauen ihren Doktortitel in Biochemie und Physiologie erworben und erforschte die Faszien auch als Wissenschaftlerin. Ihre Kenntnisse über Faszien kombinierte sie mit ihren Kenntnissen der Osteopathie und des Yoga, um daraus ihre Methode der Strukturellen Integration zu entwickeln – die schon bald „Rolfing“ genannt wurde.
Was Rolfing und Yoga gemeinsam haben
Rolfing und Yoga passen gut zusammen und ergänzen sich. Diese Erfahrung habe ich vor Jahren selbst gemacht. Ich wurde nicht nur flexibler, ich fühlte mich aufrechter, größer und leichter zugleich. Mein Körper wurde immer durchlässiger. In den verschiedenen Yoga-Asanas werden lange Faszienketten gedehnt. Bei Adho Mukha Shvanasana zum Beispiel die Kette von der Fußsohle über die rückwärtige Beinmuskulatur zum Gesäß über den Rücken bis hinauf über den Schädel. Im Vergleich zu Yoga ist es mit Rolfing allerdings viel präziser möglich, entlang dieser langen Faszienketten Verklebungen im Gewebe gezielt zu lösen, Länge zu schaffen sowie mehr Beweglichkeit. Dazu ein Bild: Stellt man sich vor, einen Kaugummi lang zu ziehen, so dehnt man mit Yoga vielleicht nur die dünnen Stellen immer weiter, während man an die dicken, verfilzten Stellen gar nicht herankommt. Im Yoga geht es stark um Auf- und Ausrichtung. Auch das ist eine Schnittmenge mit dem Rolfing, wobei das Augenmerk beim Rolfing darauf gerichtet ist, Raum zu schaffen und mehr Beweglichkeit zu ermöglichen, damit sich der Körper in Ruhe und Bewegung optimaler in Bezug zur Schwerkraft organisieren kann. Nur so können wir Spannungen auf Dauer loslassen.
Rolfing geht tief unter die Haut
Mit Massage ist Rolfing nicht vergleichbar. Rolfing geht viel tiefer „unter die Haut“ als eine Massage. Rolfer arbeiten mit tieferen Schichten: Mit dem dreidimensionalen Netzwerk an Fasern, Hüllen und Strängen, das den ganzen Körper durchzieht. Als Rolferin habe ich bei der Arbeit immer ein 3D-Bild vor Augen, ich spüre Spannungen auf und folge diesen quasi durch den Körper. Tiefe, strukturelle Behandlung des Bindegewebes, Gelenkmobilisation und achtsame Berührung werden kombiniert, um „alte“ Muster aufzulösen. Über die Rezeptoren in den Faszien wird dabei auch die Wahrnehmung für den betreffenden Körperteil geweckt und das Rückenmark erhält einen neuen, mit Körperachtsamkeit verbundenen Sinneseindruck. Dies ist eine Voraussetzung dafür, weniger vorteilhafte Muster zu erkennen und sich dauerhaft für eine gelöstere Haltung und Bewegung zu öffnen. Die neuere Faszienforschung liefert überzeugende Erklärungen, warum Rolfing und auch die Osteopathie so wirksam sind.
Verklebungen in den Faszien – das Leben prägt unseren Körper und unsere Haltung
Unser Körper ist Spiegel unseres Lebens – unserer Gewohnheiten, Erlebnisse und Stimmungen. Im Lauf der Jahre verliert das Bindegewebe bei den meisten Menschen an Elastizität. Es verfilzt, Verklebungen bilden sich. Wir fühlen uns steifer und weniger beweglich, und irgendwann kommen Schmerzen dazu. Die Gründe dafür sind vielfältig. Verfilzungen können sich innerhalb weniger Wochen entwickeln, wenn etwa nach einem Knochenbruch der Arm einen Monat lang ruhig gestellt wird. Oder wenn wir jeden Tag in der gleichen Haltung am Computer sitzen, stundenlang. Auch unsere Stimmungslage wirkt sich auf den Körper aus: Haben wir über einen längeren Zeitraum Kummer, wird sich unser Blick vermutlich häufig zu Boden richten, wir können nicht mehr so frei atmen, der Brustkorb wird enger, die Schultern kommen nach vorne. Mit der Zeit werden die Faszien immer starrer und unelastischer – ein Teufelskreis.
Faszientherapie hat faszinierende Nebenwirkungen
Vordergründig arbeiten Rolfer ganz bodenständig mit dem greifbaren und berührbaren Körper. Und doch verändert sich während der Rolfing-Sitzungen mehr als der Körper und seine Struktur: Eine freiere Atmung in alle Richtungen gibt eine neue Option, sich der Welt zu öffnen. Das Empfinden von innerer Aufrichtung, mehr Stabilität und Bodenkontakt machen selbstbewusster und gelassener. Oft spüren die Klienten, dass sie ganz allgemein mehr Energie haben und sich nicht mehr so schnell aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Der persönliche Horizont kann sich ändern sowie die Sicht auf andere Menschen und die Dinge. Vielleicht ist es Zeit für eine Veränderung im Leben. „Option“ ist ein Schlüsselwort im Rolfing-Prozess. Jede Körperhaltung hat ihre Geschichte, und deshalb hat sie auch einen Sinn und Zweck. Manchmal brauchen wir den Rückzug, dann werden wir das alte Muster vielleicht wieder „besuchen“. Doch alles hat seine Zeit und die Frage ist: Bin ich bereit, Veränderungen zuzulassen und mich für neue Möglichkeiten zu öffnen? Rolfing gibt diese Optionen, und meist nehmen die Klienten sie gerne an. Dann ist es ein nachhaltiger Prozess, der sowohl für den Klienten als auch für den Rolfer immer wieder faszinierend zu beobachten ist.
Die Autorin Susanne Noll ist Journalistin und zertifizierte Rolferin mit eigener Praxis in München. Infos auf: www.rolfing-susannenoll.de