Der Mond zieht tagein, tagaus seine Kreise – und wir sind eingeladen, uns bewusst mit seinen beständigen Rhythmen zu verbinden. Rina Deshpande gewährt uns Einblick in die spirituellen Traditionen Indiens.
Text: Rina Deshpande / Titelbild: Volodymyr via Canva
Tagsüber schaut er uns unsichtbar über die Schulter, nachts bescheint er friedlich unsere schlafenden Körper – ein sanfter, riesiger Trabant und eine gänzlich unperfekte natürliche Sphäre aus Bergen, Tälern und Kratern: Chandra, der Mond. Seine geheimnisvolle Kraft und Schönheit fasziniert und leitet seit Jahrtausenden Menschen überall auf der Welt. Zwar feiern wir Weihnachten und Neujahr heute in unserer globalisierten Welt gemäß dem westlichen, an der Sonne orientierten gregorianischen Kalender und damit im Winter, doch im Hinduismus und vielen anderen östlichen Kulturen haben auch die Zyklen von lunaren Kalendern weiterhin Bestand – und hier liegen die großen, glückverheißenden Jahresfeste im Herbst, allen voran das hinduistische Lichterfest Divali (dieses Jahr in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November).
Aber nicht nur zu solchen großen Festen, auch im Alltag lassen sich Hindus – und auch viele Yoga-Übende – von den Mondzyklen leiten. Sie richten ihre individuelle spirituelle Praxis ebenso an ihnen aus wie das Gemeinschaftsleben. Doch was genau ist ein Mondzyklus und was hat das mit einer spirituellen Praxis zu tun?
Der hinduistische Mondzyklus

Ein vollständiger Zyklus aus Neumond, zunehmendem Mond, Vollmond und abnehmendem Mond umfasst 28 Tage. In Sanskrit nennen wir ihn Maasa. Genau wie das deutsche Wort “Monat” und das englische “month” stammt es vom indogermanischen Wort menōt (Mond, Mondwechsel, Monat) ab. Die meisten lunaren Kalender beginnen den Monat jeweils zum Neumond, Amavasya in Sanskrit. Er ist kaum sichtbar und steht am Beginn einer zweiwöchigen Phase, in der das Mondlicht beständig zunimmt. Wir nennen sie Shukla Paksha, die helle Seite. Am fünfzehnten Tag des Zyklus ist der Mond voll: Poornima. Indische Mädchen, die zum Vollmond geboren wurden, tragen häufig diesen Vornamen.
Schon vor über 1000 Jahren haben die Menschen die Wirkung des Mondes beobachtet – und erstaunlich präzise beschrieben.
Die zweite vierzehntägige Hälfte des Zyklus, während derer der Mond wieder abnimmt, heißt Krishna Paksha. Diese Bezeichnung bezieht sich nicht, wie man meinen könnte, auf den Gott Krishna: Meine im Sanskrit sehr bewanderte Mutter sagte mir, dass es hier nicht um den Namen, sondern um das Wort krishna geht, das “dunkel” bedeutet. Es ist also analog zur hellen Seite Shukla Paksha die dunkle Seite. Die Kraft des Mondes wird seit jeher in indigenen Traditionen anerkannt und gewürdigt. Die an wissenschaftlicher Beschreibung interessierte hinduistische Religion dokumentierte schon vor langer Zeit die Regelmäßigkeit der Mondphasen und ihren Einfluss auf die Umwelt. Eine Textstelle aus dem Vishnu Purana, einer heiligen Schrift des Hinduismus aus dem 1. Jahrtausend unserer Zeit, macht das deutlich:
Wie Wasser in einem Kessel bei steigender Hitze, so steigt das Meer unter dem Einfluss des Mondes. Zwar ändert sich die Menge des Wassers nicht, doch es dehnt sich aus und zieht sich zusammen, wenn der Mond alle zwei Wochen in der hellen Zeit zu- und in der dunklen abnimmt. Dabei heben und senken sich die verschiedenen Ozeane um 510 Zoll.
Vishnu Purana, 2. Buch, 4. 90-92.
Diese erstaunlich präzise Beschreibung der Anziehungskraft des Mondes auf die Wasserstände zeigt, wie genau die Menschen schon vor über 1000 Jahren seine Wirkung beobachteten – und es unterstreicht, warum wir auch heute Achtung vor seinem Einfluss haben sollten. Moderne Wissenschaftler*innen beschäftigen sich nicht nur mit den physikalischen Hintergründen der Gezeiten, sie diskutieren auch die uralte These vom Zusammenhang zwischen Mondphasen und weiblichen Zyklen, untersuchen seine Auswirkung auf die Produktion des Schlafhormons Melatonin und sogar auf das Verhalten von Tieren, etwa bei der Fortpflanzung von Fischen. Aber viele Menschen brauchen eigentlich etwas anderes als wissenschaftliche Evidenz: Es geht auch um Verbindung.
Spirituelle Mondpraktiken

Sich mit dem Mond und seinen natürlichen Rhythmen zu verbinden, hat in Hinduismus und Yoga eine lange Tradition und kann sehr verschiedene Formen annehmen. In vielen spirituellen Praktiken wird Chandra, der Mond, als göttlich angesehen und manchmal sogar als eine Gottheit verehrt, von der wir nicht getrennt sind. Er gilt als Navagraha, einer der neun Planeten. Sein rhythmisches An- und Abschwellen schenkt uns Orientierung und kann uns helfen, eine gute Balance aus Zufuhr und Abfluss, Input und Output zu finden – nicht nur im Ayurveda wird das als Schlüssel zu einem langen, gesunden Leben gesehen. Dabei ist die dem Mond entgegengebrachte Verehrung weder in ganz Indien, noch von Mensch zu Mensch dieselbe oder auch nur eine ähnliche, ganz im Gegenteil: Es gibt unzählige Rituale, Traditionen und persönliche Praktiken. Im Folgenden findest du einige Beispiele, die dich vielleicht für deine persönliche Praxis inspirieren.
Als ich kürzlich spätabends auf dem Pacific Coast Highway in Kalifornien entlang fuhr, machte mein Herz beim Blick aus dem Autofenster auf einmal einen Satz: Ein voller Mond erhob sich in all seiner Pracht hinter einer Bergkuppe. Ist es nicht atemberaubend, sich vorzustellen, dass Chandra schon seit 4 Milliarden Jahren um unsere Erde und all ihre Wesen kreist, so beständig und liebevoll? Ganz egal, ob du ihm mit einem Mantra die Ehre erweist, in deiner Asana-Praxis würdigst oder eine Fastenzeit an seinen Rhythmen ausrichtest: Unter der wunderschönen Präsenz des Mondes darfst du dich geschützt und geleitet fühlen.

Rina Deshpande lehrt, erforscht und schreibt seit über 15 Jahren über Yoga und Achtsamkeit. Ihre Artikel erschienen bei uns, Huffington Post, Self Magazine und vielen anderen. Außerdem hat sie 2022 ein Kinderbuch verfasst und selbst illustriert: “Yoga Nidra Lullaby“. Erfahre mehr über Rina und besuche sie auf ihrer Website oder ihrem Instagram-Account @rinathepoet.